Arbeiten in Zeiten des Coronavirus
Seit dem Ausbruch der Covid-19 Pandemie hat die italienische Regierung in den letzten 20 Tagen fast täglich eine Verordnung erlassen. Diese Dekrete führen „dringliche Maßnahmen zum Schutz gegen die Ansteckung auf das ganze nationale Gebiet“ ein. In der Verordnung vom 5. März wurde zuerst einmal die Region Lombardei und weitere 14 Provinzen Norditaliens zur „roten Zone“ deklariert, in denen die über 16 Millionen wohnhaften Menschen nur noch für die Arbeit und für den Einkauf ihr Haus verlassen durften. Am 9. März wurde der Ausnahmezustand in ganz Italien ausgerufen und die Sperrzone auf alle 21 Regionen ausgeweitet. Tatsächlich sind seither alle Schulen Italiens geschlossen, in vielen Städten schließen zahlreiche Läden schon um 18 Uhr. Doch zahlreich sind die gemeldeten Verstöße gegen die Maßnahmen: Die nötige Sicherheitsdistanz von einem Meter zwischen den Personen wurde nicht respektiert, einige Bars blieben bis nach 18 Uhr geöffnet und viele Jugendlichen versammelten sich in hoher Zahl auf den Straßen.
Angesichts dieser Tatsache trat am 11. März Premierminister Giuseppe Conte erneut vor die Medien und kündigte eine weitere Verschärfung der Maßnahmen an. In der Ansprache sagte er kurz und prägnant: „Alle ökonomischen Aktivitäten und Geschäfte bleiben vorübergehend und mindestens bis zum 25. März geschlossen, mit Ausnahme von Lebensmittelläden und Apotheken. Somit garantieren wir weiterhin den Zugang zu den lebensnotwendigen Produkten.“ Tutti a casa – alle zu Hause bleiben, heißt es also. Ist das der Weg, um der Verbreitung des Virus endlich einen Riegel vorzuschieben? Und können auch wirklich alle zu Hause bleiben?
Alle zu Hause, außer die Arbeiter*innen
Eine genauere Analyse des letzten Verordnungstextes zeigt indes, dass nicht nur Lebensmittelläden und Apotheken offen bleiben, sondern praktisch der komplette Produktionsapparat des Landes weiter funktionieren soll. Ausgeschlossen bleiben nur der Detailverkauf, die Gastronomie (etwa Bars, Pubs, Restaurants, Eisstände, Konditoreien) und die personenbezogenen Dienstleistungen (darunter fallen Friseur*innen, Barbier, Kosmetiker*innen). Weitergearbeitet werden soll „mit Respekt der Hygienevorschriften“ (selbstverständlich!) in der Essenslieferung, in den Banken und Finanzinstituten, bei den Versicherungen und der Post sowie auch in der Landwirtschaft, der Viehzucht und der ganzen Produktionskette von Lebensmitteln (von der Verarbeitung von Agrarprodukten, bis zu den Waren- und Dienstleistungszulieferern des Sektors).
Was die produktiven Aktivitäten betrifft, empfiehlt die italienische Regierung die Anwendung von Hausarbeit, die Vorverlegung von Urlaub (was einem Zwang zum Urlaub und daher zur Arbeit in Urlaubszeit gleichkommt!), den Rückgriff auf die in den Tarifverträgen vorgesehenen sozialen Maßnahmen (schwammig genug!) und die Einführung von Maßnahmen zum Gesundheitsschutz (fixer Arbeitsplatz, Verteilung von Atemschutzmasken und Handschuhen, regelmäßige Reinigung und Desinfektion des Arbeitsortes und so weiter). Es bleibt aber bei Empfehlungen, es sind keine Anordnungen.
