Antifa, Vereinigte Linke und die innerlinke Opposition in der DDR
Am 03. Oktober stehen in Deutschland die Einheitsfeierlichkeiten an. Dabei geht es auch um Diskurshoheit in Bezug zu nationaler Geschichte und damit zum sozialistischen Versuch der DDR. Unser Autor Nestor Machwas beleuchtet im Gespräch mit Dietmar Wolf von der Zeitschrift telegraph die Ereignisse rund um die so genannte „Wende“ und zeigt auf, wie sich die radikale Linke in der DDR positionierte. Gleichzeitig untersucht er die Frage nach der Zusammenarbeit mit antifaschistischen Strukturen aus dem Westen und die Niederlage der „Vereinigten Linken“.
Nestor [re:volt]: Hallo Dietmar, welche Utopien hattet ihr in der Antifa Ostberlin? Was sollte mit der DDR nach der "Wende" passieren und welche zentralen Perspektiven hatte die DDR-Linke?
Dietmar Wolf: Spätestens mit der Gründung der „Umweltbibliothek Berlin“ im Jahre 1986 und der „Kirche von Unten“ 1987 gab es erste Gruppen innerhalb der DDR-Opposition, die ich strukturell und politisch als anarchistisch und auch linksradikal bezeichnen würde. Doch schon im Jahr 1985 gründete eine Freundeskreis aus Gransee (Nordbrandenburg), Oranienburg (bei Berlin) und Ostberlin eine Gruppe „Föderation Kommunistischer Anarchisten“, die im gleichen Jahr erstmals eine nichtstaatliche Ehrung zum Todestag von Erich Mühsam in Oranienburg durchführte. Der Kern dieser Gruppe initiierte im Frühjahr 1990 auch die Gründung der ersten DDR-Gruppe der Freien Arbeiter Union (FAU), in Ostberlin. Eine weitere explizit anarchistische Gruppe existierte seit 1986 in Dresden. Diese nannte sich „Wolfspelz“. Nach dem Überfall von DDR-Naziskins auf ein Rockkonzert in der Ostberliner Zionskirche im November 1987, gründeten sich erste unabhängige Antifagruppen in Potsdam und Dresden. Auch diese speisten sich aus einem anarchistisch orientierten Spektrum und ich würde sie als linksradikal bezeichnen. Mit der Gründung der ersten unabhängigen Antifa in Ostberlin im April 1989, gab es eine erste Gruppe, die sich, inspiriert durch die Autonome Bewegung aus dem Westen explizit „Autonome Antifa“ nannte.
Während
Gruppen wie die Umweltbibliothek Berlin oder die Kirche von Unten
bemüht waren, ihre Vorstellung von einer freien anarchistischen Idee
in der DDR zu formulieren, gab es in den verschiedenen Antifagruppen
zunächst keine wirklichen Ansätze, derartiges zu erarbeiten und zu
formulieren. Diese Gruppen sahen ihre Aufgabe im Wesentlichen darin,
aus einer Position der Selbstverteidigung, auf die Existenz und die
stark ansteigende Bedrohung durch Nazis in der DDR aufmerksam zu
machen. Die Formulierung von politisch-gesellschaftlichen Utopien war
für die Antifagruppen zunächst wenig relevant und untergeordnet.
Hinzu kam, dass die Aktivist_innen in den Antifagruppen mehrheitlich
sehr junge Menschen waren, in Teilen auch erst anpolitisiert. So
verwundert es auch nicht, das in den Fällen, in denen versucht wurde
inhaltliche Ideen und Ziele zu formulieren, diese gelegentlich nicht
immer ganz ausgegoren und auch diffus waren. Das änderte sich aber
zunehmend mit Beginn der heißen Phase der revolutionären Ereignisse
im Herbst 1989. Vorherrschend
waren dann vor allem rätesozialistische Ideen für eine
herrschaftsfreie und parteienlose Gesellschaft, die sich von der
gesellschaftlichen Basis her über eine gesamtgesellschaftliche
Räte-Struktur selbstverwalten sollte. Das wurde oft mit
anarchistischen Ideen verbunden. Als
die revolutionären Prozesse im Herbst/ Winter 1989 stark an Fahrt
gewannen, entstanden unter anderem in Ostberlin sehr schnell weitere
Gruppen, die sich selbst als „Autonom“ bezeichneten. Zu nennen
sind da der „Revolutionäre Autonome Jugendverband (RAJV)“ mit
mehreren Gruppen in verschiedenen DDR-Städten, oder die „13.
Autonome Gruppe“ aus Berlin-Pankow.
