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Den Gordischen Knoten zerschlagen – aber wie?

clouded perspectives Johanna Bröse

Um es von Anfang an unmissverständlich zu sagen: Die Ergebnisse der Doppelwahl in der Türkei vom 14. Mai 2023 – für Parlament und Präsidentschaft – waren ein relativer Sieg für den amtierenden türkischen Präsidenten Reccep Tayyip Erdoğan und ein relativer Misserfolg der Opposition, sowohl der linken als auch der rechten. Selbst wenn das Präsidentschaftsrennen noch nicht entschieden ist – keiner der Kandidaten konnte die für den Sieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen erforderlichen 50 %+1 der Stimmen für sich verbuchen, so dass am 28. Mai eine zweite Runde anberaumt ist – können wir schon jetzt einige wichtige analytische Schlussfolgerungen ziehen und Perspektiven diskutieren. Nicht zuletzt gibt es auch genügend Gründe, den Kampf um den Sieg über Erdoğan am 28. Mai nicht aufzugeben. Nähern wir uns dem vertrackten gordischen Knoten Schritt für Schritt.

Die Beständigkeit des institutionalisierten autoritären Populismus an der Macht

Die Wahlergebnisse der ersten Runde zeigen einen relativen Sieg von Erdoğan. Klar, autoritäre Repression, stark ungleiche Ausgangsbedingungen im Vorfeld und am Wahltag sowie Wahlbetrug in einer erneut von mysteriösen Unregelmäßigkeiten überschatteten Wahlnacht sind wie gehabt sehr wichtige Elemente, die diesen relativen Sieg ermöglicht haben. Es gibt bereits deutliche Anzeichen dafür, dass sich der Wahlbetrug vor allem darauf konzentriert hat, Stimmen für die linke, pro-kurdische Grüne Linkspartei (Yeşil ve Sol Partisi, YSP) in Stimmen für die rechtsextreme nationalistische Partei, die Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP), den wichtigsten Verbündeten von Erdoğan, umzuwandeln (siehe z. B. den Hashtag #YeşilSolPartininOylarıNerede – „Wo sind die Stimmen für die YSP?“ – auf Twitter). Zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Artikel schreibe, ist das Ausmaß des Betrugs noch nicht klar und auch nicht, ob dieser entscheidende Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben wird. Die Entwicklungen sind, wie so oft in der Türkei, hochdynamisch. Dennoch: Der Betrug kann an sich nicht die enorme Unterstützung der Bevölkerung für Erdoğan als Präsidentschaftskandidaten und sein regierendes Bündnis, die Volksallianz (Cumhur Ittifakı, CI) erklären.

Erdoğan kam nach den offiziellen (staatlichen) Zahlen mit bisher 49,50 % der Wähler:innenstimmen (gegenüber 52,60 % und einem Sieg in der ersten Runde im Jahr 2018) knapp an den Sieg in der ersten Runde des Präsidentschaftsrennens heran, während sein Konkurrent, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyetçi Halk Partisi, CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, der auch das wichtigste bürgerliche Oppositionsbündnis, die Allianz der Nation (Millet Ittifakı, MI), anführt, etwas weniger als 45 % der Wähler:innenstimmen auf sich vereinte. Obwohl Erdoğans CI mit einer Wähler:innenunterstützung, die nahe an der von Erdoğan liegt (49,46 % gegenüber 53,60 % im Jahr 2018 nach den bisherigen Zahlen), etwas weniger als die absolute Mehrheit gewonnen hat, verfügt die CI aufgrund der Wahlarithmetik mit 322 von 600 Abgeordneten immer noch über die absolute Mehrheit im türkischen Parlament. Obwohl die CI und Erdoğan Stimmenanteile verloren haben und Erdoğan es nicht geschafft hat, in der ersten Runde zu gewinnen, sollte die Tatsache, dass die MI und der zweite, linke Oppositionsblock, das Bündnis für Arbeit und Freiheit (Emek ve Özgürlük Ittifakı, EÖI) unter Führung der YSP, es nicht geschafft haben, die Macht der CI im Parlament zu brechen, sowie die Tatsache, dass Kılıçdaroğlu die erste Runde des Präsidentschaftswahlkampfs weder gewonnen noch angeführt hat, eindeutig als relativer Sieg für Erdoğan verstanden werden. Warum?

Im Gegensatz zu liberal-demokratischen Behauptungen über das starke Abschneiden der Opposition in der Türkei, wenn man sie mit der Opposition in Russland und Ungarn vergleiche (ein ausgezeichneter Artikel entlang dieser Argumentationslinie findet sich hier), sollte man den entscheidenden Unterschied des autoritären Regimes in der Türkei im Vergleich zu den genannten betonen, der das Wahlergebnis zu einem relativen Sieg für das Regime macht: Es ist nämlich im Verhältnis zu den tiefen und vielfältigen Krisen zu sehen, in die das Regime das Land gestürzt hat. Die Türkei befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise seit über 20 Jahren (zumindest für die breite Masse der Bevölkerung), wobei das Schlimmste wahrscheinlich erst noch bevorsteht. Das Land hat bei der Pandemie im Bereich der öffentlichen Gesundheit sehr schlecht abgeschnitten und Anfang diesen Jahres die schlimmsten Erdbeben in der modernen Geschichte der Türkei durchlebt, für deren fatale Auswirkungen die Regierung eine große Verantwortung trägt. Trotz alledem behält das Erdoğan-Regime die Oberhand. Und dies, im Übrigen, auch im Erdbebengebiet, wo der Rückgang der Unterstützung für die CI und insbesondere für die AKP zwar nicht zu vernachlässigen ist, sie aber trotzdem weitab vorne liegen, während Erdoğan als Präsidentschaftskandidat kaum Verluste hinzunehmen hat im Vergleich zu 2018. Keines der etablierten rechtsautoritären Regime weltweit durchlebte bisher auch nur im Entferntesten derartig tiefe Krisen wie dasjenige unter Führung von Erdoğan.


