Das Regime in Panik. Erzwungene Neuwahlen in der Türkei
Viele hatten es schon länger erwartet, heute kam es dann überhastet: Die Ankündigung des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan, dass vorgezogene Neuwahlen des Parlaments, sowie gleichzeitig des Staatspräsidenten stattfinden werden. Und zwar in etwas mehr als zwei Monaten, nämlich am 24. Juni 2018, statt am 3. November 2019, wie ursprünglich vorgesehen. Der Ankündigung ging ein kleines Theater voraus: Gestern sprach der kleinere Koalitionspartner von Erdoğan, Devlet Bahçeli von der nationalistisch-faschistischen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP; deutsch: Partei der Nationalistischen Bewegung) davon, dass am 26. August 2018 vorgezogene Neuwahlen stattfinden sollten, da es „jede Minute schwieriger wird, dass der 3. November 2019 erreicht wird“ und es „dringend nötig ist, das Präsidialsystem einzuführen“. Die vorgezogenen Neuwahlen seien deshalb geradezu eine „nationale Notwendigkeit“. Es folgte ein kleines mediales Halligalli, Erdoğan kündigte an, er werde heute mit Bahçeli reden. In der dann knapp 25-minütigen Unterredung der Beiden sollen angeblich alle Vor- und Nachteile einer vorgezogenen Neuwahl en Detail besprochen und vorsichtig abgewogen worden sein. Und zum Wohle des Staatsvolkes wurde dann von Ihrer Höchsten Majestät befunden, dass das Land nicht mal mehr bis zum August warten kann, sondern – rasch, rasch! – schon im Juni entscheiden soll.
Das Geschwätz darüber, dass sich die Türkei in einem instabilen Übergang von einem politischen System (parlamentarische Demokratie) zu einem anderen („Präsidialsystem“) befindet und deshalb jetzt einfach mal der Übergang abgeschlossen werden soll, ist natürlich ein so dermaßen herbei konstruierter und realitätsferner Vorwand, dass das niemand glaubt. Erdoğan selbst plapperte letztlich in seiner heutigen Rede aus, worum es eigentlich geht:
„Sowohl grenzübergreifende Operationen als auch schwere Ereignisse von geschichtlichem Umfang, die sich in unserer Region ereignen, erzwingen, dass die Unklarheiten beseitigt werden. […] In einer Phase, in der sich die Entwicklungen in Syrien beschleunigen und wir eine Reihe an wichtigen Entscheidungen bezüglich makroökonomischer Verhältnisse bis hin zu großen Investitionen treffen müssen, muss das Thema der Wahlen so schnell wie möglich von der Agenda des Landes gestrichen werden.“
In der Tat, „schwere Ereignisse von geschichtlichem Umfang“: Für die Einführung seines „Präsidialsystems“ aka Präsidialdiktatur stimmten vergangenen April trotz brutalster Repression, Kriminalisierung jedweder Opposition und einer Furie an Inhaftierungen, Zwangsentlassungen, politischer Bevormundung, kurz: trotz einer rasenden Faschisierung nur 51,41% – und dieses Ergebnis kam wohlgemerkt auch nur zustande aufgrund massivster Wahlfälschung, die vermutlich wahlentscheidend war.
Nach einem starken, überzeugenden Faschismus sah das schon damals und sieht es auch heute nicht aus: Die aktuellsten Umfragen zeigen, dass Erdoğan als Präsidentschaftskandidat die 51%, die für einen Sieg in der ersten Runde der Präsidialwahlen nötig sind, nicht aufbringt und auch die eventuelle zweite Runde nicht sicher ist. Ebenso ist der Zustand der AKP-MHP-Koalition, die mittlerweile den Namen Cumhur İttifakı (Volksbündnis) angenommen hat, weil sonst die MHP fast garantiert wegen Stimmverlust aus dem Parlament fliegen würde, ungewiss. In der AKP-Basis rumort es schon länger, die MHP-Basis ist gespalten zwischen derselben und der MHP-Abspaltung namens İYİ Parti (Gute Partei) um die ehemalige Innenministerin Meral Akşener.
In den Wahlumfragen und dem Ergebnis des Referendums des letzten Jahres drückt sich aber auch etwas Elementareres aus: Nach wie vor die Hälfte der Bevölkerung ist nicht zufrieden mit der rasenden Faschisierung in der Türkei und steht in einem Antagonismus zum derzeitigen Regime. Nur mit der heftigsten Repression schafft es das Regime, den demokratischen Widerstand zu unterdrücken. Und dennoch drängt er sich in den Vordergrund, wo er nur kann: siehe die sich verschärfenden Arbeitskämpfe, die weiterhin kämpferische feministische Bewegung, der Widerstand gegen den Krieg an den Universitäten. Öffnete sich nur eine größere Lücke im stabil erscheinenden Machtblock – was würde sich nur für eine oppositionelle Massenenergie entfalten! Vielleicht sogar eine, die Gezi 2013 in den Schatten stellen würde?
Ja und dann beschleunigen sich noch die „Ereignisse in Syrien“. Will heißen, die Türkei ist in eine Zwickmühle zwischen NATO und Russland geraten, was Sturz oder Erhaltung von Assad angeht, und wird zusätzlich seitens Russland dazu angehalten, das von ihm eben erst besetzte Gebiet Afrins an Syrien „zurückzugeben“. Derweil neigt sich der Krieg dem Ende zu und die Türkei hat immer noch wenig zu sagen, was die Nachkriegsordnung angeht.