Eine auch aus heutiger Sicht gute Beschreibung der Idee einer herrschaftsfreien, sozialistischen und parteienlosen Räterepublik, wie wir es uns vorstellten, formulierte die „13. Autonome Gruppe“ in einem Papier, dass auch Eingang in den Dokumententeil des Kongress-Readers des „1. DDR-weiten Arbeitstreffens der Initiative für eine Vereinigte Linke“ vom 25./26. November 1989 fand:
„(...)Wir sind gegen eine Tendenz der Privatisierung der Wirtschaft, im Besonderen sind wir dagegen, dass ausländisches Kapital in der DDR Produktionsmittel besitzt. Wir sind gegen das Leistungsprinzip, das vom kapitalistischen System kopiert ist und die 2/3 Gesellschaft befördert. Wir sind gegen die Diskriminierung der Frauen am Arbeitsplatz. Wir halten nichts von pauschalen Mieterhöhungen und Aufhebungen der Subventionen bei Grundnahrungsmitteln, Energieversorgung der Haushalte und im öffentlichen Nahverkehr. Folglich sind wir gegen eine konvertierbare DDR-Mark. [ ... ] Wir sind für ein groß angelegtes, zunächst zeitlich befristetes Experiment mit allen Formen des Eigentums an Produktionsmitteln, dabei wollen wir besonders die verschiedenen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Eigentums beachten und vor allem genossenschaftliche Modelle erproben. Wir verlangen eindeutige Grenzen für privaten Besitz sowie privaten Handel. [ ... ] Aus unserer Sicht wird dies durch das Prinzip der gesellschaftlichen Selbstverwaltung in Form des Rätesystems garantiert, durch das die Bevölkerung auf allen Stufen an der Verwaltung des Staates und an der Leitung der Wirtschaft beteiligt ist. Die Räte entstehen als Resultat freier und geheimer Wahlen in den Betrieben und anderen Produktionsstätten, in den staatlichen Institutionen und Organen und in den Wohngebieten, wo die nichtarbeitenden bzw. die nicht mehr arbeitenden Teile der Bevölkerung erfasst werden. Die so entstandenen Räte sind durch ein Delegiertensystem für das ganze Land zu verbinden, ihr oberstes Organ ist der Rätekongress, der in freier und geheimer Abstimmung die Regierung wählt. Die Regierung ist dem Rätekongress und allen anderen Selbstverwaltungsorganen rechenschaftspflichtig. Regierungsfunktionen sind auf zwei Wahlperioden begrenzt. Grundsatzentscheidungen für die Entwicklung und Sicherheit des Landes trifft allein der Rätekongress, der in übersehbaren Abständen zusammentritt. Die Delegierten sind ihren Wählern und Räten rechenschaftspflichtig, der Rätekongress tagt öffentlich. ...“ 1
Ähnliche Positionen formulierte der „Revolutionäre Autonome Jugendverband (RAJV)“. So war dieser auch für eine „Gesellschaft fernab von Stalinismus und Kapitalismus“. Die SED sollte zugunsten einer sozialistischen Rätedemokratie entmachtet werden. Die Planwirtschaft sollte in der DDR beibehalten werden, jedoch unter vollständiger Kontrolle von Räten, die sich ausschließlich basisdemokratisch von unten organisieren sollten- über die Räte.
In Folge der „Wende“ sahen wir, wie viele andere Aktivist_innen die sich in Opposition zur noch herrschenden SED/ PDS sahen, mit der Entstehung der "Initiative für einen Vereinigte Linke (IVL)" folgerichtig zunächst eine Chance für eine wirkliche sozialistische Entwicklung in der DDR. Als logische Konsequenz engagierte sich die Autonome Antifa, zusammen mit andern autonomen und anarchistischen Gruppen in der „Initiative für einen Vereinigte Linke (IVL)“.
Nestor [re:volt]: Wer war die IVL und wofür stand diese? Wie war euer Verhältnis als Autonome zur IVL?
Dietmar Wolf: Die „Initiative für eine Vereinigte Linke (IVL)“ war ein Versuch auf Grundlage der so genannten „Böhlener Plattform“ eine Zusammenfassung verschiedener linken Gruppen und Strömungen der DDR zu einer gemeinsamen Plattform, bzw. Organisation, zu erreichen. Die „Böhlener Plattform“ wurde offiziell am 4. September 1989 veröffentlicht. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass dieses Grundsatzpapier bei einem Arbeitstreffen in Böhlen bei Bautzen verfasst worden sei, ist nur Wenigen bekannt, dass dieses Papier unter maßgeblicher Federführung des konspirativ arbeitenden oppositionell-marxistischen Diskussionszirkels „Gegenstimmen“ in Berlin erarbeitet wurde. Sie hatte, im Vergleich zu den Aufrufen anderer Organisations- und Parteineugründungen, den detailliertesten und weitestreichenden Forderungskatalog. Am 02. Oktober fand in der „Berliner Umweltbibliothek“ eine Zusammenkunft von Mitgliedern unabhängiger linker Gruppen, Arbeitskreise und Einzelpersonen statt. Es wurde beschlossen, im November 1989 ein DDR-weites Arbeitstreffen durchzuführen. Bereits am 12.10.1989 forderte die IVL den Rücktritt des Politbüros und der Regierung und die Bildung einer neuen politischen Führung, sowie einer zeitlich befristeten Übergangsregierung. Weshalb sie vom „Neuen Forum“ Leipzig als staatsfeindliche Provokateure bezeichnet wurde.
Ideologisch und auch programmatisch wurde die IVL von Anfang an von Mitgliedern der linken DDR-Oppositionsbewegung dominiert, die sich selbst als Marxist_innen, Trotzkist_innen und Leninist_innen bezeichneten. Aus Sicht dieser federführenden Akteur_innen war es unbedingt erforderlich, einen möglichst allgemein gehaltenen, akzeptablen Minimalkonsens zu schaffen. Vor allem, um die IVL in Richtung SED-Reformer_innen oder Vertreter_innen von linksliberalen Initiativen, wie etwa dem „Neuen Forum“, offen zu halten. Das hatte zu Folge, dass damit von vorne herein vermieden wurde, Maximalforderungen aufzustellen, was aus meiner oder unserer damaligen Sicht als DDR-Autonome, die IVL in ihrer politischen Klarheit von Anfang an beträchtlich geschwächt hat. So wurde von der IVL zum Beispiel der zentrale Begriff eines „durch Freiheit und Demokratie gekennzeichneten Sozialismus“ verwendet.
Innerhalb kürzester Zeit wurde uns als Aktivist_innen autonomer Gruppen mit mehrheitlich anarchistischen und/ oder rätesozialistischen Ideen und Auffassungen klar, dass die theoretischen und programmatischen Köpfe der IVL trotz ihrer allgemein positiven Einstellung zu der Idee von Arbeiter_innenräten über das, was der Sozialismus sein sollte, ganz andere Auffassungen vertraten als wir.