Dies führt zu einer ersten wichtigen theoretischen Schlussfolgerung, die auch im globalen Maßstab relevant ist: Ein institutionalisierter autoritärer Populismus an der Macht und seine Mechanismen der polarisierten Identitätsbildung können selbst angesichts tiefer und massiver Krisen hartnäckig Bestand haben.


Einem Großteil der schockierten Reaktionen auf die Wahlergebnisse scheint ein liberaler, aufklärungsphilosophischer Ansatz zugrunde zu liegen, der davon ausgeht, dass niemand aus rationalen Gründen ein Regime wählen würde oder sollte, das die Bevölkerung – erneut aus vermeintlich rationalen Gesichtspunkten betrachtet – immer wieder im Stich lässt. Diese Argumentation war und ist erkenntnistheoretisch und ontologisch offensichtlich unangemessen, um zu verstehen, was in der jetzigen Wahl geschehen ist und was seit Jahren geschieht.

Erdoğan und die AKP konnten zunächst auf der Welle eines „eingebetteten Neoliberalismus“ reiten, das heißt, den Neoliberalismus in Mechanismen der minimalen Gesundheitsversorgung und oft recht paternalistische und klientelistische Formen der Umverteilung integrieren. Dies ging einher mit Diskursen und Praktiken, die das Gefühl einer umfassenden sozialen Teilhabe vermittelten. Diese waren wiederum vermittelt durch Subjektivierungsmechanismen nach konservativem Muster und einer nur restriktiven, das heißt nicht-strukturellen Ermächtigung der subalternen Teile ihrer Unterstützer:innenbasis. Diese gesellschaftliche Verankerung von Erdoğan und der AKP ist der Schlüssel zum Verständnis, wie es Erdoğan gelungen ist, seinen verschwörungstheoretisch-autoritären Diskurs und seine Politiken der Polarisierung so zu verankern, dass er ein veritables Maß an gesellschaftlicher Zustimmung auf sich vereinen und ein Bündnis mit extrem nationalistischen Kräften wie der MHP schmieden konnte. Ohne diesen tiefenanalytischen Hintergrund bleibt man schlicht an der Oberfläche der Ereignisse kleben, wie so viele politikwissenschaftliche Analysen, die beispielsweise die Polarisierungstaktiken oder den ökonomischen Populismus von Erdoğan hervorheben, aber nicht erklären können, warum das bei Erdoğan seit Jahren trotz tiefen Krisen klappt, bei Trump, Bolsonaro und Johnson aber nicht.

Der Erfolg, sich als Führer und die AKP als führende Partei zu präsentieren, die die Anliegen des Volkes vorantreibt entlang der oben genannten Linien und des oben genannten historischen Hintergrunds, verlieh der Anziehungskraft von Erdoğan/CI auch in Krisenzeiten eine gewisse Beständigkeit und verhinderte eine massive Abnahme der Zustimmung unter der Erdoğan/CI-Wähler:innenschaft. Hinzu kommt die reale und symbolische Selbst-Erhebung, die die Unterstützer:innen durch die Annahme des autoritären Angebots, Teil des von Erdoğan/CI vertretenen „nationalen Willens“ (millî irade) zu sein, erlangen. Auch die Auswirkungen der populistischen Wirtschaftspolitik im Vorfeld der Wahlen dürfen nicht unterschätzt werden: Deckelung der Mieten, Erhöhung des Mindestlohns, Ausweitung der Rentenansprüche und Erhöhung der Renten, Energieverbrauchssubventionen, Versprechen, das Erdbebengebiet innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen, Versprechen, die Hälfte der Kosten für neue Wohnungen im Erdbebengebiet zu finanzieren und so weiter. Nichts von alledem dürfte nachhaltig sein. Aber die Versprechungen förderten das bereits bestehende erfolgreiche Führerimage. Eine typische Erdoğan/CI-Wähler:inmentalität, die in den letzten Wochen häufig zu sehen und zu hören war, besteht in der Klage über viele Dinge, etwa die Wirtschaft; gekoppelt aber mit dem Glauben, dass immer noch Erdoğan/CI die beste/einzige Option zur Lösung der Probleme sei.

Es ist also auch die Unzufriedenheit innerhalb der Erdoğan/CI-Wähler:innenschaft groß, was sich in den Stimmenverlusten für Erdoğan und die CI im Vergleich zu 2018 und in bestimmten qualitativen Feldstudien und öffentlichen Umfragen widerspiegelt. Warum ist es der Opposition dann nicht gelungen, diese Unzufriedenheit stärker als bisher von Erdoğan/CI weg zu kanalisieren?

Die Grenzen eines halbherzigen progressiven Neoliberalismus

Wie bereits mehrfach von kritischen Stimmen hervorgehoben wurde, ist der wichtigste bürgerliche Oppositionsblock eher schwach darin, eine überzeugende alternative Vision für Staat und Gesellschaft zu präsentieren – und noch weniger gut darin, eine solche Perspektive in sozialen Praktiken zu verankern, die mit den Menschen in Verbindung stehen. Ihre politökonomische Perspektive beinhaltet die Restauration eines klassischen neoliberalen Akkumulationsregimes, möglicherweise mit einem developmentalistischen Einschlag. Sie stehen damit für ein Akkumulationsregime, das hauptsächlich verantwortlich ist für ein Wachstum ohne Beschäftigungszuwachs (jobless growth), die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die Zerstörung der Organisation der Arbeiter:innenklasse – und damit für ein Akkumulations, das die Grundlage bot und bietet für die Bündelung der Unzufriedenheit auf reaktionäre Weise, wie es Erdoğan tat und weiterhin tut.


