Diagnosen eines Doktors – Zur Geschichte einer kommunistischen Tradition in der Türkei
Der folgende Beitrag ist eine Zusammenstellung von Passagen zu Leben und Wirken des marxistischen Theoretikers Hikmet Kıvılcımlı. Sie entstammen dem Buch „Partisanen einer neuen Welt – Eine Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung in der Türkei“ (Verlag Die Buchmacherei, Berlin 2018) und werden mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber Nikolaus Brauns und Murat Çakır veröffentlicht.
Vor einem ähnlichen Hintergrund wie Nâzım Hikmet, wurde
Hikmet Kıvılcımlı 1938 im sogenannten Marine-Prozess unter dem Vorwurf, „die
Armee zur Rebellion gegen die Regierung anzustiften“, zu einer 15-jährigen
Haftstrafe verurteilt. Bei jungen Marineoffizieren waren zuvor Bücher des
marxistischen Theoretikers gefunden worden. Der 1902 in Pristina im Kosovo
geborene Kıvılcımlı hatte sich eine Zeitlang am nationalen Befreiungskampf
beteiligt und dabei unter anderem Überfälle auf Waffenlager der osmanischen
Armee organisiert. Während seines Medizinstudiums im besetzten Istanbul lernte
er über Kontakte mit dem Aydınlık-Kreis sozialistisches Gedankengut kennen.
Nach seinem Eintritt in die TKP wurde er auf deren zweitem Parteikongress 1925
in die Parteiführung gewählt und dort mit der Jugendarbeit betraut. Kurz darauf
wurde Kıvılcımlı aufgrund des Ausnahmezustandes, den die Regierung zur
Niederschlagung des Scheich-Said-Aufstandes verhängt hatte, verhaftet und zu
zehn Jahren Arbeitslager verurteilt, doch bereits 1927 amnestiert. 1929 wurde
Kıvılcımlı erneut verhaftet und zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Auf
die Frage des Richters, ob er noch etwas zu sagen hätte, konterte er: „Die
viereinhalb Jahre Gefängnis sind eine gute Zeit, um ein roter Professor zu
werden.“ Entsprechend nannte er das Gefängnis von Elazig, in dem er inhaftiert
wurde, die „Universität von Elazig“. Dort entstand Kıvılcımlıs erstes Buch
„Yol“ (Der Weg) als einer kritischen Auseinandersetzung mit der bisherigen
Geschichte der TKP. Zudem übersetzte er während dieser Haftzeit marxistische Klassiker
ins Türkische, die er nach seiner Entlassung in einem eigens gegründeten Verlag
veröffentlichte. Kıvılcımlı vertrat die Überzeugung, dass eine kommunistische
Partei, soweit es nur geht, die Möglichkeiten der Legalität nutzten sollte, um
marxistisches Gedankengut zu verbreiten. Zu diesem Zweck gründete er neben dem
Verlag eine Arbeiterbibliothek. 1932 wurde Kıvılcımlı im Zuge einer
Parteisäuberung aus der TKP ausgeschlossen. Während seiner neuerlichen
zwölfjährigen Inhaftierung ab 1938 im zentralanatolischen Kırşehir befasste er
sich mit den unterschiedlichsten Aspekten des Marxismus, wie der dialektischen
Philosophie, Wirtschaft, Ideologie, gesellschaftlichen Klassen,
Geschlechterfragen und revolutionärer Strategie. Anders als viele andere linke
Intellektuelle in der Türkei verfügte Kıvılcımlı über ein profundes Wissen auch
über Geschichte und Tradition des Islam sowie die anatolischen Kulturen. Er
verfasste während seiner Haftzeit zehn Bücher, in denen er versuchte, die
marxistische Lehre auf die konkreten Realitäten der Türkei anzuwenden, anstatt
lediglich die Revolutionserfahrungen und -theorien von anderen Ländern zu
kopieren. Im Mittelpunkt auch seiner zukünftigen Forschungen standen die
spezifischen Bewegungsgesetze der vorkapitalistischen Gesellschaften. „Den
Niedergang von Zivilisationen als historische Revolutionen erkannt zu haben,
und als Subjekt dieser Revolutionen die Bedeutung ursozialistischer Traditionen
aufgezeigt zu haben, bilden den Gipfel dieser Entdeckungen“ [1], schrieb sein
Anhänger Demir Küçükaydın. Damit erwies sich Kıvılcımlı als einer der wenigen
originär türkischen Theoretiker des Marxismus. Doch die Überlegungen des
„Doktors“ fanden trotz des persönlichen Prestiges, das er als Kommunist fast
der ersten Stunde und langjähriger politischer Gefangener in weiteren Kreisen
der Linken genoss, auch in den folgenden Jahrzehnten nur beim kleinen Kreis
seiner als „Doktorcular“ (Doktor-Unterstützer) bekannten treuen Anhänger
Anklang. Seine doppelte Abgrenzung von der Politik der TKP wie vom Kemalismus
trug zu dieser relativen Isolation ebenso bei wie seine langjährigen
Haftstrafen, durch die er von praktischer politischer Tätigkeit abgeschnitten
war. Auch oft schwer verständliche „Krypto-Sprache“ seiner Werke voller
ungewöhnlicher Metaphern, Spezialausdrücke und osmanischen Wendungen
verhinderte, dass Kıvılcımlıs Überlegungen weitere Verbreitung fanden.
