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„1000 kleine Revolutionen jeden Tag“

Afrindemo Derik 20.01..jpg Feministische Delegation

Eine feministische Delegation von mehreren Frauen* aus verschiedenen Orten Deutschlands reist drei Monate lang durch Rojava – mit dem Ziel, die Frauenrevolution in Nord-Ostsyrien sichtbarer zu machen. Wir haben uns über einen längeren Zeitraum mit der Kampagne über Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven ausgetauscht, Fragen und Überlegungen zwischen Europa und Rojava hin- und hergeschickt. Entstanden ist eine sehr umfangreiche Diskussion mit den beteiligten Frauen*, die wir hiermit dokumentieren. Die Reise ist ein Teil der feministischen Kampagne "Gemeinsam Kämpfen".

Als Delegation trefft ihr euch immer wieder mit unterschiedlichen Teilen der Frauenbewegung in Rojava. Welche Strukturen können wir uns darunter vorstellen und wie sind sie organisiert?

Charlotte: Wir konnten auf unserer Delegationsreise unheimlich viel sehen und erfahren. Wir waren neben den Kantonen Heseke, Kobanî und Qamishlo auch in den neu befreiten Gebieten, also Tabqa, Raqqa und Minbic. Dort ist der Aufbauprozess noch ganz frisch und man merkt, mit welcher Begeisterung sich die Frauen dort organisieren. An jedem Ort, an dem wir waren, konnten wir mit Vertreterinnen aus Bildung, Verteidigung, Wirtschaft, Kunst und Kultur und vielem mehr reden. Das hatte eine unglaubliche thematische Vielfalt.

Jana: Man kann sich das so vorstellen, dass das komplette Gesellschaftssystem konföderal organisiert ist. Es gibt die Kommunen als kleinste Basis. Eine Kommune umfasst in einer Stadt wie Derik etwa 40 – 60 Haushalte. Danach folgen die Räte, dann die Stadtverwaltungen und die Landkreisebene. In dieser Struktur, sowie in allen gesellschaftlichen Bereichen, gibt es immer eine autonome Frauenorganisierung. Der Dachverband der Frauenorganisierung für Rojava heißt Kongreya Star. Darunter sind alle Frauen der Region organisiert, aber oft zusätzlich in verschiedenen Komitees der gesellschaftlichen Bereiche. Auch wenn eine Frau in gemischten Strukturen arbeitet, ist sie automatisch Teil von Kongreya Star und hat somit immer die Frauenorganisierung im Rücken. In allen Institutionen, Organisationen, Räten und Kommunen aber auch gesellschaftlichen Bereichen gibt es immer einen Co-Vorsitz, also jeweils eine Frau und einen Mann.

Anna: Es wird versucht, alle Angelegenheiten erstmal in der Kommune zu regeln und da wird ganz viel gesprochen und diskutiert. Als Verantwortliche der Kommune geht man in regelmäßigen Abständen in alle Familien und fragt nach was gerade ansteht, ob es Probleme gibt, was benötigt wird.

Isa: Die ganze Art der Politik, die angestrebt wird ist eine andere, als wir sie kennen. Ziel ist immer eine gemeinschaftliche Lösung zu finden. Werte aus matriarchalen Gesellschaften spielen dabei auch immer eine zentrale Rolle: Also der Ansatz, gemeinschaftliche Werte zu schaffen wie Kommunalität, Diskussion im Konsens, ein fürsorgliches und verantwortungsvolles Miteinander und so weiter. Das lässt sich dann auch nicht nur durch Personen und Strukturen darstellen. Oft fällt es hier auch schwer, durch die unterschiedlichen Strukturen zu blicken. Ich habe hier gemerkt, dass mein Blick da oft auch sehr begrenzt ist. Der Kommunalismus, wie er hier aufgebaut wird, ist auch deswegen ein Gegenpol zu sonstigen Gesellschaftsstrukturen, weil er den Blick mehr in die Zwischenräume der Politik lenkt. Damit meine ich, dass darauf geschaut wird, wie sich soziale Beziehungen verändern, auf Entscheidungsprozesse und auf das Miteinander. Den Grad der Emanzipation kann man eben gerade nicht immer nur daran festmachen, in wie vielen Positionen Frauen jetzt die Rolle der Männer einnehmen, sondern vielmehr daran, in welcher Art und Weise Politik gemacht wird und worin Probleme wahrgenommen werden.