Auch in dieser Hinsicht ähnelt der Fall der Türkei dem globalen Trend einer vorherrschenden innersystemischen Dialektik zwischen progressivem Neoliberalismus und reaktionärem Populismus vor dem Hintergrund einer tiefen und vielschichtigen Krise der globalisierten neoliberalen Weltordnung. In der Türkei jedoch mit einer noch weniger ausgeprägten „Progressivität“ auf der neoliberalen Seite der Dialektik als etwa bei Macron in Frankreich, Biden in den USA oder der „Fortschrittskoalition“ in Deutschland. Wie und warum ist das so?


Die Forderung der MI nach Demokratie bleibt recht unbestimmt, da vor allem die innerstaatliche Dimension der Demokratisierung von der Hauptopposition dargelegt wird im Rahmen einer Perspektive hin zu einem gestärkten parlamentarischen System. In den einschlägigen Dokumenten der MI finden sich viele gute Vorschläge, zum Beispiel in Bezug auf das Justizwesen. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass das derzeitige Präsidialregime in der Türkei nicht mit dem Fallschirm vom Himmel auf die Erde gesprungen ist, sondern sich aus eben einem parlamentarischen System heraus entwickelt hat – genauer gesagt dadurch, dass Erdoğan/CI gesellschaftliche Konflikte instrumentalisiert haben, um vor dem Hintergrund einer Hegemoniekrise den Übergang zu einem autoritären Präsidialregime zu forcieren. In dieser Hinsicht bleibt die Forderung der Hauptopposition nach Pluralismus in den gesellschaftlichen Beziehungen weit weniger detailliert, da hoch umstrittene Themen wie die kurdische und alevitische „Frage“ und das Thema der LGBTQI+-Rechte umgangen werden. Positive Verweise auf historische Institutionen ausgrenzender religionsbasierter Politik wie das Direktorat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) finden sich bei der CHP, aber auch bei anderen Parteien der MI. Ebenso finden sich positive Verweise auf neuere symbolische und institutionelle Elemente des Rechtsnationalismus und Autoritarismus, etwa auf die Einleitung und die ersten vier Paragraphen der vom Militär auferlegten und immer noch gültigen Verfassung von 1982. Diese beinhalten ein ethnisch-ausgrenzendes Verständnis der türkischen Nation und einen autoritären „Atatürkismus“. Elemente wie diese, gepaart mit einem starken Fokus auf aggressiven Nationalismus und patriarchale Werte, waren die Schlüsselthemen, die von Erdoğan/CI instrumentalisiert wurden, um auf dem Weg zum aktuellen Präsidialsystem auf Zustimmung zu drängen. Und sie bleiben die Schlüsselelemente, die von Erdoğan/CI instrumentalisiert werden, um aktuell den autoritären Konsens zu konsolidieren. Nicht zuletzt ähnelte die Mobilisierung der Hauptopposition jener von Erdoğan/CI: Das hieß, die Menschen kleinzuhalten und zu demotivieren, selbst aktiv zu werden oder auf die Straße zu gehen, indem sie sie vor schlimmen Dingen warnen, die sonst passieren könnten. Sie setzen darauf, dass die Menschen demobilisiert bleiben oder nur auf eine paternalistische und kontrollierte Weise mobilisiert werden.

Ein ausgrenzender (extremer) Nationalismus, eine ausgrenzenden religionsbasierten Politik sowie die einem autoritären Staatsglauben und der Staatssicherheit eingeräumte Vorrangstellung gegenüber der selbsttätigen Aktivität der Massen und der popularen Demokratie sind zentrale Themen der herrschenden Blöcke seit der Gründung der modernen Republik Türkei. Nichts davon war und ist unangefochten und unverändert. Ein Intermezzo großer sozialer Auseinandersetzungen 1960-80 stellte diese autoritären Grundlagen der Republik in Frage. Diese wurden jedoch von der Militärjunta des Staatsstreichs vom 12. September 1980 und ihrer autoritären Verfassung in modifizierter Form wiederhergestellt.

Seitdem ist das zunehmende Erstarken eines rechtsgerichteten Konservatismus zu verzeichnen, der Nationalismus und Islamismus einschließt. Er wird von den wichtigsten bürgerlichen Parteien und dem Militär propagiert und instrumentalisiert und füllt das Vakuum, das die zerstörte revolutionäre Linke hinterlassen hat. Stärkere oder schwächere Alternativ- oder Gegentrends gab und gibt es nach wie vor, wie der kurzlebige Aufstieg der Sozialdemokratie in den frühen 1990er Jahren, die illusionären Versuche eines „progressiven Neoliberalismus“ unter der frühen AKP und in jüngerer Zeit vor allem der Gezi-Aufstand von 2013 gezeigt haben. Die Republikaner und die republikanische Linke haben es jedoch vermieden und vermeiden es weiterhin, Gegentendenzen zu einer umfassenden nicht-neoliberalen Alternative zu formulieren, während die revolutionäre Linke nach 1980 viel zu schwach blieb und bleibt oder in Teilen liberal wurde. Das ist der Hauptgrund, warum es seit geraumer Zeit eine unabhängige dritte, linke und pro-kurdische Koalition in der Türkei gibt.

Dass der wichtigste Oppositionsblock heute ebenfalls versucht, auf der dominierenden Welle des Konservatismus zu reiten, sollte daher nicht überraschen. Noch weniger, wenn man bedenkt, dass im Grunde alle Parteien innerhalb der MI neben der CHP Abspaltungen von der AKP (Davutoğlus GP, Babacans DEVA) oder der MHP (Akşeners IYI) sind, außerdem eine Nachfolgepartei der Vorgängerpartei der AKP (Karamollaoğlus SP) und eine Partei, die in der Haupttradition der rechten Mitte in der Türkei steht (Uysals DP). Es handelt sich also um Parteien der rechten Seite des politischen Spektrums, weswegen die manchmal zu vernehmende Rede von einer „großen, parteienübergreifenden Koalition“ in Bezug auf die MI schlicht falsch ist.