Kıvılcımlı kam 1950 nach zwölf Jahren Haft im Zuge einer Generalamnestie frei,
doch es sollte nicht sein letzter Gefängnisaufenthalt gewesen sein. [2]
[…]
Der 1950 durch eine Amnestie nach 12-jähriger Haft freigekommene marxistische Theoretiker Hikmet Kıvılcımlı war von der Verhaftungswelle verschont geblieben. Der Grund dafür war wohl, dass Kıvılcımlı auf Distanz zur Kommunistischen Partei gegangen war, der es seiner Ansicht nach an Selbstkritik mangelte. Da Personen, die nach Kıvılcımlıs Ansicht mit dem Geheimdienst kollaboriert hatten, in der TKP blieben, hielt sich Kıvılcımlı auf Distanz zu dieser Partei. Stattdessen gründete er 1954 die Heimatpartei (Vatan Partisi) als legale, parlamentarisch orientierte sozialistische Partei. Das unter Bezugnahme auf den nationalen Befreiungskampf als „zweite Kuvayi Milliye“ (Nationale Kräfte) bezeichnete Programm konzentrierte sich auf sozioökonomische Fragen wie die Überwindung von Arbeitslosigkeit und Armut. 1957 beteiligte sich die Heimatpartei an den Parlamentswahlen. Allein damit erregte sie trotz ihres unbedeutenden Abschneidens den Anstoß der Menderes-Regierung, die die Partei nun ohne Gerichtsbeschluss schließen ließ. 38 Parteimitglieder, darunter die ganze Parteiführung einschließlich Kıvılcımlı, wurden inhaftiert, in Einzelhaft gehalten und teilweise gefoltert.
[…]
Die Anhänger des 1971 im jugoslawischen Exil verstorbenen Hikmet Kıvılcımlı gründeten im Januar 1974 die TKP-Kıvılcım (TKP/K). Die illegale Partei wurde allerdings kurz nach ihrer Gründung durch Verhaftungen von Führungskadern und deren Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen geschwächt. Die Kıvılcımlı-Anhänger arbeiteten zugleich innerhalb der TSIP sowie dem „Verein zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Inflation“, ehe sie sich 1977 mit der Heimatpartei (Vatan Partisi) eine eigene legale Front schufen. Die Heimatpartei attackierte Moskau und Peking gleichermaßen scharf und wurde im Radiosender der illegalen TKP daher als einzige der legalen Linksparteien offen als „pseudokommunistische Organisation“ diffamiert. Als sich die Mehrheit der Heimatpartei 1979 dem Trotzkismus zuwandte, spalteten sich die orthodoxen Kıvılcımlı-Anhänger ab und gründeten die Sozialistische Heimatpartei. [3]
[…]
Es wäre nicht falsch zu behaupten, dass – im Westen der Türkei – die ersten nachhaltigen Widerstandsherde nach dem Militärputsch in der Mitte der 1980er-Jahre von der Frauenbewegung geschaffen wurden. Natürlich gab es davor unterschiedliche Bemühungen der radikalen Linken, Sozialist/innen und Kommunist/innen, den Widerstand zu organisieren. So wurde beispielsweise 1982 die „Vereinigte Widerstandsfront gegen den Faschismus“ gegründet, der neben der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) auch Organisationen wie „Revolutionärer Weg“ (DevYol), „Kommunistische Arbeitspartei der Türkei“ (TKEP) oder Anhänger/innen von Dr. Hikmet Kıvılcımlı angehörten. Es sollte eine gemeinsame antifaschistische Front aufgebaut und daraus der „Volkskampf “ entwickelt werden. Diese Pläne verliefen jedoch im Sande, da die türkischen Organisationen quasi zerschlagen waren und ihre noch in Freiheit befindlichen Kader ins Ausland gebracht hatten.
[…]
So begann im August 1989 eine siebenmonatige gemeinsame Debatte, die heute – in Anlehnung an den Tagungsort in einem Istanbuler Stadtviertel – in der linken Literatur als „Kuruçeşme-Sitzungen“ bezeichnet wird. An diesen Treffen nahmen unter anderem Vertreter/innen von TBKP, Kurtuluş, Devrimci-Yol, Sosyalist Politika, der Zeitschrift Gelenek sowie unabhängige Linke teil; auch unterschiedliche Strömungen der liquidierten TKP, der TKEP, Kıvılcımlı-Anhänger/innen und andere trotzkistische Strömungen waren einige Zeit anwesend.
Anmerkungen:
Folgenden Seiten sind die Passagen entnommen: S.129 f., S. 134, S.201 f., S.282, S.294.
[1] Demir Küçükaydın,: Ins Deutsche Übersetzte Texte, auf: Issuu, 25. März 2013, zuletzt aufgerufen 20. Februar 2017, S.39
[2] Widerstand: Über das Leben, Widerstand und Werke von Dr. Hikmet Kıvılcımlı, auf: Auf Widerstand Information – Analysen antiimperialistisch – internationalistisch, zuletzt aufgerufen 20. Februar 2017; Özgür Mutlu Ulus: The Army and the radical left in Turkey – Military coups, socialist revolution and Kemalism, London und New York 2011, S. 158f; Küçükaydın: Texte, S. 37-44.
[3] Harris, George S.: The Left in Turkey, in: Problems of Communism, July 1980, S. 35.