Türkisches Inferno
Kıymetli kardeşlerim, kıymetli dostlarım; tekrardan burdayız. Söz verdiğimiz üzere, her zaman dediğimiz gibi, söz namus.
„Verehrte Brüder, geschätzte Freunde; hier sind wir wieder. Wie wir versprochen haben, wie wir immer gesagt haben: Die Treue zum Wort ist Ehre.“ Mit diesen oder ähnlichen Worten und erhobener rechter Hand mit Faustring auf der Handinnenfläche leitete der verurteilte ultranationalistische Mafiapate und Stoßtruppler des tiefen Staates in der Türkei, Sedat Peker, fast alle seine seit Mai diesen Jahres aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) aufgenommenen und per Youtube in alle Welt verbreiteten Videos ein. Nicht nur enthüllte Peker darin viele angeblich neue Details aus dem ekelerregenden, stinkenden Morast von Staat, Glücksrittern, selbstverliebten und tiefkorrupten Pseudo-Journalisten, Auftragsmördern und der staatlich organisierten Menschenverachtung, die landläufig als Tiefer Staat bezeichnet wird. Nein, möglich war der nur auf den ersten Blick individuelle Rachefeldzug Pekers einzig aufgrund der Versumpfung des Staates insgesamt, das heißt, der in alle Richtungen ausufernden wechselseitigen Verflechtung von Dezisionismus, Faschisierung und Polykratie im Politischen und des Klientelkapitalismus im Ökonomischen (auf diese Begriffe werde ich später noch ausführlicher Bezug nehmen). Peker und seine „Enthüllungen“ sind selbst nur platzende Blasen auf der Oberfläche dieses Sumpfes, der die gesamte Türkei zu ersticken droht. So weit schritt die im Sinne der Regimeerhaltung betriebene Zerstörung des sowieso schon recht überschaubaren Mindestmaßes an bürgerlichem Konstitutionalismus in der Türkei und seine Ersetzung durch den Sumpf voran, dass eine Kamera, ein Tripod und ein Faschist-jetzt-Möchtegern-Volksheld ausreichten, den Machtblock und das ganze Land erneut in Aufruhr zu versetzen. Beachtlich auch die enorme relative Autonomie dieses Sumpfes, der sich ja – wie oft vergessen wird – über dem „Normalbetrieb“ des neoliberalen Kapitalismus in der Türkei erhebt und diesen – je nach Situation – so sehr bedroht, wie er ihn aufrechterhält.
Derzeit befindet sich die Türkei in einer sich immer weiter verschärfenden Spirale an Instabilität, ökonomischen Verwerfungen, sozialer Depravation, Legitimationskrise, Gewalt, Militarismus und, seit jüngst, den vermutlich verheerendsten Waldbränden der Republiksgeschichte. Mitten in diesem Inferno tönen die Stimmen der wichtigen Akteure des Regimes immer schriller: Wir waren die meisterhaftesten in der Pandemiebekämpfung, unsere Wirtschaft ist am besten durch die Corona-Krise gekommen, es gibt keine Verarmung der Menschen, wir haben unendliche Gasvorkommen entdeckt, die Türkei wird zum Zentrum der Vierten Industriellen Revolution, wir werden es der ganzen Welt zeigen, wir werden auf den Mond steigen, es gibt kaum irgendwo eine so gute Brandbekämpfung wie in unserem Land und so weiter und so fort. Es ist eine Grundlehre der Psychoanalyse, dass die Rationalisierung einer bedrückenden Situation, eines Traumas, umso überbordender, schriller, zwanghafter wird, umso schwieriger die Aufrechterhaltung jener Rationalisierung angesichts der Realität ist.
Dies ist die kafkaeske „leere fröhliche Fahrt“ des Regimes, das sich um nichts anderes mehr wirklich schert als um sich selbst – und dessen Akteuren im Ringen miteinander und mit der Hegemoniekrise die Kontrolle des Fahrwerks immer mehr entgleitet.