Es gibt keine offene Zusammenarbeit mit der YSP oder dem EÖI, diese wird von fast allen Parteien innerhalb der MI außer der CHP rundweg abgelehnt. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die YSP und ihre Vorläuferin, die Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP) bei den Kommunalwahlen 2019 maßgeblich zum Erfolg der Opposition beigetragen haben und jetzt wieder dazu beitragen, den Stimmenanteil von Kılıçdaroğlu zu erhöhen. In der Tat erzielte Kılıçdaroğlu in den überwiegend kurdischen Gebieten der Türkei die höchsten Werte, oft weit über 60 % der Stimmen. Im Gegensatz dazu hört man oft Aufrufe aus dem liberalen Lager an Kılıçdaroğlu und die CHP, sich zugänglich gegenüber konservativen und nationalistischen Wähler:innen zu zeigen, um eine erfolgreiche demokratische Koalition zu schmieden und die Macht von Erdoğan/CI über diese Wähler:innenschaft zu brechen. Ähnliche Aufrufe an Kılıçdaroğlu und die CHP, sich der HDP/YSP oder dem EÖI anzunähern, gibt es allerdings kaum. Offensichtlich ist die MI nicht nur aus pragmatischen Gründen der Ansicht, dass ein Einlenken gegenüber einer scheinbar dominanten konservativen Strömung ihr die Oberhand bei den Wahlen verschaffen würde. Der Schluss ist naheliegend, dass die Mehrheit der MI auch aktiv davon überzeugt ist, dass der Konservatismus die „richtige“ Art und Weise ist, zu regieren und die Gesellschaft zu gestalten. Gerade dieses Appeasement an den rechtskonservativen Trend machte es schon vor den Wahlen fragwürdig, wie weit eine Demokratisierung unter Führung der MI gehen könnte.

Allerdings scheint diese Anpassung an den dominanten rechtskonservativen Trend als Alternative gar nicht erst überzeugend genug zu sein, um einen Wandel in der Legislative einzuleiten, wie schon vor den Wahlen oft kritisch angemerkt wurde: Die MI blieb bei den Parlamentswahlen im Wesentlichen bei ihren Stimmenanteilen von 2018 (damals 33,94%, jetzt 35%), wobei die IYI etwas weniger (jetzt 9,7% gegenüber 9,96% 2018) und die CHP etwas mehr als bei den letzten Wahlen (25,33% gegenüber 22,65%) erzielte. Da die CHP jedoch nur durch die viel gepriesene Taktik, mit allen MI-Mitgliedern außer der IYI mit gemeinsamen Listen in den Wahlkampf zu ziehen, mehr Abgeordnete gewinnen konnte, werden sich diese Gewinne in Verluste verwandeln, da die CHP mehr Sitze an MI-Mitglieder abgeben wird, als sie gewonnen hat. Man fragt sich schon, ob die Taktik, eine Mitte-Rechts-Koalition zu schmieden, um das demokratische Potenzial gegen den Autoritarismus zu kanalisieren, doch nicht so gut aufgegangen ist und ob ein alternatives Mitte-Links-Bündnis, etwa mit der CHP und der HDP im Kern, bei guter Durchführung, nicht erfolgreicher gewesen wäre.

Die Lehren aus dem relativen Scheitern der Opposition sind meines Ermessens daher diese hier: Ohne eine umfassende alternative gesellschaftliche Vision, inklusive einer alternativen politökonomischen Vision, plus einer Praxis, die sich im Alltag und in der sozialen Praxis der Menschen mit diesen verbindet, um die Alternative tatsächlich zu verankern und die Menschen umfassend handlungsfähig subjektiviert und daher die reaktionären Subjektivierungsmechanismen ersetzt, wird es kaum gehen. Oder es wird gehen zu einem immer stärker steigenden Preis, das heißt auf dem Hintergrund von immer schwereren Krisen, deren Materialität dann irgendwann die Materialität und Superstruktur des Erdoğanismus brechen wird, allerdings dann mit einer Stoßrichtung, die radikal offen bleibt in alle Richtungen, fortschrittlich wie reaktionär.


Schlimmer jedoch als die nur mittelmäßige Performance der MI ist, dass das Einlenken gegenüber dem Rechtskonservatismus, um dessen extremste autoritäre Form, nämlich das faschistoide Regime unter Erdoğan, zu stürzen, dazu beigetragen hat – wohl unbeabsichtigt, nehme ich an, aus der Sicht der Mehrheit der Republikaner:innen –, die steigende Flut des rechten (extremistischen) Konservatismus zu stärken. Auch das war eine große Gefahr, vor der kritische Analysen schon seit geraumer Zeit gewarnt haben.


Der Aufstieg des extremen Rechtskonservatismus

Der heimliche Gewinner der Wahlen in der Türkei vom 14. Mai 2023 scheint derzeit der (extreme) Rechtskonservatismus zu sein, der als allgemeine Tendenz bündnisübergreifend erstarkt und verschiedene Unterströmungen wie extremen Nationalismus und extremen Islamismus umfasst. Zählt man die (rechtsextremen) nationalistischen Parteien aus der Regierungskoalition wie die MHP, aber auch aus der Opposition wie die bereits erwähnte IYI, aber auch die rasend flüchtlingsfeindliche Partei des Sieges (Zafer Partisi, ZP), die ihrerseits eine Abspaltung der IYI ist, zusammen, ergibt sich für diese Strömung ein Gesamtstimmenanteil von etwa 24-25 %. Das große bisher ungelöste Rätsel in dieser Gleichung ist die starke Performance der MHP. Waren ihr im Durchschnitt aller Umfragen vor den Wahlen 6-7% der Stimmen vorhergesagt worden, konnte sie mit knapp über 10% der Stimmen ihre Zustimmungswerte von 2018 im Allgemeinen fast ohne Verluste verteidigen. Eine ähnliche massive Fehlvorhersage fast aller Wahlumfrageinstitute für das Abschneiden der MHP war schon 2018 aufgetreten.