Trotz ihrer scharfen Kritik an der wirtschaftliche Grundlage der DDR und der Forderung einer „radikalen Umwälzung in der DDR“, ihrer Forderung nach „Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums“, ihrer Kritik an der parlamentarischen Demokratie und ihrer Befürwortung von Arbeiter_innenräten und der Rätebildung in den Betrieben, hatte sich die IVL mit der „Böhlener Plattform“ eine Programmatik geschaffen, die der Idee einer parteienlosen Räterepublik im Grundsatz entgegenstand. So sprachen sie sich im Kern für ein System parlamentarischer Demokratie aus, mit der „Existenz mehrerer Parteien, welche von der Verfassung garantiert werden “ und über ein klassisches "Verhältniswahlrecht" gewählt werden sollten. In einem Konzeptpapier „Parlamentarismus und Räteidee in einer sozialistischen Demokratie“ das von der Arbeitsgruppe 1 des „1. DDR-weiten Arbeitstreffens der IVL“, am 25. und 26. November 1989 im Ostberliner Haus der jungen Talente (Heute Podewill) mit etwa 500 bis 600 Teilnehmer_innen erarbeitet wurde, heißt es dazu:
„Wir halten es für eine gefährliche Illusion, bei den in unserem Lande gegenwärtig bestehenden politischen, sozialen und vor allein auch historischen Bedingungen und Voraussetzungen davon auszugeben, man könne jetzt zur Installation einer ,reinen‘ Rätemacht übergehen. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass bestimmt durch die konkreten Bedingungen der Entwicklung dieses Landes sowie durch das politische Kräfteverhältnis, die Hauptform, der sich entwickelnden Demokratie der Parlamentarismus sein wird. Wer nicht bereit ist, diese politische Tatsache anzuerkennen, verurteilt sich selbst letztlich zum politischen Sektierertum.“ 2
Letztendlich führten diese inhaltlichen, ideologisch-konzeptionellen Unterschiede zu einem Eklat, der sich Final auf dem Abschluss-Podium Bahn brach. Jene bereits beschriebene marxistisch orientierten Gruppierung versuchte im Prozess der endgültigen Konstituierung der IVL mit der Einführung eines zentralen Koordinationsbüros und der damit verbundenen Machtstellung eines zentralen Sprecher_innenrates in Berlin von vorne herein eine strukturelle und parteiartige Zentralisierung von oben nach unten zu erreichen. Weiterhin versuchte sie den eigentlich vorgeschlagenen und von der Mehrheit der Teilnehmer_innen längst akzeptierten Namen „Initiative für eine Vereinigte Linke“ kurzerhand durch „Vereinigte Linke“ zu ersetzen und damit letztendlich von Anfang an die Weichen auf eine Entwicklung hin zu einer Wahlpartei zu stellen. Dies scheiterte in dieser Situation an dem vehementen und lautstarken Widerstand der anwesenden Vertreter_innen autonomer und anarchistischer Gruppen. So wurde als Ergebnis dieser Tagung zunächst lediglich die Bildung eines DDR-weiten Informationsnetzes beschlossen.
Doch schnell stellte sich heraus, dass die von den Zentralist_innen befürwortete Ausrichtung der IVL nur vorübergehend verhindert werden konnte. So wurde schon Ende Januar 1990 bei der 1. Delegiertenkonferenz der IVL in Leipzig der Organisationsname „Vereinigte Linke (VL)“ durchgesetzt. Auch organisatorisch gelang es den Verfechter_innen von parteikommunistischen Konzepten sich nun durchzusetzen. Es wurde ein Statut verabschiedet, das eine Zentralisierung der Organisation regelte. Die 16 existierenden Basisgruppen wurden nun in territoriale Verbandsstrukturen umgegliedert. Im Berliner Haus der Demokratie (damals noch in der Friedrichstraße) residierte nun die Organisationszentrale mit einem zentralen Sprecher_innenrat und Geschäftsausschuss. Außerdem beteiligte sich die IVL weiter an allen regionalen und zentralen Runden Tischen (quasi Schattenparlamente mit Vertreter_innen aller Oppositionsgruppen und Organisationen, sowie Parteienvertreter_innen der Volkskammer. Hier wurden Wünsche formuliert und an die weiterhin regierende SED mit der Bitte um Umsetzung weitergereicht). Die VL stellte kurzzeitig einen von fünf „Ministern ohne Geschäftsbereich“, die ohne Wahl-Mandat von der Regierung Modrow ernannt wurden. Folgerichtig beteiligte sich die VL auch an der letzten Volkskammerwahl der DDR.
Nestor [re:volt]: Bei den letzten Wahlen am 18. März 1990 hat dann ja das CDU-Bündnis gewonnen und die Vereinigte Linke hat ziemlich schlecht abgeschnitten. Wie ist es euch denn nach den Wahlen ergangen. Wie habt ihr weiter gemacht?
Dietmar Wolf: In
Folge der sich sofort abzeichnenden Grundwidersprüche zwischen
verschieden Ideen und Auffassungen und der damit verbundenen
Konflikte zogen sich viele anfänglich Interessierte schnell wieder
von der IVL zurück. Neben diversen Einzelaktivist_innen waren es auf
der einen Seite Verteter_innen des SED-Reform-Flügels, und auf der
anderen Seite aber auch anarchistische Aktivist_innen. Demgegenüber
verblieben einige autonome Gruppen wie die „autonome Antifa“, der
„Revolutionäre Autonome Jugendverband“, oder die „13. Autonome
Gruppe“, als sogenannte assoziierte Gruppen zunächst weiter in der
VL. Damit wurde ihnen quasi ein Beobachtungsstatus zugebilligt. Sie
hatten auf Vollversammlungen Rederecht und bei Abstimmungen pro
Gruppe eine Stimme. Letztendlich waren diese drei autonomem Gruppen
nur ein linksradikales Feigenblatt der VL, aber ohne wirklichen
Einfluss. Als sich die VL entschlossen hatte, an den letzten Wahlen
zur DDR-Volkskammer teilzunehmen, unterstützten wir diese mit allen
uns zur Verfügung stehenden Ressourcen und Möglichkeiten, auch wenn
wir grundsätzlich gegen diese Form von Wahlen waren und schon gar
keine großen Erfolgschancen der VL sahen.