Es gibt aber auch mehr als genug Potenzial in der Türkei, um die wilde Fahrt aufzuhalten, bevor das gesamte Land mit der Kutsche in den Abgrund stürzt. Das allerdings hängt davon ab, ob sich die politischen Akteure einfinden, jenes Potenzial auch zu entfesseln. [1]
Die Coronakrise in der Türkei, oder: Stell Dir vor, Du lügst auf Weltmaßstab, und niemanden interessiert es
Was sich schon im frühen Herbst letzten Jahres abzeichnete, wurde im November dann ganz offiziell bestätigt: Die türkische Regierung hatte in Bezug auf die Coronakrise die vermutlich größte bewusste und aktiv vorangetriebene Zahlenmanipulation weltweit betrieben. Der eigentliche Skandal daran ist allerdings, dass es kein Skandal wurde.
Man muss sich das vergegenwärtigen: Über Monate hinweg zweifelten alle noch nicht vollständig regimetreuen Institutionen in der Türkei, allen voran die wahrhaft heroisch um Aufklärung und Volkswohl kämpfende Ärztekammer (Türk Tabipler Birliği, TTB), die vom Gesundheitsminister durchgegebenen Zahlen zu Neuinfektionen und Todesfällen in Bezug zu Covid an. Dabei waren schon diese schlimm genug. Aber durch Hochrechnung von beispielsweise durch die TTB selbst kompilierten Daten konnte geschätzt werden, dass sich Anfang November 2020 die Zahl der Neuinfektionen zwischen 20.000 und 50.000 Personen täglich bewegte – um ein vielfaches höher als offiziell vom Gesundheitsministerium durchgegeben. Für die durchgehend kritische und aufklärerische Haltung des TTB gegenüber den Regierungsmaßnahmen wurde dieselbe übrigens vom „kleinen Partner“ der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP), dem Chef der nationalistisch-faschistoiden Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) Devlet Bahçeli des Vaterlandverrates bezichtigt und mit Schließung und juristischer Verfolgung bedroht. Aber dann kam eins nach dem anderen: Zuerst gab der Gesundheitsminister zu, dass die vom Ministerium gemeldeten Neuinfektionen nur diejenigen beinhalteten, die gleich mehrere (!) Symptome aufwiesen – sprich, eine Minderheit der Corona-Infektionsfälle. Kurze Zeit später sah sich der Gesundheitsminister von Erdoğans Gnadentum dazu bemüßigt, auch „alle anderen“ Fälle zu erwähnen, sprich die wahren – oder zumindest der Wahrheit näheren – Zahlen rauszurücken. Am 25. November 2020, von einem Tag auf den anderen, gingen daher die Neuinfektionen von grob 5.000 pro Tag auf fast 29.000 Neuinfektionen pro Tag hinauf (was im Übrigen die Reputation und Professionalität der Ärztekammer bewies, die durch unendlich mühevolle Kleinstarbeit und unter großem politischen Druck sehr nahe an diese Wahrheit rankam). Anfang Dezember „korrigierte“ der Gesundheitsminister dann dementsprechend auch die Gesamtinfektionszahlen nach oben: Waren im November 2020 vor der Bekanntgabe der nachjustierten Zahlen noch etwas weniger als 30.000 in der Türkei lebende Menschen offiziell als infiziert gemeldet, so lag die Zahl am 10. Dezember ganz plötzlich bei fast 1,75 Millionen Personen. Schaut man sich im Corona-Dashboard der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Türkeiseite an, erkennt man sofort die Künstlichkeit der Daten, insbesondere die Sprünge bei den Neuinfektionen Ende Juli und Ende November 2020. Laut der Investigativplattform Total Analysis befindet sich die Türkei auf Platz 97 von 100 der auf Transparenz der Corona-Daten untersuchten Länder. „Aber was sind denn schon eine Million mehr oder weniger Infektionsfälle angesichts der schieren Unendlichkeit des Weltraums?“, ist wohl die Logik, die hinter dieser nonchalanten Herangehensweise steht.