Man hört in diesem Kontext auch öfter den Begriff „Jineoloji“. Könnt ihr ihn kurz erklären?

Jana: Grob aus dem Kurdischen übersetzt meint der Begriff „Wissenschaft der Frau“. Sie versucht, aus der Geschichte – etwa aus der Geschichte der Frauen – heraus Antworten zu entwickeln, wie eine geschlechterbefreite Gesellschaft aussehen kann. Insgesamt verfolgt die Jineoloji einen ganzheitlichen und gesellschaftlichen Ansatz.

Charlotte: Ich würde gerne nochmal auf den Begriff der Wissenschaft eingehen. Das klingt erstmal so statisch. Aber es ist wichtig zu begreifen, dass es nicht nur Wissenschaft im westlichen Sinne ist, sondern die Wissenschaft des Lebens. Es geht darum, wieder ein Leben aufzubauen das nicht entfremdet ist. Deshalb schauen wir auch in die Geschichte, um zu sehen, dass der Kampf der Frauen immer ein Kampf für ein herrschaftsfreies Leben war. Die Jineoloji bezieht sich dazu viel auf matriarchale Forschung und die zentrale Rolle der Frau. Man kann sagen, dass die Frauenrevolution in Rojava und alles was hier aufgebaut wird, also die Werte und die Form, aus der Jineoloji kommen. Das alles geht Jahrtausende zurück. Das Prinzip der Kovorsitzenden zum Beispiel oder auch die Kommunenorganisierung, dazu gab es schon Funde in archäologischen Stätten. Allgemein geht es nie nur um Wissensansammlung, sondern um die Frage: Was bedeutet das Wissen für unser Leben.

Welche konkreten politischen Forderungen oder auch Entwicklungen seht ihr denn vor Ort, von denen ihr sagen würdet: Hier wird das praktisch umgesetzt?

Isa: Da gibt es viel. Es finden zum Beispiel Oral History-Forschungen statt: Ganz unterschiedliche Frauen der Gesellschaft hier werden zu ihrem Leben befragt, aber auch dazu, was sie sich für die Zukunft wünschen, welche Veränderungen passieren sollen und so weiter. Die Jineoloji Zentren sind sowohl ein Ort der Forschung, aber auch ein Anlaufpunkt. So findet beispielsweise in Derik wöchentlich eine Veranstaltung für Kinder statt, in der Filme oder Märchen geguckt werden und im Nachhinein darüber diskutiert und ein kritische Perspektive geübt wird. Jineoloji ist mittlerweile auch ein Unterrichtsfach in den Schulen geworden und an der Universität in Qamishlo gibt es eine Jineolojifakultät. Das ist schon unglaublich. Frauen können dort studieren und über die Widerstandsgeschichte der Frauen lernen.

Charlotte: Jinwar, das Frauendorf, dürfen wir auch nicht vergessen. Das ist letzlich auch ein Forschungsprojekt der Jineoloji. Es zeigt sehr gut den Punkt, den ich stark machen wollte: das Wissenschaft auch immer mit dem Leben in Verbindung steht und nicht ohne gedacht werden darf. Die Frage, die dabei immer mitschwingt, ist ja: Was macht ein freies Leben aus? Und was zeigt sich in diesem Mikrokosmos in der Gesellschaft, der von Frauen aufgebaut wird? Was kann daraus für die Gesellschaft in ganz Nord- und Ostsyrien gezogen werden?

Wo seht ihr denn Schwierigkeiten und Herausforderungen, die es ja auch in emanzipatorischen Projekten wie Rojava gibt?