Was die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten im Wahlkampf anging, waren die Karten für alle der beteiligten Akteur_innen deutlich ungleich verteilt. Während der „Vereinigten Linken“ nur kleine Stückzahlen selbstgemachter und mehrheitlich auch selbstproduzierter DIN A3- und DIN A4- Plakate zur Verfügung standen, die zudem auch nur punktuell verklebt werden konnten, wurde vom Westen aus Millionen von D-Mark in flächendeckende Hochglanzwerbung für die Ost- SPD, CDU und FDP – Blockparteien investiert. Während die oppositionellen Gruppen nur Wahlwerbe-Zeit im DDR-TV und Radio zur Verfügung hatten, wurde das Westfernsehen, die westlichen Radiostationen und die meisten westlichen Zeitungen für einen großangelegten Wahl- und Propagandafeldzug benutzt, um einen sicheren Wahlsieg für entweder der Sozialdemokratischen Partei [SDP], dem Bund Freier Demokraten (Liberal-Demokratische Partei Deutschlands [LDP] Deutsche Forumpartei [DFP], F.D.P. der DDR ) , oder der Allianz für Deutschland (CDU der DDR, Deutsche Soziale Union [DSU] und Demokratischer Aufbruch [DA]) herbei zu garantieren. Hinzu kam, dass sich die westlichen Parteien, zusammen mit ihrem hochkarätigen Führungskader auch selbst aktiv in den Wahlkampf einmischten. Bereits seit der Maueröffnung wurde, vor allem von der CDU, alles unternommen, die Meinungen und Stimmungen der Menschen in der DDR weg von sozialistischen Reformen in einer souveränen DDR hin zu einem vermeindlichen Wunsch nach einer „Deutschen Einheit“ zu beeinflussen und fundamental zu verändern. Aus dem im Frühherbst 1989 ursprünglich kreierten Ruf einer freiheitlichen Emanzipation der Bevölkerung der DDR: „Wir sind das Volk“ wurde durch sehr viel Geld und eine ungebremste Propagandamaschinerie sehr schnell der Ruf: „Wir sind ein Volk“.
Eigentlich
hatten vor der Wahl alle, oder zumindest viele, mit einem knappen
Wahlsieg der SPD gerechnet. Selbst viele Demoskopen aus dem Westen,
prognostizierten einen Sieg der Ost-SPD. Das die Wahl mit einem
Erdrutschsieg der „Allianz für Deutschland“ ausging, hat alle,
auch uns, sehr erstaunt und vor allem uns als Ost-Linke durchaus
schwer erschüttert. Selbst die kleinsten Hoffnungen auf eine
eigenständige sozialistische DDR waren damit begraben worden. Was
für viele übrig blieb, war, sich auf die nun kommenden, wiederum
düsteren Zeiten vorzubereiten und das maximale aus den restlichen
Wochen und Monaten des „kurzen Sommers der Anarchie“ heraus zu
holen.
Diese Tatsache des desaströsen abschneiden der meisten beteiligte Oppositions-Gruppen und Initiativen (Vereinigte Linke 0,18 Prozent, Bündnis 90 2,9 Prozent, DDR-Grüne/UFV 2,0 Prozent – Allianz für Deutschland 48,15 Prozent, DDR-SPD 21,9 Prozent, PDS 16,4 Prozent) führte gerade bei unserer Gruppe zu der Erkenntnis, dass es ein grundsätzlicher Fehler war, sich entgegen der eigenen politischen Überzeugungen an diesem pseudodemokratischen Parteien- und Wahlzirkus zu beteiligen. Und während sehr viele linksalternative und linksradikale Aktivist_innen dieses ernüchternde Wahlergebnis zum Anlass nahmen, um sich resigniert komplett aus jeglichem politischen Engagement ins Privatleben zurückzuziehen, war es für die wenigen letzten autonomen Vertreter_innen in der VL zu mindest ein wichtiger Grund für ihren Rückzug aus der VL noch vor dem Sommer 1990 und zur Rückbesinnung auf ihre eigenen und eigentlichen politischen Aktionsfelder.