Ähnlich verhält es sich mit den Angaben zu Verstorbenen während und wegen der Corona-Pandemie. Zwar hat das Statistische Institut der Türkei (Türkiye İstatistik Kurumu, TÜIK) die türkeiweiten Todeszahlen und -ursachen für das Jahr 2020 immer noch nicht veröffentlicht, ja sogar die Veröffentlichung der Daten explizit ohne genaue Terminangabe im Juni 2021 exakt einen Tag vor dem regulären Veröffentlichungstermin verschoben. Aber unabhängige Forscher und Zeitungen konnten aussagekräftige Berechnungen zur Exzessmortalität vorlegen (das heißt Anzahl oder Rate der Todesfälle, die über dem Durchschnitt der Todesfälle eines Vergleichszeitraumes liegt). Die New York Times wie auch der Epidemiologe Mesut Erzurumoğlu kommen zum Beispiel zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der Mortalität in Istanbul: Beide gehen für die Millionenstadt von einer Exzessmortalität im Jahre 2020 (im Vergleich zum jährlichen Durchschnitt der Jahre 2015-19) von 25% oder etwa 18.000 zusätzlichen Toten aus – fast so vielen, wie offiziell türkeiweit als Corona-Tote des Jahres gemeldet waren. Der Medieninformatiker Güçlü Yaman extrapoliert regelmäßig aus den Mortalitätsdaten von Städten in der Türkei, in denen etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt beziehungsweise in denen etwa die Hälfte aller Todesfälle der Türkei stattfanden, (Exzess-)Mortalitätszahlen und -raten für die gesamte Türkei. Für den Zeitraum vom 11. März bis zum 10. November 2020 errechnete er so eine Exzessmortalität von 23% oder etwa 30.000 Exzess-Tote (im Vergleich zu den Jahren 2015-19) für das gesamte Land, was in etwa der doppelten Zahl der offiziellen Corona-Toten für den genannten Zeitraum im gesamten Land entspricht. Obzwar es nicht gesichertes Wissen ist, liegt es doch nahe, anzunehmen, dass die gesamte Exzessmortalität als die „echte“ Zahl der Corona-Toten zu betrachten ist, zumal Todesfälle durch eine Reihe anderer Gründe (Unfälle, andere Infektionskrankheiten, usw.) durch die Pandemiebekämpfungsmaßnahmen üblicherweise zurückgingen. Dass die Zahl der „wirklichen“ Corona-Toten im weltweiten Durchschnitt etwa doppelt so hoch ist wie die offiziell gemeldeten Zahlen, wird mittlerweile als wahrscheinlich angesehen. Schaut man sich jedoch Yamans neuere Berechnungen an, die bis in den Juni 2021 hinein reichen, ergeben sich 146.000 Exzesstote im Verhältnis zu 48.000 offiziell gemeldeten Covid-Toten, also ein Verhältnis von etwas mehr als 3:1. Das liegt hauptsächlich daran, dass in einigen Dezemberwochen, in denen die Pandemie in der Türkei bisher am schlimmsten wütete, Exzessmortalitätsraten von laut Yaman unglaublichen 122% erzielt wurden.
Social statistics are frozen tears – einer der ersten Sätze, die man im Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte lernt. Statistiken zu manipulieren und nach Gutdünken zu verdrehen, um das von Herrschaft geschaffene oder geförderte Leid der Menschen schönzureden, gehört hingegen zum Alltagsgeschäft bürgerlicher Politik im Kapitalismus.
Nur ist es so, dass es mancherorts besonders schamlos, besonders menschenverachtend, besonders gleichgültig gegen Wohl und Leid der Bevölkerung betrieben wird. Die Zahlen zu Corona-Infektionen in der Türkei sind indes nicht die einzigen wichtigen Zahlen, die „nach oben“ korrigiert wurden im Zeitraum, den diese Analyse abdeckt. Auch die Arbeitslosigkeitszahlen wurden, wie ich noch zeigen werde, nach oben korrigiert. Umgekehrt wurde, was die Inflationszahlen angeht, weiterhin staatlicherseits versucht per Repression realitätsgerechtere Repräsentationen zu unterbinden.
Der derzeitige Gesundheitsminister der Türkei, Fahrettin Koca, ist indes nur ein – natürlich nicht unwichtiges und zur Verantwortung zu ziehendes, aber dennoch „nur“ ein – Rad im Getriebe einer (Pandemie-)Politik, deren einziges Anliegen politischer Machterhalt inklusive Fortsetzung kapitalistischer Profitakkumulation und so weit möglich die Reproduktion der Minimalbedingungen einer sozialen Restlegitimität für jenen Machterhalt ist. Nicht mehr, nicht weniger. Und dass die Opposition in der Türkischen Republik wie aber auch die großen, schönen, Werte-und-Normen geleiteten europäischen und transatlantischen Hauptverbündeten der Türkei die Corona-bezogene Zahlenmanipulation und die darin zum Ausdruck kommende, gezielt gegen menschliches Leid indifferente Pandemiepolitik kaum (Opposition) oder gar nicht (Europa und Co) skandalisierten, zeigt erneut in aller Deutlichkeit, dass bürgerlicher „Anti-Autoritarismus“ entsprechend der von ihm verfolgten Interessen recht bescheiden ist, wenn es um Wohlstand, Gesundheit und Lebensfreude der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung geht. Außer natürlich, es geht um Belarus, Russland oder China, also um geopolitische Antagonisten des euro-transatlantischen Kapitalismus. Da spielen dann jene Werte und Normen plötzlich eine ganz große Rolle. Auch diese Bescheidenheit wird uns den restlichen Artikel über als Konstante begleiten.