Charlotte: Eine zentrale Herausforderung ist die Kriegssituation. Da geht einfach unheimlich viel an Kraft, materiellen und auch personellen Ressourcen, hinein. Und natürlich ist auch der Aufbauprozess in der Gesellschaft davon geprägt. Eine Frage, die beantwortet werden muss, ist ja, wie man eine langfristige Perspektive bietet. Durch die konstante Bedrohung des Projekts haben die Menschen Angst, dass all die Mühen des Aufbaus umsonst sind oder fürchten zum Beispiel, dass die Schulabschlüsse ihrer Kinder irgendwann nichts wert sind. Manche schicken ihre Kinder deshalb auf Schulen des syrischen Regimes. Die andauernde Bedrohungssituation führt auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft insgesamt. Viele Jugendliche tragen Militärkleidung, die Tradition von Militärparaden wird fortgesetzt und so weiter. Das sehe ich kritisch.

Isa: Die Frage, wie eine Revolution den Menschen eine langfristige Perspektive bieten kann, die eine Sicherheit gibt, kommt immer wieder auf. Es ist schwer, eine bedürfnisbefriedigende Infrastruktur zu gewährleisten trotz Kriegsdrohungen, Wirtschaftsembargo, Nicht-Anerkennung durch verschiedene Staaten und ganz konkret auch Fachkräftemangel. Wir haben einige Menschen mit gesundheitlichen Probleme getroffen, die durch das Embargo hier nicht die adäquate Gesundheitsversorgung erhalten können, die sie brauchen. Wenn sie es sich leisten können, müssen sie dann lange Wege nach Damaskus oder in den Irak in Kauf nehmen, um diese zu behandeln.

Sarah: Eine große Herausforderung ist das Thema Ökologie. Im demokratischen Konföderalismus ist Ökologie eine der zentralen Säulen und ich habe erst hier den ganz praktischen Aspekt davon verstanden. Wenn man in die Geschichte der Region schaut, ist hier durch die Kolonisierung die natürliche Vegetation völlig verschwunden. Unter dem Assad-Regime wurde der Monokulturanbau vorangetrieben – und nun steht man vor einem Brachfläche. In der Umgebung der Stadt Rimêlan zum Beispiel gibt es ein riesiges Erdölförderungsgebiet, dass damals vom Regime ausgebaut wurde. Natürlich ist Öl keine ökologische Ressource, aber man kann auch nicht auf die Einnahmen durch den Verkauf des Öls verzichten. Es gibt auch Pläne für alternative Energieversorgung, aber momentan kaum Kapazitäten dafür, sie umzusetzen. Da werden dann die Herausforderungen sichtbar. Zudem braucht es viel Bildung, um ein ökologisches Bewusstsein unter den Menschen zu schaffen. Zum Beispiel auch bei der Müllentsorgung. Die ist aber gleichzeitig auch ein Beispiel dafür, wie sich die Bevölkerung aktiv der Herausforderung stellt: Es gibt in manchen Städten einmal im Monat eine gemeinsame Müllsammelaktion, an der bestenfalls die ganze Bevölkerung teil nimmt.

Charlotte: Um einen weiteren Punkt aufzumachen: Ich sehe auch immer die Gefahr einer Verstaatlichung, obgleich es ja eigentlich eine Gegenbewegung dazu sein sollte. In Amude allein, einer Kleinstadt hier, gibt es beispielsweise 35 Institutionen. Um Gas zu bekommen, muss man sich erstmal an vier verschiedene Institutionen wenden. Die Vorsitzende der Stadtverwaltung in Derik erzählt uns, dass die Menschen bei Problemen oft erstmal in die Stadtverwaltung kommen – und nicht versuchen, es in ihrer Kommune zu lösen. Das liegt natürlich auch daran, dass die Menschen Strukturen machen, die sie kennen. Es geht hier auch nicht darum, den Staat von null auf hundert abzuschaffen, aber gleichzeitig auch nicht darum, alles wieder zu bürokratisieren.

Sarah: Und natürlich ist es ein Problem auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft, wenn Eigentumsverhältnisse fortbestehen. Der Ansatz hier ist aber eben erstmal Bildungen zu machen und Werte zu vermitteln. Das irgendwann die Einsicht auch da heraus kommt, dass es nicht wichtig ist, dass das Feld oder das Geschäft mir gehört.