Auf der anderen Seite, während die AKP als Partei, obwohl sie immer noch die stärkste Partei bleibt, der große Verlierer dieser Wahlen ist (35,58% im Vergleich zu 42,56% im Jahr 2018), werden die extremen Islamisten von Erbakans Neuer Wohlfahrtspartei (Yeniden Refah Partisi, YRP) mit 2,82% der Stimmen als Teil der CI fünf Mitglieder ins Parlament schicken. Darüber hinaus sind vier Abgeordnete der kurdisch-islamistischen Partei der Freien Sache (Hür Dava Partisi,HÜDA-PAR) über die AKP-Listen ins Parlament eingezogen. Die YRP wurde der CI hinzugefügt, um deren Anziehungskraft im islamistischen Lager zu verstärken, während die HÜDA-PAR dem Bündnis hinzugefügt wurde, um die Anziehungskraft unter konservativen Kurd:innen zu erhöhen. Während HÜDA-PAR in der Tradition der türkischen Hizbullah steht, die in den 1990er Jahren für barbarische Massaker und Fälle brutaler Folter verantwortlich war, pflegen sowohl HÜDA-PAR als auch YRP eine aggressive Feindseligkeit gegenüber queeren Menschen und Frauen*rechten. Wie der erfahrene republikanische Journalist Murat Yetkin zu Recht feststellt, ist das derzeitige Parlament auf dem besten Wege, das nationalistischste und islamistischste Parlament in der Geschichte der modernen Türkei zu werden. Im Präsidentschaftswahlkampf hat der rechtsextrem-nationalistische Kandidat Sinan Oğan, der sich ebenfalls von der IYI abgespalten hat und sich für das im Rennen um das Parlament an sich unbedeutende ATA-Bündnis (wortwörtlich „Bündnis der Vorfahren“) aufstellen ließ, mit einem Gesamtstimmenanteil von 5,17 % entscheidend dazu beigetragen, dass das Rennen nun in eine zweite Runde geht.

Auch wenn wir noch nicht über wissenschaftlich fundierte Analysen der Wähler:innenströme verfügen, können wir vorläufig davon ausgehen, dass verärgerte AKP-Wähler:innen für Parteien innerhalb desselben Bündnisses (wie etwa die YRP) und in geringem Maße für Parteien außerhalb der Regierungskoalition, die dieser ideologisch nahe stehen, gestimmt haben.

Es zeichnet sich ab, dass nationalistisch orientierte Neuwähler:innen und verärgerte Wähler:innen anderer Parteien, insbesondere diejenigen, die IYI gewählt haben, Sinan Oğan ihre Stimme gaben. IYI-Parteichefin Meral Akşener scheint durch das Wahlergebnis nicht so sehr aus der Fassung gebracht zu sein zu sein wie die Republikaner oder die Linke; sie hat sich in der Wahlnacht und bis zum jetzigen Zeitpunkt (Mittwoch, 17. Mai) überhaupt nicht zu den Wahlergebnissen geäußert. Man kann nur vermuten, dass ein extremer Nationalist aus der gleichen Tradition wie Akşener als mutmaßlicher Königsmacher in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen sie ebenso erfreut wie das allgemein starke Abschneiden des (extremen) Nationalismus bei den Wahlen.


Zusammenfassend haben die jahrelange Dämonisierung der relativ zentristischen CHP und insbesondere der HDP/YSP als terroristisch von einem extrem nationalistischen Standpunkt aus ebenso wie das Fehlen einer Alternative zum Rechtskonservatismus und die Beschwichtigung desselben durch den wichtigsten Oppositionsblock zu diesen Ergebnissen geführt.


Das heißt, Politik hat zu dieser Situation beigetragen und nicht irgendeine mysteriöse allgemeine Soziologie der Türkei, derzufolge reaktionärer Konservatismus/Nationalismus irgendwie ein fester Bestandteil der türkischen Nation seit ehedem sei. Dennoch: Wie beispielsweise Cihan Tuğal hervorgehoben hat, werden diese strukturellen Verschiebungen in der allgemeinen Wähler:innenstimmung und der Identitätsbildung in den wenigen Tagen vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen höchstwahrscheinlich nicht mehr rückgängig gemacht werden können, auch wenn Kılıçdaroğlu das wollte (was er, übrigens, offensichtlich nicht tut; siehe weiter unten). Bevor ich mich der Wahlnacht und den Perspektiven für den zweiten Wahlgang zuwende, möchte ich einen kurzen Blick auf den Zustand der Linken werfen.

Revolutionäre Fehlzündungen

Nach den aktuell vorliegenden offiziellen Ergebnissen bleibt das Abschneiden des linken EÖI mittelmäßig. Sie könnte sogar Stimmenanteile verloren haben (10,54 % jetzt gegenüber 11,70 % für die HDP im Jahr 2018). Dies gilt insbesondere für die YSP (jetzt 8,81 %), unter deren Dach die HDP kandidierte, da letztere mit einem politisierten Schließungsverfahren vor dem Verfassungsgericht konfrontiert ist. Da sich die Diskussionen um Wahlbetrug jedoch speziell auf die Stimmen für die YSP und in geringerem Maße für die Arbeiterpartei der Türkei (Türkiye Işçi Partisi,TIP), die Teil des EÖI ist, konzentrieren, werden detaillierte Diskussionen über den Wahlerfolg oder das Scheitern des EÖI warten müssen, bis sich der Nebel des Krieges gelichtet hat. Dennoch lassen sich bereits jetzt einige allgemeinere Aussagen treffen.