Die produktive Kontinuität sichern
Mit dieser dringlichen Verordnung versucht die italienische Regierung einen unmöglichen Balanceakt: Auf der einen Seite geht es darum, die Bewegungsfreiheit der Menschen massiv zu beschränken, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen; auf der anderen Seite hingegen darum, den Bedürfnissen der sich schon vor dem Ausbruch des Virus in eine Krise zusteuernden Unternehmen nachzukommen. Diese hatten sich in den letzten Tagen sehr oft zum Einfluss des Coronavirus auf den Gang der Wirtschaft geäußert und stets die Weiterführung der Produktion gefordert, trotz exponentiellem Anstieg der vom Virus betroffenen Fälle. „Selbstregulierung und produktive Kontinuität ist die vom Unternehmensverband Confindustria empfohlene Weg“ ist in ihrer Zeitung Il Sole 24 Ore zu lesen. Im Namen der Wettbewerbsfähigkeit sei es „unerlässlich, die Betriebe offen zu halten und der produktiven Aktivität und dem freien Warenverkehr Kontinuität zu geben. Die Produktionsketten heute zu unterbrechen würde bedeuten, Marktanteile zu verlieren und exportorientierte Betriebe zu schließen.“ Dies wiederum sei, so die Kommentatorin der Zeitung, Nicoletta Picchio, „ein Signal fehlender produktiver Fähigkeit für das Ausland, die kurzfristig kaum aufzuholen ist. Der Produktionsunterbruch wäre ein schlimmer Fehler, das würde unser Tod bedeuten.“ Sie sieht die Geier schon über ihnen kreisen: „Unsere Konkurrenten greifen uns an, sie sind bereit, diese Momente der Schwäche auszunutzen.“ [1]
Arbeit statt Gesundheit?
In Italien wird also weiter produziert. Wie sieht es nun aber derzeit in den „verborgenen Stätten der Produktion“ aus? Eine besondere Aufmerksamkeit gilt zunächst einmal den Gesundheitsarbeiter*innen. Seit dem Ausbruch des Virus werden in TV und Presse ihre „Held*innengeschichten“ tagtäglich erzählt: Arbeitstage von bis zu 18 Stunden, keine Ruhetage, konstant den Gefahren der Ansteckung ausgesetzt. Doch die Gesundheitsarbeiter*innen selbst lehnen diese Held*innengeschichten ab. Sie sagen, es gehe nicht darum, die individuelle Anstrengung der einzelnen Arbeiter*innen hervorzuheben, sondern auf die systemischen Mängel des italienischen Gesundheitssystems – Unterfinanzierung und Umstrukturierung – hinzuweisen, die dazu führten, dass in Zeiten des Ausnahmezustandes die Gesundheitsarbeiter*innen fast übermenschliche Anstrengungen an den Tag legen müssen. Sie berichten auch davon, dass es konstant an individuellen Schutzvorkehrungen [sogenannte „dpi“, dispositivi di protezione individuale] mangelt, dass die Intensivstationen total überbelegt sind und somit andere Krankenhausbereiche auf Kosten anderer Patient*innen zu Intensivstationen umgewandelt werden müssen, dass ständig Ärzt*innen und Pfleger*innen fehlen, so dass in einigen Fällen Medizinstudierende rekrutiert werden, um diese Lücken zu füllen und so weiter.
Die Prekarisierung des Arbeitsalltages betrifft jedoch nicht nur Gesundheitsarbeiter*innen in den Krankenhäusern. Confindustria behauptet zwar, dass „Fabriken zurzeit die sichersten Orte sind, weil Präventivmaßnahmen getroffen wurden“, doch die Arbeiter*innen sehen das anders [2]: „Der Coronavirus macht nicht vor den Fabriktoren halt“, bringt es eine Arbeiterin auf den Punkt. In vielen Sektoren der Produktion ist die Arbeit trotz Lahmlegung des restlichen Landes intensiviert worden. In gewissen Betrieben der Logistikbranche stiegen die Auftragszahlen massiv, wie beispielsweise bei Amazon. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Menschen gezwungen sind, zu Hause zu bleiben und daher mehr Zeit für den Konsum haben. Amazon hält sich jedoch weder an die Betriebshygiene, noch hat der Konzern den Arbeiter*innen individuelle Schutzvorkehrungen garantiert. Erst nachdem ein Fall von Coronavirus im Lager von Torrazza Piemonte aufgedeckt wurde, wurde der Betrieb gereinigt und desinfiziert und einige Arbeiter*innen in Quarantäne gestellt.
Auch in vielen Call Center wird mehr gearbeitet als zuvor, vor allem in Betrieben, die Aufträge von öffentlichen Institutionen übernommen haben und während diesen Zeiten zusätzliche Hotline-Dienste anbieten. In einem Call Center in Napoli wurden einige Maßnahmen getroffen (die Zuweisung eines fixen Computers, Sicherheitsdistanz von einem Meter), andere hingegen nicht (fehlende Seife und Desinfektionsmittel in den WCs). Manche Maßnahmen grenzen ans Absurde, wie beispielsweise die Aufforderung, Kaffeeautomaten auszuschalten, um „unnötige Menschenansammlungen zu vermeiden.“ Die Betriebsleitung des Call Center lehnt weiterhin den Vorschlag der Hausarbeit ab; die Arbeiter*innen sind aufgrund der zusätzlichen Dienste hingegen gezwungen, Überstunden zu leisten.