Jana: Mir ist hier auch bewusstgeworden, wie zentral Bildung ist. Sie ist der Grundstein für eine Veränderung, die eben nicht durch Zwang passieren kann. Durch Bildungen werden Frauen ermächtigt, über die eigene Rolle zu reflektieren, in ihnen wird der Bevölkerung vermittelt, wie ich mich zu meiner Umwelt in Bezug setze, wie ich mit Müll umgehe und vieles mehr. Es wird auch viel Wert auf Bildungen für Männer gelegt, ihre Position in der Gesellschaft zu hinterfragen.

Was seht ihr mit einem feministischen Fokus auf die Anforderungen, die es in Rojava zu stemmen gibt?


Jana: Ich sehe auf jeden Fall eine Schwierigkeit in der Doppelbelastung der Frauen, die durch die politische Organisierung entsteht. Das ist auf Dauer eine Herausforderung, neben den vielen Treffen noch Haushalt und die Kinder zu managen. Denn das ist leider auch Realität: Rojava ist noch ein junges Projekt und man merkt, wie lange es dauert, bis sich gerade diese Rollenverteilung auflöst. Durch die Bildungen wird den Frauen dann erzählt, was für eine zentrale Rolle die Mutter hat und ich sehe die Gefahr, dass das dann falsch gedeutet wird – also, dass die Mutterschaft verherrlicht und dadurch auf die einzelne Frau abgelegt wird.

Anna: Ich verstehe deinen Punkt. Aber das mit der Verherrlichung der Mutter ist zu einfach gesagt. Bei dieser Analyse geht es ja um die Werte, die mit dem Begriff Mutterschaft verbunden sind, und nicht um die Person an sich. Es geht nicht darum, die Super-Mama zu sein oder neben deinem Job noch das Yoga mit Kind zu wuppen. Es geht darum, dass alle in der Gesellschaft die Werte der Mutter annehmen. Also Selbstlosigkeit, Achtsamkeit, Gemeinschaftlichkeit. Eine Mutter liebt alle ihre Kinder gleich und an diesen Werten müssen wir uns alle orientieren. Das ist doch die Aussage dahinter.

Sarah: Das Problem hängt mit den bestehenden patriarchalen Strukturen zusammen. Es hängt nicht an der Frau, die zu den Treffen muss, sondern an dem Mann, der nicht die gleiche Rolle übernimmt. In jeder Familie muss eben eine Revolution passieren und das sind 1000 kleine Revolutionen jeden Tag. Das ist ja auch ein Prozess dahin, die Rolle der Mutter nicht in einem biologischen Sinn zu begreifen.

Charlotte: Das ist ein anderer Ansatz. Er weicht von einem eurozentrischen Blick auf Frauenbefreiung ab. Besonders in der bürgerlichen weißen Frauenbewegung wollte man ausbrechen aus dem Haus und die Rolle der Mutter ablehnen. Wie Nina Hagen gesagt hat: „Ich bin nicht deine Fickmaschine“. Da hat man zum Beispiel auch Teile der schwarzen Frauenbewegung ignoriert, wenn man für „alle Frauen“ gesprochen hat. Für sie konnte das Haus auch Rückzug vor der weißen Unterdrückung bedeuten. In Rojava wird der Ansatz versucht, alle die Werte „der Mutter“ in der Gesellschaft wieder auf unser gesamtes Zusammenleben übertragen.

Anna: All diese Herausforderungen zeigen, dass Revolution ein Prozess ist und Widersprüche dazugehören. Sie sind ja gerade der Ausdruck von Wandel. Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass eine Revolution kommt und dann ist alles super.

Sarah: Generell ist die Situation der Frau ein großes Thema in der Gesellschaft. Viele berichten von einer Verbesserung im Vergleich zu Regimezeiten oder natürlich zum Leben unter Daesh. Frauen können ohne Probleme das Haus verlassen, sich bilden und in die Schule gehen, sie können zentrale Positionen einnehmen und so weiter. Die Fortschritte wurden von den Frauen mit der größten Anstrengung erkämpft, das haben wir immer wieder an ganz unterschiedlichen Orten gehört und miterlebt. Ihre Errungenschaften sind aber in Gefahr, durch die Kriegsdrohungen wieder platt gemacht zu werden. Man merkt das bei den Demonstrationen gegen die Angriffe. Es gibt eine riesige Beteiligung von Frauen, die Stimmung ist zum Teil sehr kämpferisch.