Der Pandemie ausgeliefert
Ich bin mir nicht sicher, ob man sagen kann, dass der Hochmut der Regierenden in den letzten Monaten in der Türkei zugenommen hat. Ich meine jene Art von maßlosem selbstverherrlichendem Hochmut, der alle sogar vom Regime selbst gesetzten Regeln und Gesetze mit Füßen tritt und sich eines Besseren dünkt, dies auch noch jeder und jedem ganz ohne Scham und öffentlich unter die Nase reibt und damit das ganze Land verhöhnt, das unter Pandemie und Wirtschaftskrise ächzt und krächzt. Dieser Hochmut und die sich darin ausdrückende schreiende Ungerechtigkeit sind aber jedenfalls viel sichtbarer und greifbarer geworden, da sie in mittlerweile krassester Diskrepanz zur Lebensrealität des Großteils der Menschen in der Türkei inmitten der Pandemie stehen.
Der Hochmut speist sich aus der Machtrunkenheit einer fast 20-jährigen Regierung, die zudem in den letzten zehn Jahren sukzessive konstitutionelle und bürokratische Mechanismen in Politik und teilweise Wirtschaft ersetzt hat durch unmittelbarere Machtbeziehungen – also dezisionistischen Praktiken – und Klientelverhältnisse.
Diese Politik spülte damit Tausende kleine Erdoğans, Neureiche, Glücksritter, schmierige Gestalten, Menschheitsverbrecher und Opportunisten (erneut) an die Oberfläche der Öffentlichkeit. Sinnbildlich für diesen Hochmut steht Erdoğan höchstpersönlich, der auf die Frage eines Journalisten, ob er während der längsten Periode der fast totalen Ausgangssperre im gesamten Lande (Mai 2021) in Istanbul bleiben werde, süffisant und mit einem Lächeln auf den Lippen antwortete: „Ich habe mich noch nicht endgültig entschlossen, ich werde jedenfalls hier in der Gegend sein. Im schlimmsten Fall bin ich in der Türkei.“ Im schlimmsten Fall dazu verdammt, in der krisengebeutelten Türkei inmitten einer rasenden Pandemie zwischen Not und Tod eingesperrt und ohne jegliche Perspektive zu sein – eine Realität für Viele, einen Witz wert für den Präsidenten des Landes. Aber gehen wir vom Großen ins Kleine. Das Ausmaß und die Ungerechtigkeit des Totentanzes der Macht auf das Land zeigt sich nur auf dem Hintergrund der Lebensrealität, zu dem der Großteil der Bevölkerung verdammt wurde.
Wie ich schon in „Virus als Katalysator“ hervorgehoben habe, reagierte der Staat sehr spät und sehr inkonsequent auf die Pandemie. Er begnügte sich mit ideologischer Hybris, wohlgemeinten Ratschlägen und der Abwälzung der Verantwortung auf Individuen aus Angst vor wirtschaftlichem Schaden einerseits, weiteren Legitimationseinbrüchen durch natürlich kaum staatlich aufgefangene Schließungen und andere Maßnahmen andererseits. Wie überall sonst auch auf der Welt, wo dieses inkonsequente Vorgehen zwecks sehr kurzfristiger Interessen statt einer konsequenten Eindämmungsstrategie präferiert wurde, hatte dies katastrophale Folgen für die Bevölkerungsmehrheit: Sie führte zu teils extrem hohen Reproduktionszahlen des Virus (bis zu 16 in Istanbul im April 2020; sprich, eine infizierte Person steckte rechnerisch 16 weitere Personen an), 2021 auch zu extrem hohen Inzidenzzahlen von über 900 auf 100.000 Personen (beispielsweise in Istanbul und Çanakkale, 10.-16. April 2021), zu türkeiweiten PCR-Testpositivraten von 10-20% und zu den zuvor angeführten Zahlen betreffs Gesamtinfektionen und Todesfällen. Weitergehende Ausgangssperren erfolgten nicht präventiv, sondern wortwörtlich in letzter Sekunde, um das vollständige Entgleiten der Pandemie zu verhindern, etwa in Situationen, in denen die Krankenhäuser in Großstädten wie Izmir, Istanbul und Ankara fast vollständig ausgelastet waren und zu kollabieren drohten (so im April und November 2020 und dann nochmal im April/Mai 2021).