Allen ehemaligen Oppositionsgruppen und Initiativen, die sich zur Wahl gestellt hatten, war es mehr oder weniger gelungen, einige wenige Mandate in der letzten Volkskammer zu erlangen. Selbst die VL bekam, dank fehlender Prozenthürde, ein Mandat. Und so beteiligte sich auch die VL ein halbes Jahr am parlamentarischen Zirkus und begleitete die letzte DDR-Regierung von Lothar de Maizière bei der Abwicklung der DDR. Zu dieser Zeit, also spätestens ab etwa Sommer 1990, war der Zerfall der VL schon voll im Gange. Unter den verbliebenen Mitgliedern der VL hatten sich die Vertreter _innen für eine weitere Beteiligung an einem bürgerlich-demokratischen Parteiensystem und an parlamentarischen Wahlen mehrheitlich durchgesetzt. Angesichts der bevorstehenden Übergabe der DDR an die BRD und damit bevorstehenden weiteren Wahlen wurden nun auch selbst aktiv an imaginären, aber letztendlich nicht zu Stande gekommenen Wahl-Bündnissen mit anderen „Ex-DDR-Oppositionsgruppierungen“ geschmiedet. Während sich einzelne VL-Kader als „freie Kandidaten“ für die PDS und das „Neue Forum / Bündnis 90“ aufstellen ließen, gingen die meisten noch bestehenden unabhängigen, autonomen und anarchistischen Basisgruppen im Osten in die zeitweise recht starke Hausbesetzer_innenbewegung, in die autonome Antifa, in Kulturprojekte, Medieninitiativen und Ökokommunen. Sie bildeten den Grundstock für eine radikale autonome Linke im Osten, die sich in den 1990er Jahren partiell an der westdeutschen radikalen Linken orientierte. Dabei beharrte sie stets auf Eigenständigkeit, vertrat eigene Ideen und Konzepte und ging eigene Wege, auch wenn das gelegentlich Irrwege waren. Das Siechtum der „Vereinigten Linken“ zog sich letztendlich bis in die 2010er Jahre, weil sich die letzte Handvoll Mitglieder_innen bis in das Jahr 2017 nicht zu einem endgültigen Schlussstrich durchringen konnten. Eine echte und nachhaltige Handlungs- und Interventionsfähigkeit der VL war wahrscheinlich schon mit dem Ablauf der 1990er Jahre kaum bis gar nicht mehr gegeben. Einige dieser letzten Aufrechten und Altvorderen der VL beschuldigen bis in die heutige Zeit die anarchistischen und autonomen Aktivist_innen von damals. Diese hätten mit ihrem radikalen Einspruch auf der 1. Arbeitstagung im November 1989 schon den Grundstein für das Scheitern der IVL/VL gelegt. Sie hätten ursächlich die Organisation schon in dieser, entscheidenden Phase der Gründung mutwillig und verantwortungslos in ein Chaos gestürzt und viele potentiell Interessierte damit verprellt und abgeschreckt. Andernfalls hätte die VL eine gute Chance für eine größere Basis und fundamentale linke Alternative gehabt. Dies ist selbstverständlich nur eine reine Schutzbehauptung. Es ist der billige Versuch, sich selbst aus der Schuld zu nehmen, diese Anderen zu zu schieben und vom eigenen politischen Unvermögen abzulenken.
Nestor [re:volt]: Wie setzte sich die DDR-Opposition zusammen, gerade vor dem Hintergrund das heute nur von „Bürgerrechtlern“, die sich angeblich den Kapitalismus gewünscht haben, gesprochen wird?
Dietmar Wolf: Hier muss ich erst einmal was zu Begrifflichkeiten und zu Deutungshoheiten bzw. staatlicher Geschichtsrevision sagen. Zunächst gibt es keine „DDR-Bürgerrechtler_innen“ und auch keine „DDR-Bürgerrechtsbewegung“. Diese Begriffe sind ganz klar eine Erfindung der BRD-Medien, oder der von der politischen Elite der BRD gewollten und aufwendig finanzierten Geschichtsfälschung. Sie geht einher mit der Lüge, dass die Opposition in der DDR eine rein Bürgerliche gewesen sei, deren einziges Ziel das Ende der DDR und also die „Deutsche Einheit“ gewesen sei. Und jeder, dem die Stasi damals noch etwas Gehirn gelassen hat, weiß, dass dies großer Blödsinn ist. Leider ist es so, dass die große Mehrheit der ehemaligen DDR-Opposition seit langem schweigt, oder nicht in der Lage ist, sich entsprechend Gehör zu verschaffen.
Und so gibt es kaum Widerstand gegen diese große Geschichtslüge der BRD-Medien- und Propagandamaschine in Tateinheit mit einer ausgesuchten Handvoll von ehemaligen DDR-Oppositionellen, die sich profitabel an das herrschende System verkauft und ihre einstigen Ideale dafür längst über Bord geworfen haben. Sie sind nimmer müde im Auftrag ihres neuen Herrn zu behaupten, was jeder Realität entbehrt. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass einige das alles so verinnerlicht haben, dass sie dies mittlerweile selbst mit tiefster Überzeugung glauben. Selbstverständlich gibt es auch einzelne und spezielle Ausnahmen, wie Vera Lengsfeld. Sie begann ihren Weg ganz Links: Zunächst selbst SED-Mitglied, schloss sie sich später der linken DDR-Opposition an. Im Januar 1988 wurde sie bei einer Protestaktion, zusammen mit hunderten Ausreisewilligen und einige anderen DDR-Oppositionellen verhafte und eingesperrt. Trotz großer und starker Solidarität und Protestaktionen in der ganzen DDR und die Forderung nach Entlassung in die DDR, ließ Sie sich schon nach kurzer Zeit und unter dubioser Vermittlung von Amnesty International nach England frei kaufen. Von da an begann offenbar ein politisches Umdenken, das bekanntermaßen zu ihrem Marsch über Grüne, CDU zu Pegida und AfD geführt hat. Sie ist ohne Zweifel eine Überzeugungstäterin.
Doch zurück zum Ausgangspunkt. Ich sagte ja bereits, dass es keine „Bürgerrechtler_innen“ bzw. „Bürgerrechtsbewegung“ gab. Tatsächlich gab es überall in der DDR viele verschiedene und auch politisch nicht immer klar festzumachende Gruppen, die sich mehrheitlich in Räumen der evangelischen Kirchen organisierten. Abgesehen von wenigen Ausnahmen wie DDR-weiten Treffen oder gemeinsamen politischen Aktionen in Folge staatlicher Repression kamen diese Gruppen nur selten zusammen und agierten weitestgehend unabhängig voneinander. Sie vernetzten sich in der Regel auch nur informell. Die evangelische Kirche bot damals als Einzige die Möglichkeit, sich ohne direkte Strafverfolgung und Verhaftung zu versammeln. Hier trafen sich neben Christ_innen auch diverse politische Aktivist_innen, die sich in Opposition zur SED-Herrschaft befanden. Und es ist auch so, dass sich die überwiegende Mehrheit bis weit in die Wende 1989 hinein links von der SED positionierte und sich entweder konkret oder aber nur ganz allgemein für einen freiheitlichen und demokratischen Sozialismus in der DDR aussprachen. Das belegen diverse Papiere der verschiedenen Gruppen und Organisations-Gründungen im Zeitraum Sommer/Herbst 1989.