Welche Auswirkungen die Angriffsdrohungen der Türkei auf Rojava bekommt ihr mit?

Charlotte: Mit den Angriffen auf Afrîn gab es einen großen Zusammenhalt der Bevölkerung. In ganz Rojava gibt es Kundgebungen, Demonstrationen und Aktionen. Wir haben uns an vielen beteiligt. Es wird derzeit auch versucht, eine flächendeckende Selbstverteidigung der Zivilgesellschaft aufzubauen. Von der Großmutter auf dem Dorf bis zu den Jugendzentren, alle erhalten Trainings in Erste-Hilfe-Maßnahmen, Verhalten bei Luftangriffen sowie Ausbildungen an der Waffe, um sich selbst verteidigen zu können.

Anna: Krieg, Flucht und Tod sind Themen, die wir bei allen Menschen hier immer wieder hören. Viele haben Angehörige, die im Kampf gegen Daesh oder die Türkei gefallen sind. In jeder Stadt gibt es einen Friedhof für die Gefallenen. Für viele ist das auch der Grund und die Motivation, warum sie sich organisieren.

Welche Aufgaben können internationalistische Frauendelegationen in Rojava übernehmen, wie kann man sich denn einen Alltag von euch dort vorstellen?

Charlotte: Unser Alltag ist schon ein ganz anderer als in Deutschland. Hier machen wir alles zusammen. Wir stehen auf, machen gemeinsam Sport, Essen gemeinsam, verteilen unsere Arbeiten zusammen und schlafen in einem Raum. Damit in diesem engen Zusammenleben keine Konflikte entstehen, setzen wir uns regelmäßig zusammen, kritisieren uns selbst und die anderen. Das ist auch eine Methode der kurdischen Bewegung.

Jana: Ich war noch nie so lange nur mit Frauen unterwegs. Besonders in einem politischen Kontext. Und bei mir hat das nochmal ein ganz tiefes Vertrauen in meine Genossinnen erwachsen lassen. In unserer Sozialisation lernen wir, nicht die Fähigkeiten und das Können anderer Frauen zu sehen. Wie sehr dieses Denken trotz jahrelanger feministischer Arbeit in mir drin ist, habe ich erst hier gemerkt. Umso schöner finde ich unser gemeinsames Leben hier. Diese Liebe zu meinen Freundinnen zu entwickeln und zu sehen, wieviel wir voneinander lernen können.

Sarah: Abseits von Interviews konnten wir uns auch ganz praktisch die Gesellschaftsarbeit angucken. Wir konnten zum Beispiel an den Familienbesuchen von Kongreya Star teilnehmen oder die Arbeit der Mala Jin mitbekommen, die sich um Probleme der Frauen kümmern. Unsere Delegation war natürlich auch von der aktuellen Lage geprägt. Wir nahmen an den Hungerstreiks teil, bei Demos, Konferenzen oder den Aktionen der lebenden Schutzschilder in Serekaniye. Wir haben oft bei Familien geschlafen und haben das Leben dort mitbekommen. Je nachdem, in welcher Stadt und wie die dortige Sicherheitslage war, konnten wir uns auch auf uns selbst gestellt bewegen.

Anna: Wir haben gemerkt, dass es ist wichtig ist, dass Frauen hierherkommen. Denn wir kommen hier alle nicht nur als Einzelpersonen hin, wir kommen hierher, um zu lernen und unser Wissen, Informationen und Werte nach Hause zu tragen und sie unseren Freund*innen, Genoss*innen und Familien und generell der Öffentlichkeit zu erzählen. Unsere Erfahrung war, dass prozentual sehr viel mehr Männer herkommen und besonders internationalistische Räume dadurch sehr männerdominiert sind. Allerdings gibt es auch andere Räume, wie YPJ International, und dort passiert neben der militärischen Ausbildung sehr viel Persönlichkeitsarbeit. Wichtig sind auch Frauen dort, die in ganz praktischen Dingen ausgebildet sind – das geht von Ingenieurinnen zu Krankenpflegerinnen zu Elektrikerinnen.