Die erdrückende Last einer außer Rand und Band geratenen Pandemie machte sich auch in den Reaktionen des Regimes bemerkbar: Erdoğan klang fast panisch, als er im April 2021 feststellte, dass Europa schon zu Öffnungen übergehe – während sich die Infektionslage in der Türkei immer weiter zuspitze. Er erwarte heftige Folgen, wenn nichts unternommen würde (er dachte dabei natürlich ausschließlich an den Tourismus). Auch der Gesundheitsminister wusste entgegen seiner durchgehend relativierenden Herangehensweise sehr wohl um die prekäre Situation in den Krankenhäusern. Er verhängte daher schon Ende Oktober 2020 ein Kündigungsverbot für Werktätige im Gesundheitssektor. Auch zum Zeitpunkt, als es zu Ausgangssperren kam, lag die Priorität auf der Wahrung kapitalistischer Profite vor dem gesundheitlichen Interesse der Bevölkerung und insbesondere der Arbeiter*innen: Während dem „totalen Lockdown“ im Mai 2021 – über Wochen galt eine absolute Ausgangssperre im gesamten Land mit wenigen Ausnahmen – mussten immer noch 61% aller Arbeiter*innen normal weiter arbeiten, das heißt sich dem Infektionsrisiko aussetzen. Nur 17% aller Arbeiter*innen profitierten vollumfänglich von den Ausgangssperren, sprich ersparten sich den Arbeitsweg und den Aufenthalt am Arbeitsort – und damit die Infektionsgefahr. Was es heißt, inmitten einer Pandemie weiter arbeiten zu müssen, das zeigt ein Bericht der linken Metallarbeiter*innengewerkschaft Birleşik Metal-İş: Allein im Zeitraum zwischen März und November 2020 infizierten sich 7,3% der Arbeiter*innen in Betrieben, in denen Birleşik Metal-İş organisiert ist, offiziell mit dem Coronavirus. Einem Bericht der Gewerkschaft zufolge gab es zum Veröffentlichungszeitpunkt desselben in 86,75% der Betriebe, in denen Birleşik Metal-İş organisiert ist, aktive Coronavirus-Infektionsfälle.
Wie anderorts auch intervenierte der türkische Staat gegen die von Corona ausgelöste Wirtschaftskrise. Ein Großteil der wirtschaftlichen Stützungshilfen gingen dabei an das Großkapital (Steuererleichterungen, Lohnnebenkostenhilfen, billige Kredite, Devisenverkäufe der Zentralbank zur Stabilisierung der Lira), so gut wie nichts an den restlichen Großteil der Bevölkerung. Die Ausmaße lassen sich mittlerweile etwas besser quantifizierend vergleichen. Nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IMF) vergab die Türkei während der Pandemie (bzw. im Zeitraum März 2020 bis März 2021) Hilfen in Form von zusätzlichen unmittelbaren Ausgaben, Einkommensstützen und Steuernachlässen und Ähnlichem in Höhe von nur 1,9%/BIP. Sie hat damit vor Mexiko und einigen wenigen armen Ländern wie Nigeria, Myanmar und Bangladesch fast am wenigsten unter den vom IMF untersuchten Ländern für die Breite der Bevölkerung in der Pandemie getan (relativ zum BIP betrachtet). [2] Zum Vergleich: Die durchschnittlichen zusätzlichen unmittelbaren Ausgaben der reichen Länder betrug 16,42% ihres jeweiligen BIP, die der Länder mit mittlerem Einkommen (worunter auch die Türkei fällt) 4,0% und die der armen Länder 1,6%. Demgegenüber erreichten die indirekten Ausgaben (Kredite, Schulden und Garantien) der Türkei mit 9,4%/BIP fast das Niveau der reichen Länder (durchschnittlich 11,3%). Und auch nur deshalb lagen die gesamten Ausgaben (direkte + indirekte) der Türkei im Rahmen der Pandemie mit etwa 11,3%/BIP bedeutend höher als der Durchschnitt der Länder mit mittlerem Einkommen (durchschnittlich 6,5%). In keinem anderen der vom IMF untersuchten Länder machten daher die direkten Ausgaben und Einkommensstützen mit nur 11% aller Hilfen während der Pandemie 2020 einen so kleinen Anteil aus wie in der Türkei. Daher hatte der Großteil der Bevölkerung und darin insbesondere die Werktätigen in der Türkei nicht nur unter dem katastrophalen Pandemiemanagement des Regimes zu leiden, sondern wurde zugleich heftig gebeutelt von der durch die Pandemie verschärften Wirtschaftskrise.