Exemplarische
Belege:
„Demokratie
Jetzt“ Gründungsaufruf, vom 13.August 1989:
„(...)
Der Sozialismus muss nun seine eigentliche, demokratische Gestalt
finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll. Er darf
nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach
überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen
zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige
Welt bezahlen muss ..."
Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe, mit dem Ziel eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen, vom 27.07.1989:
„... Angesichts dieser Lage halten wir folgende Bemühungen für notwendig:
a) Die Erarbeitung einer politischen Alternative für unser Land, die an politische Traditionen anknüpft, die an Demokratie und sozialer Gerechtigkeit orientiert sind.
Zu diesen Traditionen gehört an wichtiger Stelle die des Sozialismus. ...“
Aufruf des Neuen Forum, an alle Mitglieder der SED, vom 06.10.1989:
„... Zehntausend Unterschriften aus allen Bevölkerungsschichten beweisen schon jetzt, dass Gemeinschaftshandeln und Verantwortungsgefühl in der Stagnation unseres gesellschaftlichen Lebens nicht untergegangen sind. [...] Die zehntausend Unterschriften sind weit davon entfernt, eine staatsfeindliche Handlung zu sein - sie sind ein Akt staatsbürgerlicher Verantwortung. [...] Wir protestieren gegen die Versuche der Regierung, uns als Sozialismusfeinde darzustellen. Das Neue Forum ist eine Stätte für neues Denken. Das ist in der DDR ebenso wenig sozialismusfeindlich wie in der Sowjetunion. ...“
Edelbert Richter, Demokratischer Aufbruch, in einem Zeitungsinterview, vom 16.09.1989:
„(...) Nicht nur das Wort sozialistisch, sondern auch bestimmte gesellschaftliche Prinzipien des Sozialismus haben für uns nach wie vor einen guten Klang. Rechte Gedankengänge sind damit ausgeschlossen (...)“
Aus einem Flugblatt des Demokratischen Aufbruch, vom 14.09.1989:
„Der Demokratische Aufbruch ist ,ein Teil der politischen Opposition in der DDR‘ (...) für eine sozialistische Gesellschaftsordnung auf demokratischer Basis" eintritt. (...) Seine Mitglieder wehren sich gegen die Unterstellung die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen. Sie stehen ein für die Umgestaltung untragbarer Zustände, um die zukünftige Existenz der DDR als Friedensfaktor in Europa zu ermöglichen“
Wenn es überhaupt einen Sammelnamen für diese „Bewegung“ oder Gruppen gibt, dann wäre das „Friedens-, Menschenrechts und Umwelt-Gruppen der DDR“, bzw. in der „evangelischen Kirche der DDR“. Weil das aber ein ziemlich umständlicher Name ist haben wir immer von der „DDR-Opposition“ oder den „Gruppen der DDR-Opposition“ gesprochen. Wobei das so zu werten ist, dass es eine politische Opposition in der DDR war und nicht gegen die DDR.
Allerdings muss auch gesagt werden, dass sich ab etwa Mitte der 1980er Jahre auch politische Flügel herausbildeten und zur Wende hin immer klarer ausformulierten. Und es ist deshalb nicht verwunderlich, dass eine ganze Reihe der Gruppen und Aktivist_innen im Zuge der Wendeentwicklungen, spätestens aber ab der Maueröffnung und der sich mehr und mehr abzeichnenden Entwicklungen in Richtung Angliederung an die BRD, politisch endgültig nach rechts umschwenkten. Sie gaben ihre ursprüngliche Positionierung für Sozialismus in der DDR preis und setzten sich selbst aktiv für die Übergabe der DDR an die BRD und das BRD-Kapital ein.
Und um sich auch klar von diesen Renegat_innen abzugrenzen reden linke DDR-Oppositionelle heute auch in der Regel vom linken Flügel der DDR-Opposition - wenn sie von den Aktivist_innen und Gruppen reden, die sich immer und klar für einen Sozialismus in der DDR ausgesprochen und eingesetzt haben und das vor, während und nach der Wende.
Nestor [re:volt]: Wie
war das Zusammentreffen und die Zusammenarbeit mit westdeutschen
Antifas? Gab es Konflikte? Und gibt es Kontinuitäten in den
Unterschieden der politischen Arbeit von Antifaschist_innen zwischen
Ost und West?
Dietmar Wolf: Zunächst hier eine Vorbemerkung: Die Frage ist ziemlich weit gefächert. Sie betrifft einen gehörig weiten Zeitabschnitt, in dem viel passiert ist. Das alles abzudecken wäre sehr umfangreich. Ich beziehe mich zunächst auf die Zeit vor, während und nach der Wende. AA/BO ist schon ein Zeitsprung. Da ginge es um die Zeit 1992 bis 1995.
Kontakt zu Aktivist_innen aus dem Westen gab es seitens der DDR-Opposition schon lange vor dem Herbst 1989. Das waren zum einen Mitglieder/Abgeordnete der West-Grünen/ Alternative Liste, zum Anderen aber auch Aktivist_innen der Graswurzelbewegung und der Autonomen. Diese Kontakte waren stets hoch konspirativ und beschränkten sich auf Ostseite auf einzelne Personen, die diese Kontakte für die Gruppen hielten. Das Ergebnis dieser Kontakte war zum Beispiel, dass wir mit bescheidenen technischen Voraussetzungen versehen wurden, um diverse Untergrundzeitungen in bescheidenen Stückzahlen zu produzieren (Umweltblätter, Grenzfall, Antifa Info Ostberlin).