Ihr sprecht Öffentlichkeitsarbeit an. Wie werden eurer Ansicht nach denn die Entwicklungen in Rojava in der „westlichen“ Öffentlichkeit wahrgenommen?

Isa: Das unterscheidet sich zwischen linker bis linksradikaler Öffentlichkeit und Mainstreammedien. In letzteren kommt das Thema abseits von YPG und neuen Entwicklungen im Kampf gegen Daesh quasi nicht vor. Es gibt kaum eine Berichterstattung darüber, dass hier eine Alternative aufgebaut wird und welche Rolle Frauen darin einnehmen. In einer linken Öffentlichkeit bewegt man sich häufig zwischen Idealisierung und Fetisch – Paradebeispiel die schwarzhaarige junge Frau mit Kalasch – oder Abgrenzung. Im Fokus ist auch dort oft nur der militärische Widerstand. In Gesprächen oder Anfragen von Journalist*innen haben wir gemerkt, dass gerade im militärischen Bereich das Interesse groß ist, aber nicht an dem Projekt selbst.

Sarah: Ich finde das auch absurd. In linken Medien wird zwar immer wieder über die Selbstverwaltung oder das Konzept des demokratischen Konföderalismus geredet. Aber das Frauenbefreiung ein zentraler Pfeiler ist, findet wenig Erwähnung. Frauen übernehmen hier eine Vorreiterinnenschaft, das lässt sich nicht anders sagen. Und das sind natürlich die Frauen der YPJ, aber auch die Mütter bei den menschlichen Schutzschildern oder die Frauen bei HPC Jin, den Verteidigungsstrukturen der Kommunen.

An welchen Bildern wollt ihr noch etwas verändern?

Anna: Das Bild der vermeintlich rein kurdischen Revolution. Die Strukturen hier setzen sich aus allen zusammen, die hier wohnen – und das sind nicht nur die Kurd*innen. Gerade kursiert in den sozialen Medien etwa das Bild einer kurdischen Frau mit Kalaschnikow und darunter steht „support the kurds and their allies“. Besonders seit der Befreiung der hauptsächlich arabisch bewohnten Gebiete sind solche Bilder schlichtweg falsch. Das haben wir auch in unseren Besuchen in Tabqa und Rakka gemerkt. Diese Vorstellung, der Demokratische Konföderalismus sei einzig ein „Kurdenprojekt“, die stimmt einfach nicht.

Jana: Ich möchte auch dieser Revolutionsromantik gerne etwas entgegensetzen. Es ist hier nicht perfekt. Aber gleichzeitig wäre es auch komisch, wenn dem so wäre. Hier wird mit einer unheimlichen Anstrengung an allen Ecken und Enden etwas aufgebaut. Das hat natürlich Fehler und die gehören dazu.

Isa: Da haben wir ja mit Antipropaganda noch gar nicht angefangen. Ich habe schon mehrfach in Artikeln gelesen, dass die Bewegung hier eigentlich total autoritär und menschenverachtend sei und die Befreiung der Frau nur als Vorwand nähme, um dies zu verschleiern. Das ist wirklich vollkommen hanebüchen und sexistisch. Es zeichnet wieder ein Bild der Frau, die nicht für sich selbst entscheiden kann.

Sarah: Auch die Linke muss auch ihren Blick auf Revolution ändern. Viele sagen, das Projekt in Rojava sei keine Revolution, da der erste Schritt hier die Frauenbefreiung und nicht die ökonomische Umverteilung ist. Bei dem Blick auf die Bewertung von Rojava scheint die Unterscheidung in Haupt- und Nebenwiderspruch noch sehr in den Menschen drin zu sein.

Was nehmt ihr persönlich aus dem Austausch für eure Kämpfe in Europa mit?