Und die Wirtschaftskrise war und ist für die unteren und mittleren Klassen ziemlich heftig. Wer der Skylla der Infektion entkam, den verschlang die Charybdis der Arbeitslosigkeit und der Armut.
Zwar verzeichneten die Daten des TÜIK durchgehend eine immer weiter sinkende (!) Arbeitslosigkeitsrate. Das lag aber hauptsächlich daran, dass Hunderttausende Menschen aus Beschäftigungsverhältnissen flogen und als dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehend klassifiziert oder auf „unbezahlten Urlaub“ gesetzt wurden, so dass parallel zur „sinkenden“ Arbeitslosenquote die Erwerbsquote (Anteil der Erwerbspersonen und der Arbeitslosen, die prinzipiell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen) laufend sank. So flogen beispielsweise über 1,5 Millionen Menschen bis Februar 2021 aus der Erwerbstätigenbevölkerung heraus. Oder es wurden während der Pandemie trotz Entlassungsverbotes über 175.000 Arbeiter*innen mittels einer als Ausnahme vom Entlassungsverbot weiterhin gültigen und prompt weitflächig missbrauchten Bestimmung des Arbeitsgesetzes namens Kod 29 (wegen „moralischen Fehlverhaltens“ oder ähnlichem) entlassen, was einer Zunahme der Entlassungen wegen jener Bestimmung um 70% entsprach. Schon länger besteht breite Einigkeit darüber, dass die Arbeitslosigkeitszahlen des TÜIK nicht die Realität abbilden, auch unter Mainstream-Ökonom*innen. Während beispielsweise das TÜIK im Januar 2021 die Arbeitslosenquote mit 12,7% angab, berechnete die linke Gewerkschaftskonföderation DISK die realitätsgerechtere breitere Arbeitslosigkeitsquote auf etwa 27%. In diesem Fall wurde dem TÜIK die Diskrepanz zwischen ihren Zahlen und der Realität zu groß: Sie passte ihre Zahlen im März 2021 an und veröffentlicht seitdem auch eine sogenannte „Inaktivenquote“ (Arbeitslose + vorübergehend Unterbeschäftigte + potenziell Arbeitsfähige). Diese entspricht in etwa den Angaben der DISK zur breiteren Arbeitslosigkeitsquote und ist dementsprechend viel höher (bisher durchgehend zwischen 20-30% im Jahr 2021) als die offizielle Arbeitslosigkeitsquote. Noch schlimmer ist die Situation der Jugendlichen (bzw. der etwa 18-25/30-Jährigen): Liegt die offizielle Jugendarbeitslosigkeitsquote schon bei 25%, geht sogar eine Untersuchung der Universität der Union der Kammern und Börsen der Türkei (Türkiye Odalar ve Borsalar Birliği, TOBB) in Ankara davon aus, dass sie real bei 38,5% anzusetzen ist. Fast Dreiviertel aller arbeitslosen 18-22-Jährigen stimmen zu, dass sie einen Job annehmen würden, auch wenn die Entlohnung nur aus Bezahlung des Fahrtweges und Verpflegung bestünde, so das Ergebnis einer Untersuchung, an der auch der Arbeitgeberverband (Türkiye İşveren Sendikaları Konfederasyonu, TİSK) mitarbeitete. Fast alle (86%) Jugendlichen sind verschuldet und wollen ins Ausland (76%). Laut einer OECD-Untersuchung von 2021 fürchten 70% aller Jugendlichen in der Türkei um die eigene finanzielle Situation und die ihrer Familien, 78% sind der Meinung, dass die Regierung hätte mehr tun können während der Pandemie. Trotz dieser also massiven, teils sogar nach geltendem Recht semi-/illegalen Zunahme von Unterbeschäftigung und Erwerbslosigkeit und, wie gleich gezeigt wird, der damit einhergehenden weitflächigen Verarmung, hatte der Staat den Werktätigen mit 39 TL Kurzarbeitsgeld pro Tag (derzeit umgerechnet etwas weniger als 4 €) kaum etwas zu bieten. Im Gegenteil: Er förderte sogar eine sehr kurzfristige und rechtlose Beschäftigung von Jugendlichen und Menschen im Alter von 50 Jahren aufwärts.