Eine
andere Zusammenarbeit gab es zur IWF/und Weltbank-Tagung im Herbst
1988 in West- Berlin. Parallel zur bundesweiten Aktionswoche gegen
den IWF in Westberlin, die von Grünen, Autonomen und der 3.
Welt-Bewegung organisiert wurde, organisierten die DDR
Oppositionsgruppen in enger Koordination mit den Westgruppen
ebenfalls eine Aktionswoche in Ostberlin - darunter Veranstaltungen
und spektakuläre öffentliche Aktionen. Dies geschah vor dem
Hintergrund, dass viele Mitarbeiter_innen und Delegierte der
IWF/Weltbank-Tagung in den Luxus- und Devisenhotels in Ostberlin
untergebracht und mit einem umfangreichen Kultur- und
Sightseeingprogramm in Ostberlin bespaßt wurden.
Ein drittes Beispiel war der „Schwarze Kanal“: Ost-Aktivist_innen produzierten Radiobeiträge, die dann nach Westberlin geschmuggelt und regelmäßig einmal im Monat unter dem Namen „Schwarzer Kanal“ über den Sender „Radio 100“ in den Osten ausgestrahlt wurden. Gleichzeitig wurden diese Sendungen in Form von Tonband-Kassetten DDR-weit verbreitet. Die Berliner Antifa-Gruppen bekamen aber erst direkten Kontakt zu Westberliner Antifaschist_innen mit der Öffnung der Mauer. Daraus resultierte eine langjährige, zum Teil komplizierte, auch konträre, aber mehrheitlich gute Zusammenarbeit, vor allem zur Kreuzberger Antifa K1, dem Antifaschistischen Infoblatt (West) aber auch zu diversen anderen Antifa-Gruppen aus dem Westen Berlins.
Ganz
allgemein und abgesehen von einer ganzen Reihe guter Ausnahmen, war
es aber so, dass sich die Kontakte und die Zusammenarbeit zwischen
Autonomen in Ost und West, also auch im Antifabereich, nach
anfänglichen großen Interesse und Austausch in verschiedenen
politischen Feldern sehr kompliziert und konfliktreich gestaltete.
Das ging schon mit Verständigungsproblemen und richtig gehenden
Irritationen in der Sprache los. Das
ging bei den oftmals grundsätzlich unterschiedlichen Vorstellungen
und Ansätzen in der konkreten Umsetzung politischer Ziele weiter.
Viele ostdeutsche Aktivist_innen hatten
schon im Lauf des Jahres 1990 das Gefühl, von den Leuten aus dem
Westen nicht ernst genommen zu werden. D.h. sich fortlaufenden und
immer unangenehmer werdenden Formen von ideologischer Hegemonie und
so genannten „Besser-Wessi-Tums“ ausgesetzt zu sehen. Zunehmend
und umso näher die Angliederung an den Westen rückte, hieß es,
dass unsere Biographien und Erfahrungen bestenfalls für nette
Erzählabende genügen würden. Wenn es aber darum geht, nun bald das
gesamtdeutsche Kapital zu bekämpfen, hätten die Aktivist_innen aus
dem Westen alleinig die Erfahrung, das Wissen und die erprobten
Methoden dies zu tun. Wir als Ostler_innen täten gut daran, dies zu
akzeptieren, von den Westler_innen zu lernen und uns in ihren
Strukturen hinten einzureihen. Diese besondere Art von „linkem
Kolonialismus“ führte letztendlich zu einer vorübergehen
Abkoppelung eines Teils der linken ostdeutschen Strukturen. Und dann
In den Jahren zwischen 1992 – 1994 zu einer separaten Organisierung
in einem eigens dafür geschaffenen „Ostvernetzungstreffen“, in
dem West-Aktivist_innen grundsätzlich „Hausverbot“ hatten.
Gleichzeitig gab es eine kategorische Abgrenzung zu dem Versuch westdeutscher Antifa-Gruppen, mit der „Antifaschistischen Aktion / Bundesweiten Organisation (AA/BO)“ eine aus Sicht der meisten Ost- Gruppen parteiähnliche Antifa-Kader-Organisation aufzubauen. Bis auf einige Ausnahmen, in denen einzelnen ostdeutsche Antifagruppen gelegentlich bei der AA/BO vorbeischauten, lehnten die Ostdeutschen Antifa-Gruppen zu dieser Zeit die AA/BO grundsätzlich ab. In späteren Jahren nach 1994, gelang es der AA/BO in einzelnen Regionen im Osten Fuß zu fassen. So etwa in Berlin. Hier gelang es ihr in die durch einen allgemeinen Niedergang der klassischen autonomen Antifa Gruppen-Struktur entstandene, durchaus defizitäre, Lücke mit ihrer Kader-Organisation zu stoßen und in Form der AAB (Antifaschistische Aktion Berlin) über einige Jahre zu dominieren. Die zunehmende hegemoniale Dominanz der AAB in Berlin unterband zwangsläufig Eigeninitiative und politische Kreativität und führte wiederum dazu, dass immer weniger jüngere Menschen, immer seltener bereit waren, sich in den wenigen Antifa-Strukturen zu engagieren. Ähnliche Versuche der AAB in Brandenburg hatten nur einen kurzfristig und mäßigen Erfolg. Das lag zum einen daran, dass die Antifa-Gruppen in Brandenburg weiterhin zahlreich vertreten waren und dabei auf Unabhängigkeit beharrten. Zum Anderen, weil es mit der „Umlandgruppe“ eine Berliner-Potsdamer Support-Gruppe gab, die die Brandenburger Antifa-Gruppen aktiv unterstützte und diese, ganz im Gegensatz zur AAB, nicht versuchte, ideologisch zu vereinnahmen. Sie ließ ihnen ihren Freiraum für die Entwicklung eigener Ideen und Konzepte.