Jana: Mir ist die Relevanz einer autonomen Frauenorganisierung nochmal deutlicher geworden. Vor allem, wie das auch im Großen aussehen kann. Im gleichen Zuge merke ich, dass es nicht dabei stehen bleiben kann. Eine feministische Analyse und Erkenntnisse muss sich in einem zweiten Schritt auch auf die Arbeit mit unseren männlichen Genossen ausweiten. Die Frauen hier behalten immer die gesamtgesellschaftliche Perspektive im Auge. In den Gesprächen hier habe ich schon oft die Frage gestellt: „Wie schafft ihr das? Ihr musstet so viele Kämpfe mit euren Vätern, Brüdern und Genossen führen, wie habt ihr es geschafft, die gemeinsame Perspektive zu behalten und ihnen zu verzeihen?“ Und die Antwort war wirklich immer: „Es geht nicht anders. Es würde uns nichts bringen, wenn wir sie einfach zurücklassen“. Das war in meinen feministischen Zusammenhängen nicht so. Dort war die Antwort oftmals eher: „Ich habe schlechte Dinge mit Männern erlebt und jetzt arbeite ich nicht mehr mit ihnen“. Aber was ist dann unsere Perspektive?

Anna: Wir waren hier, als der Krieg angekündigt wurde und alle dachten, das wird in den nächsten Tagen passieren. Was ich da mitnehme ist, dass trotz dessen die Arbeiten weitergehen. Hier war keine Paralyse zu merken. Man hat weitergemacht und sich nicht davon bestimmen lassen. Da kann man auch viel für zuhause lernen. Es kann Kraft geben. Wenn man sich zum Beispiel monatelang in irgendeinem Kaff in Sachsen mit Feuerwehr-Politik gegen Rechts abarbeitet – und das ist natürlich wichtig und gar nicht anders möglich – währenddessen nicht Aufbauarbeiten und Perspektiven zu vergessen.

Isa: Das hat auch viel mit Hoffnung und Verbindlichkeit zu tun. Damit, auch in schwierigen Zeiten den Mut nicht zu verlieren. Dafür müssen wir eine gemeinsame Kraft entwickeln. Hier sterben so viele Menschen und das hinterlässt natürlich immer ein Loch – aber die Angehörigen ziehen daraus auch ihre Kraft, weiter an der Sache zu arbeiten. Denn diese Menschen sind für eine andere, eine befreite Welt gestorben und diesen Kampf wollen sie weitertragen. Das hängt auch mit Verbindlichkeit dem Widerstand gegenüber zusammen. Je mehr Geschichten und Gespräche man hört, desto unwahrscheinlicher wird es zu sagen: „Ich habe keinen Bock mehr auf Politik“. Als wäre das eine Entscheidung. Wir hatten hier ein Interview mit einer engen Freundin von Anna Campbell. Das hat mich sehr berührt. Sie hat uns erzählt, dass sie nach ihrem Tod einfach nicht mehr sagen kann, ich ziehe mich jetzt raus oder ich habe keine Lust mehr.

Sarah: Dazu gehört auch, eine gemeinsame Perspektive und gemeinsame Werte zu entwickeln. Sich nicht von Konflikten spalten zu lassen, sondern Methoden zur Konfliktlösung und zur Zusammenarbeit zu finden. Das hängt zum einen viel mit der Arbeit an sich selbst und andererseits mit der Herangehensweise an Genossenschaftlichkeit (Hevaltî) zusammen. Damit ist Vorstellung gemeint, gemeinsam in einem revolutionären Prozess zu wachsen. Das habe ich auch in meinem Umgang mit Männern gemerkt. Ich könnte natürlich sagen: „Scheiß drauf, ich kann den nicht ab“. Aber dann ist da nur ein Mann mehr, der sich nicht ändert. Wir müssen daran glauben, dass auch Typen sich ändern können und wollen, dass auch sie wachsen und sich verändern.

Charlotte: Was ich auch für meine Kämpfe mitnehme, ist ein verändertes Konzept von Freiheit. Das mir meine persönliche, individuelle Freiheit nichts bringt, wenn andere nicht frei sind. Zum Beispiel kann ich zwar oberkörperfrei im Berghain tanzen gehen, aber dennoch wird zwei Häuser weiter eine Frau von ihrem Mann geschlagen. Wir müssen aufhören, nur Schritte für uns zu gehen, und nicht für alle.

Wie ist die Kapitalismus- und Patriarchatskritik von Rojava auf europäische Länder übertragbar, und wo seht ihr Schwierigkeiten?