Der bereits erwähnte Betrug und die autoritäre Repression sowie der allgemeine Anstieg des Rechtskonservatismus der letzten Jahre haben den Aktionsradius des EÖI eingeschränkt. Dennoch bleibt das EÖI eine wichtige Kraft, mit der man rechnen muss, und zwar seit Jahren. Das Bündnis stellt den einzigen wirklichen Garant für die Demokratisierung in der Türkei dar, und aufgrund der sozialistischen und linken Tendenzen innerhalb des EÖI auch für die Möglichkeit einer sozialen Perspektive für die Türkei über den Neoliberalismus hinaus. Das ist einer der Gründe für die Dämonisierung des EÖI und insbesondere der HDP/YSP durch die meisten Parteien des politischen Spektrums: Sie wollen diese Ausrichtung einer Alternative für die Türkei auf die Kurd:innen und einige marginalisierte Elemente der Linken beschränken, da der Rechtskonservatismus von den dominierenden politischen Parteien als soziale Vision für die Türkei bevorzugt wird.

Das EÖI wurde erst kurz vor den Wahlen gegründet und bezog noch mehr sozialistische Parteien als zuvor in ein strategisches Bündnis mit den pro-kurdischen linken Kräften ein. Dies war ein wichtiger Schritt, da es die Reichweite eines strategischen Bündnisses von Sozialist:innen und pro-kurdischen Linken um diejenigen Parteien und Organisationen erweiterte, die früher in relativer Distanz zur kurdischen Bewegung standen. Allerdings führten Meinungsverschiedenheiten darüber, ob man über gemeinsame Listen unter dem Dach der HDP/YSP oder über verschiedene Listen in den Parlamentswahlkampf eintreten sollte, zu schwerwiegenden Reibereien innerhalb des Bündnisses. Letztendlich entschied sich nur die TIP aus den Reihen des EÖI, über eine unabhängige Liste neben der HDP/YSP anzutreten, während alle anderen sozialistischen Parteien über HDP-Listen kandidierten. Positiv am Wahlergebnis für das EÖI ist die Tatsache, dass die TIP aus dem Stand heraus vier Abgeordnete mit 1,73% der Stimmen gewinnen konnte, das ist die gleiche Anzahl an Abgeordneten wie bei und nach ihrer ersten Kandidatur 2018 über HDP-Listen. Dies ist prinzipiell zu begrüßen, da es zeigt, dass eine sozialistische Partei in strategischer Allianz mit der HDP/YSP in der Lage ist, selbst als Newcomer im parlamentarischen Wettbewerb Stimmen und Sitze zu gewinnen. Auch hier liegt bislang keine klare Analyse der Wähler:innenströme vor, so dass nicht genau festgestellt werden kann, woher die Stimmen für die TIP kamen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass TIP Stimmen von linksgerichteten CHP-Wähler:innen, bisherigen Nichtwähler:innen und HDP/YSP-Wähler:innen erhalten hat. Sollte die TIP mehr Stimmen von linksgerichteten CHP-Wähler:innen und Nichtwähler:innen als von HDP/YSP-Wähler:innen erhalten haben, könnte man davon ausgehend argumentieren, dass die eigenständigen Listen der TIP im Prinzip zum Wachstum des Gesamtstimmenanteils des EÖI beigetragen hat.

Wie auch immer die Wähler:innenströme im Einzelnen aussehen mögen: Auf der negativen Seite des Wahlergebnisses für das EÖI steht die Tatsache, dass die Kandidatur über getrennte Listen nach einigen Berechnungen für das EÖI aufgrund der Spaltung der linken Wähler:innenschaft in bestimmten Wahlbezirken zu einem Verlust von etwa vier Abgeordneten führte (Berechnungen über potenzielle Verluste von Parlamentssitzen bleiben noch provisorisch). Während ein Zusammenschluss mit dem vorrangigen Ziel, mehr Abgeordnete zu erhalten – und damit der Verzicht auf unabhängige Organisation und Propaganda – in normalen Zeiten als eine autoritäre Perspektive des Ausbügelns von Differenzen um des stärksten Teils der Einheit willen aus rein pragmatischen Gründen (= mehr Abgeordnete) angesehen und kritisiert werden muss, war die Türkei am 14. Mai nicht auf normale Wahlen eingestellt: Die absolute Mehrheit der CI im Parlament zurückzudrängen und Erdoğan als Präsidentschaftskandidaten zu schlagen, war und bleibt der Schlüssel, um den konsolidierten Autoritarismus an diesem kritischen historischen Punkt empfindlich zu treffen. Darum ging es am 14. Mai. Der Zeitpunkt der TIP-Initiative, mit eigenen Listen anzutreten und auch dort separat zu kandidieren, wo dies absehbar zu einem Verlust von Abgeordneten für das EÖI insgesamt führen würde, muss daher als grober Fehler gewertet werden, der die gemeinsame Dynamik des Bündnisses beschädigte und als solcher scharf kritisiert werden sollte.

Andererseits hat der Geist der Debatten über die Listenfrage und die Perspektive nach den Wahlen zuweilen die Grenzen des legitimen Wettbewerbs und der Kritik innerhalb eines Linksbündnisses verlassen und war auch für den Geist des Bündnisses äußerst destruktiv. Wenn wir die bisherigen offiziellen Ergebnisse für bare Münze nehmen (und dabei immer den Betrugsvorbehalt im Hinterkopf behalten), hat die HDP/YSP mehr Stimmen verloren als die TIP gewonnen hat, selbst in Gebieten, in denen die TIP nicht parallel zur HDP/YSP antrat, wie in (Teilen von) Izmir, Ankara, Bursa, Aydın, Kocaeli und Manisa. Die Beschädigung des Bündnisgeistes könnte zu einer Demoralisierung und folglich zu einem Verlust von Stimmenanteilen insgesamt beigetragen haben. Eine nüchterne Selbstreflexion und -kritik ist notwendig, um die Gründe für den relativen Verlust von Stimmenanteilen zu finden. Innerhalb des Bündnisses stehen an den beiden extremen Polen der Debatte die Klage des TIP-Abgeordneten Ahmet Şık über „kurdische Faschisten“ und die Behauptung der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan, jede Stimme für eine andere Partei innerhalb des EÖI als die HDP/YSP sei eine Stimme für Erdoğan (beide entschuldigten sich später). Auch nach der Wahlnacht ging die Suche nach einem Sündenbock innerhalb des EÖI viral. Dies ist keine akzeptable Form, eine bündnisinterne Debatte zu führen.