Als geradezu notwendige Konsequenz aus dem Herunterfahren der Wirtschaft, einer erneut induzierten Wirtschaftskrise und fehlender Unterstützung folgte eine grassierende Armut.
Je nach Umfrage zwischen 27% und 38% der Bevölkerung haben mittlerweile Schwierigkeiten damit, für Grundbedürfnisse wie Wohnung und Lebensmittel aufzukommen. Mindestens 30% (frühere Umfragen: 50%) haben Einkommenseinbußen zu verzeichnen und die Einkommensungleichheit erreicht mittlerweile fast das Niveau von Brasilien, Mexiko und Südafrika. Schon die offiziellen Inflationszahlen für Lebensmittel zeigen, dass deren Preiserhöhung beträchtlich über der durchschnittlichen Inflationsrate liegt (im Durchschnitt 20% vs. 12,28% im Jahr 2020); alternative Berechnungen gehen sogar von bis zu 30-50% Teuerung der Grundnahrungsgüter aus. Arbeitslosigkeit und Teuerung sind so grassierend und heftig geworden, dass sogar das Großkapital davor mahnt, dass sie „unsere Zukunft gefährden“ – sprich, die stabile Zustimmung zur kapitalistischen Produktionsweise in Frage stellen können. Der ehemalige Chef des TÜIK, der mittlerweile in einer kleinen Oppositionspartei ehemaliger AKP’ler organisiert ist, berichtet von kreativen Methoden in den Inflationsberechnungen des TÜIK, um die Zahlen so niedrig wie möglich zu halten. Aber selbst nach Zahlen des TÜIK litten 27,4% der Bevölkerung 2020 unter „ernstem materiellen Mangel“. Nach Definition der Weltbank (WB) galten 12,2% der Bevölkerung als arm – im Gegensatz zum Jahre 2018, dem diesbezüglich bisher besten Jahr der Türkei, in dem die Rate bei 8,5% lag. Als arm in einem Land wie der Türkei gelten den Berechnungen der WB zufolge Personen, die mit weniger als 5,5 $ (38 TL, auf das Jahr 2020 gerechnet) pro Tag über die Runden kommen. Ein Schelm, wer den Grund der Festsetzung des Kurzarbeitsgeldes bei extrem niedrigen 39 TL darin sucht, den Anstieg der von der WB sowieso schon sehr niedrig angesetzten Schwelle zur „Armut“ gerade noch so etwas zu umgehen. Über 40% der Bevölkerung ist – zumeist in Form von privaten Konsumkrediten – an Banken verschuldet; ihre Schuldlast stieg 2020 um 36%. Und das sind nur die „offiziellen“ Schulden, also solche, die institutionell stattfinden und daher objektiviert erfasst werden. Laut einer Analyse der Stadtverwaltung Istanbuls führen mittlerweile 71% der Spätis/Kioske Schuldenhefte, wobei die Gesamtschuldlast der Kund*innen während der Pandemie um 54,8% und die Zahl der Kund*innen, die auf Pump beim Kiosk kaufen, um 32,2% gestiegen ist. Die drei Hauptgüter, die auf Pump gekauft wurden, sind in absteigender Reihenfolge Brot, Eier und Zigaretten. Die Kleinladenbesitzer*innen sind aber mittlerweile selbst zu 65% verschuldet und verlangen immer mehr Kreditkartenkäufe statt Käufe auf Pump. Zudem können viele nicht von den Coronahilfen profitieren und halten sie für ungenügend.