Isa: Ein Punkt über den ich viel nachdenke, ist die Analyse, dass die Frau die erste Kolonie ist. Ich gehe da zwar mit, aber ich denke, die Auswirkungen auf die politische Praxis in Europa oder westlichen Ländern muss eine andere sein. Wir kommen aus Ländern, die kolonisiert haben. Das dürfen wir nicht vergessen, wenn wir diese Analysen anwenden. Rassismus ist bei uns ein zentraler Unterdrückungsmechanismus. Wir können also nicht sagen, die Kategorie Frau ist die zentrale Kategorie für eine Organisierung. Damit machen wir nur selbst wieder Haupt- und Nebenwidersprüche auf.

Charlotte: Wir haben in Europa auch eine andere Grundlage, wenn wir von kommunalem Leben reden. Hier geht es zum Beispiel darum, kommunales Leben zu verteidigen und zu erhalten. In Europa müssen wir das wieder ausgraben und aufbauen. Wir befinden uns im Herzen der Bestie und deshalb brauchen wir auch andere Konzepte.

Sarah: Ich finde allerdings, dass es auch wichtig ist, die Gemeinsamkeiten zu betonen. Sonst verlieren wir den Blick für das Ganze und konzentrieren uns wieder nur darauf, was uns trennt. Ich finde die Analyse der kurdischen Bewegung dazu sehr hilfreich, also die Begriffe der demokratischen Moderne und der kapitalistischen Moderne. Also zu sehen, dass es natürliche Gesellschaften überall gab und diese bekämpft wurden. Werte wie Gemeinschaft, der Bezug zur Natur, ein humanistisches Gewissen – das ist etwas wofür wir alle kämpfen und wir können uns nicht nur Sexismus oder Rassismus herausgreifen und dann nur gegen einen Mechanismus kämpfen. Da gilt es auch, den Metropolenchauvinismus zu bekämpfen.

Isa: Es besteht immer auch die Gefahr, gewisse politische Realitäten zu vergessen und auch die eigenen Hintergründe zu vergessen. Das wir dann zum Beispiel darüber diskutieren, aber nicht darüber, dass wir hier in einer Gruppe aus weißen Frauen sitzen.

Anna: In Europa und gerade auch Deutschland wurden systematisch matriarchale Gesellschaftsmodelle und Frauen*bilder zerstört. Wir reden viel zu wenig darüber, dass wir an dem Ort leben, an dem so viele Frauen als Hexen verbrannt wurden. Da lohnt sich auch wirklich die Lektüre von Silvia Federicis Caliban und die Hexe. Damit wurde sich in der zweiten Frauenbewegung unheimlich viel beschäftigt und heute beziehen wir uns viel zu wenig darauf.

Heute ist internationaler Frauen*kampftag, und in vielen Orten international und in Deutschland finden feministische Streiks statt. Habt ihr eine Botschaft für eure streikenden Genossinnen*?

Anna: Wir stehen vor vielen Herausforderungen. Wir leben in einer Welt voller Grenzen und Mauern. Manchmal so, dass wir uns nicht erreichen können und uns nicht gegenseitig kennen lernen können, um Schulter an Schulter dagegen zu kämpfen. Eine internationalistische Perspektive überschreitet und durchbricht diese Grenzen. Und das bedeutet, die Notwendigkeit zu erkennen, dass wir unsere Kämpfe miteinander verbinden. Dass wir an jedem Ort an dem wir sind, für wirkliche Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen und verstehen, welche Rolle wir in diesem Kampf einnehmen können.

Jana: Ich möchte meinen Schwestern überall auf der Welt viel Kraft für ihre Kämpfe schicken und dass dieser Widerstand ein Widerstand ist, den wir seit Jahrhunderten führen. Denn: „wir sind die Enkelinnen der Hexen, die sie nicht verbrennen konnten“!


Die Kampagne „Gemeinsam Kämpfen“ entstand aus feministischen und internationalistischen Zusammenhängen in Deutschland. Sie möchte globale feministische Perspektiven für basisdemokratische Gesellschaftsformen entwickeln.

Link zu Blogbeiträgen der Delegation auf der Webseite der Kampagne.

Das Artikelbild zeigt eine Demonstration gegen die Afrin-Invasion in Derik am 20.1.2019.