Die EÖI-Mitglieder und -Mitgliedsparteien sollten sich rasch wieder auf die Wiederherstellung des Bündnisgeistes besinnen, ohne sich dabei berechtigte Kritik zu verkneifen. Gerade jetzt sind alle Kräfte notwendig, um die seit der Wahlnacht einsetzenden allgemeinen Demoralisierungstendenzen umzukehren, um auf dem steinigen Weg zum 28. Mai wieder die Initiative zu ergreifen.


Man kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, sich so schnell wie möglich auf die zweite Wahlrunde vorzubereiten. Zudem: Mittel- bis langfristig, unabhängig von den Ergebnissen des 28. Mai, ist eine starke und geeinte EÖI notwendig, um dem Aufstieg des Rechtskonservatismus entgegenzuwirken, mehr Kräfte für eine Demokratisierung der Türkei mit einer starken sozialen Perspektive zu sammeln und das Kräftegleichgewicht in eine solche Richtung zu bewegen. Dies wird der EÖI nicht gelingen, wenn sie in eine Psychologie der Niederlage zurückfällt, die die destruktiven Energien nach innen lenkt, anstatt sie in positive Energien nach außen zu wenden.

Ein harter Kampf steht bevor

Momente und Elemente, die keine zentralen Bestandteile von Strukturen oder von mittel- bis langfristigen Tendenzen darstellen, können dennoch kurzfristig von großer Bedeutung sein. Sie werden historisch entscheidend, wenn das Kurzfristige selbst ein kritischer historischer Kreuzungspunkt ist.

Die Wahlnacht bleibt nach wie vor geheimnisumwittert, da die Veröffentlichung neuer Daten zum Wahlergebnis durch alle relevanten Instanzen, einschließlich des von CHP und MI konstruierten alternativen Systems, mitten in der Nacht für einige Stunden gestoppt wurde. Selbst die sonst sehr lautstarken CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoğlu und Mansur Yavaş, die die offizielle Auszählung und die AKP-Blockademanöver am Abend und in der Nacht angefochten hatten, verstummten ohne jede Erklärung. Dabei hatte Imamoğlu bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 die ganze Nacht hindurch die offizielle Auszählung in ganz ähnlicher Weise angefochten, was als entscheidendes Element für den Sieg der CHP gegen den versuchten Wahlbetrug durch die AKP angesehen wird. Was ist dieses Mal passiert? Drei Tage danach gibt es immer noch keine befriedigende Erklärung. Es gibt viele Gerüchte und Anzeichen – wie den Rücktritt der Person, die innerhalb der CHP für die Wahlsicherheit und die Wahlberichterstattung zuständig ist –, die darauf hindeuten, dass innerhalb der CHP etwas grundlegend schief gelaufen ist. Aber die breite Bevölkerung wird über Details im Unklaren gelassen und dadurch demobilisiert. Hinzu kommt, dass Wahlbetrug, dessen Ausmaß nach wie vor hoch umstritten ist, bereits zwei Tage nach den Wahlen aufgedeckt wurde. Vielleicht ist es reiner Zufall und die hohe analytische Begabung des Innenministers Süleyman Soylu (AKP), dass er das Wahlergebnis am Wahltag fast exakt genau vorhersagte (49,50% für Erdoğan, 320-325 Sitze für CI). Oder vielleicht auch nicht.

Selbst wenn der Betrug die immer noch hohe Wähler:innenunterstützung für Erdoğan und die CI nicht erklärt: Wenn Betrug das Wahlergebnis auch nur um 1-3% zugunsten von Erdoğan und der MHP und gegen Kılıçdaroğlu und die YSP verändert hat, wird er entscheidend für den Moralfaktor im Vorfeld der zweiten Runde des Präsidentschaftsrennens sein. Was in der Wahlnacht vor aller Augen geschah – zahllose Einwände von AKP-Militanten gegen die Auszählung von Wahlurnen in Istanbul und Ankara – könnte dann als Ablenkungsmanöver interpretiert werden, um Aufmerksamkeit, Zeit und Energie von den Wahlurnen abzulenken, wo der eigentliche Betrug stattfand. Die Entlarvung dieses möglichen Wahlbetrugs wird Kılıçdaroğlu höchstwahrscheinlich keinen Sieg in der ersten Runde bescheren und vermutlich auch nicht die absolute Mehrheit der CI im Parlament zunichte machen. Aber das unerwartet starke Abschneiden der MHP im Parlament und der Beinahe-Sieg von Erdoğan in der ersten Runde waren die beiden Schlüsselelemente der weit verbreiteten Demoralisierung in und nach der Wahlnacht. Sicherlich tragen auch die von den politischen Parteien genährten überzogenen Erwartungen ihren Teil der Verantwortung für diese Demoralisierung. Dennoch würde eine Verringerung des Stimmenanteils der MHP und von Erdoğan durch die Aufdeckung dieser Betrugsfälle die Moral erheblich stärken.


Es kann nicht genug betont werden, wie wichtig es ist, den genauen Umfang des Wahlbetrugs so gut wie möglich zu ermitteln und die Ergebnisse so schnell wie möglich zu kippen, um die allgemeine Stimmung auf dem steinigen Weg zum 28. Mai zu ändern. Trotzdem: Auch ohne die Aufdeckung des Betrugs ist der selbst in manchen kritischen Analysen festzustellende Defätismus im Hinblick auf die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen von vornherein ein falscher Ansatz.