Nestor [re:volt]: Nun
eine Frage zum Schluss. Warum sind so viele Antifagruppen
ausgestorben?
Dietmar Wolf: Oje. Das ist schwer. Und das wird dann irgendwie auch subjektive Kaffeesatzleserei. Ich werde es mal versuchen. Ein Grund ist die zuvor beschriebene AA/BO. An diesem Versuch ein parteiähnliche Antifaorganisation aufzuziehen, spaltete sich die Antifabewegung in der ganzen BRD in Befürworter_innen und Gegner_innen. Besonders die Antifa-Gruppen im Osten lehnten die AA/B0 kategorisch ab. Die Aktivistinnen stießen sich vor allem am parteikommunistischen Jargon der AA/B0 und an ihrer „pseudostalinistischen“ Ästhetik, die sich in Teilen an der Sowjetischen Propaganda der 1930er Jahre anlehnte. Das wird auch im 2017 herausgebrachten Buch „30 Jahre Antifa in Ostdeutschland - Perspektiven auf eine eigenständige Bewegung“ sehr gut beschrieben. Man hatte sich nicht gerade erst die FDJ und die SED vom Hals geschafft, um gleich wieder in solch eine straffe Organisation zu gehen. Statt dessen setzten sich die Antifaschist_innen im Osten eher auf eine eigene, ostdeutsche und vor allem dezentrale Vernetzung und gründeten das Ostvernetzungsstreffen, das mehrere Jahre Bestand hatte und an dem West-Antifa-Gruppen und vor allem die AA/B0 per Beschluss keine Zutritt hatten. Trotz allem gelang es der B0 auch im Osten eigene Gruppen zu gründen und junge Menschen im Osten in ihre Organisation zu locken. Vor allem in Berlin gelang es der B0 ab Mitte/Ende der 1990er Jahre eine gewisse Hegemonie zu erlangen und die Deutungshoheit, wie antifaschistische Organisierung zu sein hat. Das änderte sich erst mit dem Aufkommen der Antideutschen.
Ebenso hat der Staat es geschafft, mit den Verboten diverser Nazivereine, -parteien und -organisationen, wie zum Beispiel der „FAP“, der „Deutschen Alternative“, der „Nationalistischen Front“ oder der „Wiking Jugend“, dass die bis dahin sehr offen und zunehmend organisiert auftretenden Nazistrukturen für längere Zeit von der Straße und in die Versenkung verschwunden sind und sich dann eher halb konspirativ in so genannten „Freien Kameradschaften“ organisierten und vernetzten. Mit einem Schlag waren den Antifa-Gruppen ihre mittlerweile gut ausgeforschten und strukturell gut bekannten Feindorganisationen abhanden gekommen. Viele Antifa-Gruppen befanden sich, vor allem auch durch ihr weitestgehend erfolgloses und fast schon handlungsunfähiges Agieren während der rassistischen Pogrome von Hoyerswerda, Mannheim-Schönau und Rostock-Lichtenhagen zunehmend in einer inhaltlichen und strukturellen Sinnkrise.
Diese Krise wurde dann später, durch den von „Rot-Grün“ initiierten, finanzierten und politisch kontrollierten Staatsantifaschismus des sogenannten „Aufstands der Anständigen“ noch massiv verschärft. Dieser „Aufstand der Anständigen“ und die damit ausgerufene anständige Zivilgesellschaft machte es ideologisch möglich, vermeintlich antifaschistisches, oder „antirechtsextremes“ Engagement von grundsätzlichen, politisch-gesellschaftlichen Diskursen um Herrschaft und Kapitalismus, abzukoppeln. Man konnte als aufrechter Demokrat gegen Nazis und trotzdem für Kapitalismus sein. Und das zieht sich mittlerweile bis heute durch.
Ein
weiterer negativer Effekt war, das spätestens mit Beginn der 2000er
Jahre immer stärker werdende Phänomen der „Antideutschen“, die
nun neben der ohnehin in einer Sinnkrise steckenden, stark
angeschlagenen Antifa-Szene, auch die linksradikale Szene ideologisch
massiv und bis heute fatal nachhaltig angriff und schädigte. Mit
einem vehementen, fast überintellektuellen und gebetsmühlenartig
vorgebrachten Diskurs-Hijacking gelang es den „Antideutschen“
alle gegen alle auf- und gegeneinander zu hetzen. Dabei genügten
simple, aber intellektuell verpackte fast schwarz-weiß, gut-böse,
Freund-Feind-Diskurse, bei denen sie sich beliebterweise am
Palästina-Israel-Konflikt bedienten, am Thema pro- oder anti-USA,
oder aber grundsätzlich jegliche Kritik am Kapitalismus als
Antisemitismus deklarierten. Das Fatale dabei ist: auch
wenn es die Antideutschen seit etwa 2005 offiziell nicht mehr gibt,
haben sie es geschafft, ihr Gift einer falschen und zerstörerischen
Ideologie nachhaltig in die aktuelle und heranwachsende zukünftige
Generation von Aktivist_innen zu pflanzen.
Anmerkungen:
1 Auszüge aus: Beitrag der 13. Autonomen Gruppe zum Kongress der Vereinigten Linken am 25. und 26. November in Berlin.
2 aus:
1. DDR - weites Arbeitstreffen der Initiative Vereinigte Linke
25./26. November 1989, Konferenz Reader, Herausgeber: Initiative
Vereinigte Linke Berlin.