Kaum eine Stimme haben diejenigen, die ohne Vertrag, irregulär und daher ohne Sozialversicherungsschutz arbeiten: Care-Arbeiter*innen müssen aus Angst vor einer Ansteckung zu Hause bleiben, vor allem diejenigen, die mit alten Menschen arbeiten; (Schein-)Selbständige sind nicht erwerbslosenversichert und riskieren nun einen längeren Lohnausfall, falls smart working nicht umsetzbar ist; junge Arbeiter*innen ohne Vertrag, die in Bars, Restaurants oder anderen „Zuliefererbetrieben“ des Tourismus (vor allem in den Städten) tätig sind, wurden aufgrund der Verordnung von einem Tag auf den anderen entlassen und sind nun ohne Job. Für diese Sektoren sehen die Verordnungen der Regierung bis heute keine Lösungen vor.
Widerstand formiert sich
Immer mehr Arbeiter*innen akzeptieren diese mangelnden gesundheitlichen und sozialen Sicherheitsvorkehrungen jedoch nicht und beginnen zu streiken. Zahlreich sind die Beispiele der landesweiten Arbeitsniederlegungen, vor allem in der Logistikbranche und in den Regionen, in denen der Virus schon weit verbreitet ist. In einigen Fällen geht es aber auch um weit mehr als um Gesundheitsschutz. Die Arbeiter*innen der Luxuskleiderfabrik Corneliani in Mantova fordern nicht nur die Einhaltung jeglicher Schutzmaßnahmen in der Produktion, sondern auch die vorübergehende Schließung der Produktion von nicht lebensnotwendigen Gütern. Dem Interesse der Confindustria, die Produktion um jeden Preis – vor allem um den der Gesundheit der Arbeiter*innen – weiterzuführen, setzen die spontanen Proteste der Arbeiter*innen eine Grenze.
Von den großen Gewerkschaftsverbänden CGIL, CISL und UIL ist in diesen Tagen indes weit weniger zu hören als vom Unternehmensverband. Die drei Maschinen- und Metallindustriegewerkschaften Fiom, Fim und Uilm rennen den Protesten der Arbeiter*innen regelrecht hinterher und verlangen die Schließung der Fabriken bis zum 22. März, „um alle Arbeitsplätze zu sanieren, zu sichern und neu zu organisieren.“ Die Basisgewerkschaften fordern hingegen mehr: Die USB ruft zu einem 32-stündigen Streik auf und fordert die „vorübergehende Unterbrechung aller industriellen Aktivitäten, mit Ausnahme derjenigen, die eng mit dem Kampf gegen die Pandemie verbunden sind.“ Der SI Cobas schließlich ruft zu sofortigen italienweiten Mobilisierungen und Arbeitsniederlegungen in allen Kategorien aus und fordert die Einberufung eines Verhandlungstisches mit der Regierung und dem Arbeitsministeriums.
Die Krise des Coronavirus hat also den Interessenskonflikt zwischen Profitmaximierung seitens der Unternehmen und dem Gesundheitsschutz und der Jobgarantie seitens der Arbeiter*innen entblößt und verschärft. Der Gang der Arbeitsproteste bleibt offen, sicher ist nur eines: Die Arbeiter*innen haben es satt, die Krise sowohl mit ihrer Gesundheit als auch mit der Arbeitsplatzsicherheit und dem sozialen Schutz bezahlen zu müssen. Es ist anzunehmen, dass die Arbeitskonflikte den Coronavirus bei weitem überleben werden.
Anmerkungen:
[1] Nicoletta Picchio, Imprese decisiva la continuità aziendale, ilsole24ore 12.03.2020, S.2.
[2] Die aufgeführten Beispiele von Prekarisierung und Arbeitsniederlegung sind einerseits den Berichterstattungen von Tageszeitungen und Gewerkschaften entnommen, andererseits handelt es sich um Dokumentationen des Roten Telefons von Potere al Popolo, einem mit dem Ausbruch des Coronavirus aufgeschalteten Service. Das Rote Telefon ist eine Hotline, auf die Arbeiter*innen anrufen können, um Verstöße und fehlende Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz zu melden. Arbeitsrechtler*innen und Aktivist*innen von Potere al Popolo informieren darüber, was ein Unternehmen gesetzlich tun muss und wie die Arbeiter*innen sich organisieren und handeln können. Bisher wurden hunderte von Fällen dokumentiert.
Titelbild: Die Basisgewerkschaft USB protestiert vor dem Ministerium für ökonomische Entwicklung.