Sinan Oğan und die rund 5 % der Stimmen, die er auf sich vereinigen konnte, sind entscheidend geworden für den 28. Mai. Oğan hat erklärt, er werde mit beiden Seiten sprechen und seine Forderungen für eine Unterstützung seinerseits am 28. Mai vorlegen. Diese lassen sich im Wesentlichen auf die Forderung reduzieren, dem extremen türkischen Nationalismus und der Anti-Geflüchteten-Hetze Respekt zu zollen. Oğan scheint im Moment dazu zu tendieren, Kılıçdaroğlu am 28. Mai zu unterstützen, während er bereits mit vorgezogenen Neuwahlen in zwei bis drei Jahren rechnet – unabhängig davon, wer gewinnt, da er, nicht ganz zu Unrecht, eine instabile Situation nach dem 28. Mai voraussieht. Andererseits ist der Charakter von Oğans Wähler:innenschaft noch nicht wirklich klar. Sie sind offensichtlich in Opposition zu Erdoğan und durch nationalistische Gefühle motiviert, zugleich aber auch auf Distanz zu Kılıçdaroğlu. Kılıçdaroğlu kann sich entscheiden, dem türkischen Nationalismus noch mehr Zugeständnisse zu machen, als er ohnehin schon gemacht hat, um die Oğan-Wähler:innen für sich zu gewinnen. Hierdurch läuft er jedoch Gefahr, die Unterstützung der Linken und der Kurd:innen zu verlieren. Oder er setzt auf die Betonung der anti-Erdoğan und antifaschistischen, pro-demokratischen Perspektive, die von Teilen der Oğan-Wähler:innen geteilt zu werden scheint – und riskiert, im Gegenzug die Unterstützung der Hardcore-Nationalist:innen zu verlieren. Mit Stand heute (Mittwoch, 17. Mai) scheint er ersteres zu bevorzugen und beginnt mit einer aggressiven Anti-Geflüchteten-Hetze sowie einem Lob auf das Vaterland und den nationalistischen Militarismus.

Wie dem auch sei, ein Sieg von Kılıçdaroğlu wäre der Schlüssel zur Schwächung von Erdoğan und der CI, da das autoritäre Präsidialsystem dem Präsidenten die Möglichkeit gibt, die gesamte Regierung und einen großen Teil der oberen Bürokratie zu bestimmen, unabhängig davon, wer das Parlament kontrolliert. Eine Situation der Doppelherrschaft, in der ein Block den Präsidenten und der andere das Parlament kontrolliert, würde also nicht automatisch zu einem Verwaltungschaos führen, wie manche meinen. Die Exekutive und die Bürokratie unter Kılıçdaroğlu, einschließlich der Sicherheitsapparate, der wirtschaftspolitischen Institutionen und großer Teile der oberen Gerichtsbarkeit, könnten so agieren, dass sie die absolute Mehrheit der CI im Parlament umgehen. Aus hegemonialer Sicht wäre eine solche Situation jedoch höchstwahrscheinlich nicht für längere Zeit haltbar, insbesondere angesichts des Versprechens der MI, das Präsidialsystem zu beenden.

Die Opposition gegen den Faschisierungsprozess in der Türkei hat auf dem steinigen Weg zum 28. Mai einen schweren Stand. Zwar hat die partielle Aufdeckung des Betrugs, dessen Ausmaß nach wie vor umstritten ist, die Moral bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellt, doch haben Erdoğan und die CI nach wie vor die Oberhand, und es sieht aus heutiger Sicht wahrscheinlicher aus, dass sie den 28. Mai gewinnen werden. Das ist jedoch keine ausschließliche Notwendigkeit, und es besteht eine realistische Chance, dass auch Kılıçdaroğlu gewinnt. Dies sollte nicht leichtfertig abgetan werden, da der Erfolg oder Misserfolg des Kampfes gegen die Demoralisierung und die Wiedererlangung der Initiative mit darüber entscheidet, ob Erdoğan am 28. Mai besiegt wird oder nicht. Der Erfolg oder Misserfolg am 28. Mai ist nicht nur eine intellektuelle, erkenntnistheoretische Übung der rationalen Analyse dessen, was mehr oder minder wahrscheinlich geschehen wird, sondern eben auch eine Frage der Praxis, die den Ausgang der Wahl mit entscheidet. Nichts anderes bedeutet es in praktischer Hinsicht, von Möglichkeiten statt von Notwendigkeiten zu sprechen. Defätismus à la „Erdoğan hat eh schon gewonnen, ich mach mir überhaupt keine Hoffnungen“ ist eine Luxusware aus der Sicht all jener oppositionellen und dissidenten Menschen, die im Falle eines Erdoğan/CI-Doppelsieges keine realistische Perspektive haben, aus dem Land zu fliehen. Die Depression, die aus der Wahrnehmung einer ausweglosen Perspektive von weiteren fünf Jahren Erdoğan in Koalition mit der Hizbullah entstanden ist, hat schon jetzt die 20-jährige Kübra Ergin in den Freitod getrieben. Die Verbreitung einer solchen Wahrnehmung der Ausweglosigkeit lässt sich stoppen, das sind wir Kübra Ergin und vielen anderen schuldig. Alle Kräfte müssen jetzt gebündelt werden, um für eine Niederlage von Erdoğan am 28. Mai zu kämpfen. Nur so besteht die Möglichkeit, dass der faschistische Ansturm kurzfristig etwas nachlässt, was notwendig ist, um die Grundlagen für den Aufbau einer sozialen Kraft und einer Vision zu schaffen, die den gordischen Knoten durchschlagen könnte. All dies natürlich ohne der Illusion zu verfallen, dass eine Präsidentschaft von Kılıçdaroğlu der Türkei Demokratie und Sozialismus bringen wird, umso weniger, wenn Konzessionen ultranationalistischer Art an Oğan damit einhergehen. Die Alternative ist jedoch, dass die Tore der Hölle sperrangelweit geöffnet werden. Dann kann man sich die revolutionären mittel- bis langfristigen Perspektiven vermutlich auch erst mal gründlich abschminken. Darüber sollte man sich schon im Klaren sein, bevor man in einen bequemen Pessimismus verfällt oder sich umgekehrt in einen revolutionären Ultralinksradikalismus stürzt.