Und da sind dann natürlich auch die „makroökonomischen Verhältnisse“. Da kann Erdoğan noch so lautstark rumbrüllen, dass „ökonomischer Terrorismus“ und „Disziplinierungsversuche mittels Wechselkursen“ ihn nicht in die Knie zwingen: Er weiß sehr genau, wie kritisch die Situation ist, deshalb ja der Bezug auf „makroökonomische Verhältnisse“ in seiner heutigen Rede. Die Türkische Lira fällt derzeit ins Bodenlose gegenüber dem US-Dollar und dem Euro, was die sowieso schon hohen Auslandsschulden des Privatsektors dramatisch erhöht. Mittlerweile müssen auch reihenweise Großkapitalisten um „Restrukturierung“ von Schulden in Milliardenhöhen bei Banken bitten oder Unternehmen verkaufen. Selbstverständlich hat dies strukturelle Gründe: Der periphere Neoliberalismus der Türkei ist an seine Grenzen angelangt, die Zinsbewegungen der US-amerikanischen Zentralbank und überhaupt der US-Finanzmarkt bestimmen über die Bewegungen des finanziellen Kapitals, von dem die Türkei so abhängig ist. Und die sind seit der Weltwirtschaftskrise noch extremeren Schwankungen unterworfen, als davor eh schon. Aber die hausgemachten Probleme verschärfen das Strukturproblem: Wie Unternehmerverbände und unternehmensnahe Intellektuelle schon länger hervorheben, sorgen Willkür, Unberechenbarkeit und politische Instabilität für ein schlechtes Investitionsklima. Die Probleme mit der EU, der Fokus auf den Bausektor und das Fehlen von Reformen im Bereich der Hochtechnologie zwängen die türkische Wirtschaft in eine Sackgasse. Die Regierung antwortet mit spektakulär angekündigten angebotsorientierten Reformpaketen, die alle eher palliativer und aufschiebender Natur sind. Währenddessen weitet sich das Budgetdefizit mit rasender Geschwindigkeit aus. Ja sogar der Wirtschaftsberater des Ministerpräsidenten, der Technokrat Mehmet Şimşek warnt mittlerweile öffentlich davor, dass „der Sturm kommen könnte“ und rät zu Vorbereitungen. Daraufhin platzt Erdoğan vor Wut, weil mal jemand die Wahrheit ausgeplaudert hat. In der Tat stellt sich die Frage: Trägt sich diese Wirtschaft noch ohne Krise bis November 2019?
Und was, wenn sie sich nicht trägt? Laut dem Chef des Meinungsforschungsinstituts KONDA, Bekir Ağırdır, ist für ein Großteil der potenziellen Wähler*innen immer noch das alltägliche ökonomische Überleben ausschlaggebend bei der Wahlentscheidung. Und was, wenn parallel zu einer möglichen Krise der Krieg mit der PKK im Sommer wieder eskaliert? Was, wenn die Widerstände im Inland weiter andauern? Könnte das bei den anstehenden Kommunalwahlen am 31. März 2019 nicht eine Dynamik in Gang setzen, die brandgefährlich sein könnte? Offensichtlich entspricht dies der Situationseinschätzung von Devlet Bahçeli, der gestern bei seiner Forderung nach Neuwahlen unter anderem darauf verwies:
„Was unser Land nach den Kommunalwahlen vom 31. März [2019] erwartet, ist ungewiss. Es ist offensichtlich, wie sich die Polarisierungen infolge der Kommunalwahlen auf den 3. November [2019; ursprüngliches Datum für Präsidentschafts- und Parlamentswahlen] auswirken werden. Die Quelle eines solches Risikos auszutrocknen ist unser primäres Ziel.“
Es ist klar: Die politische und wirtschaftliche Gesamtsituation ist zu instabil und Erdoğan sowie Bahçeli wollen für ihre diktatorialen Bestrebungen so schnell wie möglich zumindest den Schein einer demokratischen Legitimation einholen, mit der sie sich dann für fünf Jahre fest(er) im Sattel wähnen würden. Regimepolitik in der Türkei heute funktioniert nach dem Motto: „Hauptsache ich kriege noch fünf Jahre, soll die Krise doch währenddessen kommen, eine Lösung finden wir dann!“
Daher auch der extrem kurzfristig anberaumte Wahltermin: Es wird rein zeitlich kaum Wahlkampf betrieben werden können und aufgrund wahlgesetzlicher Bestimmungen ist bis jetzt noch nicht klar, ob die vermutlich wahlentscheidende Meral Akşener und ihre İYİ Parti überhaupt an der Wahl teilnehmen werden können, da ihre Gründung als Partei noch zu frisch ist. Für alle Eventualitäten wurde schon im letzten Monat das Wahlgesetz geändert und legalisiert, was beim Referendum letzten Jahres Hauptmittel des Wahlbetrugs war: Akzeptanz von Stimmzetteln, die keine Stempel der Wahlbehörde tragen. Und wenn auch das alles nicht hilft: Die bewaffneten AKP-nahen Milizen stehen bereit, für ihren Führer in die Schlacht zu ziehen. Und was dann passiert, das ist wirklich ungewiss. Es steht alles auf dem Spiel.