Die Selbstvergöttlichung der Macht
Der Hunger und die Armut brechen sich mittlerweile teils mit Gewalt und gegen das Bewusstsein Bahn. Der Vorsitzende des Minibusfahrervereins in Malatya [3] und eine arme ältere Frau in Elazığ, beide AKP-Anhänger*innen beziehungsweise Mitglieder der AKP, flehten unabhängig voneinander ganz impulsiv Erdoğan bei dessen Besuch in ihrer jeweiligen Stadt an: Wir hungern, wir haben kein Brot mehr im Haus! Und ruderten später – da setzte das politische Bewusstsein wieder ein – zurück und bezeugten mehrmals demütig ihren Respekt vor Erdoğan. Aber die Hybris, der Hohn auf alle zur Armut willentlich und wissentlich Verdonnerten des Landes, ist dort grenzenlos, wo die Apotheose der Macht regiert. Erdoğan reagierte auf das Flehen des Minibusfahrers mit einem lapidaren: „Das erscheint mir jetzt ein bisschen übertrieben. Hier, gönn dir einen Schwarztee zur Vergnügung!“ – und reichte ihm ein Paket Schwarztee. Einige Monate später, im Juni 2021, kam Erdoğan nochmals auf den Hunger zurück und meinte ganz ohne Schamesröte zur Opposition: „Wie bitte, das Volk ist hungrig? Bitte, dann sättigt es doch.“ Ähnlich Emine Erdoğan, die Ehefrau des Präsidenten, die allen Ernstes in einem Werbevideo lächelnd und wohlmeinend die Bevölkerung dazu aufrief „die Portionen kleiner“ zu halten (um Abfälle zu reduzieren) – wobei sie natürlich selber bekannt ist für ihnen ostentativen Luxuskonsum. Und nicht zuletzt: Als fast die Hälfte der Provinzen der Türkei Ende Juli-Anfang August 2021 mit den verheerendsten Waldbränden der letzten Jahrzehnte zu kämpfen hatten (dazu später mehr), ließ es sich Erdoğan nicht nehmen, mit einem riesigen Konvoi durch die Provinzhauptstadt einer der am heftigsten betroffenen Provinzen, Marmaris, zu fahren, dabei den gesamten Verkehr inklusive der Feuerwehr lahmzulegen und Tee vom Bus aus mit herrschaftlichen Grüßen an Umstehende zu verteilen. Suetons Kaiser Nero sang wenigstens nur Gesänge auf das brennende Rom, Erdoğan hingegen verhöhnt noch zusätzlich das Land, die Natur und die Bevölkerung.
Ein Kleinladenbesitzer in Denizli, der vom Gouverneur während einer PR-mäßig inszenierten Inspektionstour zur Umsetzung der Corona-Maßnahmen gefragt wurde, warum er keine Maske trage, antwortete: „Die Maske ist mein allerletztes Problem. Ich mache keine 15 Lira am Tag, kann Mieten und Strafen nicht mehr zahlen. Ich möchte verrecken.“ Der Hohn der Macht: Derselbe Gouverneur ließ während derselben Inspektionstour einen Dönerimbiss schließen, weil die Arbeiter*innen ohne Handschuhe arbeiteten (was im Übrigen keine Corona-Auflage war) und die Maske unter der Nase trugen. Erst nachdem sein Vorgehen öffentlich skandalisiert wurde, ruderte er zurück. Dabei schlägt sich die Materialität der um sich greifenden Armut und Depravation mitunter auch wider Willen im Handeln des Regimes nieder: Devlet Bahçeli, Chef der MHP und Hauptbündnispartner der AKP, rief eine Kampagne ins Leben, wonach Brote an Gabenzäune für Arme aufgehängt werden sollten für Bedürftige – wenige Tage später meinte Erdoğan, Brotlosigkeit gäbe es in der Türkei nicht. Wie eine Furie wütete Bahçeli dann allerdings, als seine Aktion ganz zurecht als unwillkürliches Eingeständnis der Existenz weitflächiger Armut seitens eines der wichtigsten Akteure des Regimes interpretiert und skandalisiert wurde.
Hohn und Verachtung für das Volk hören hier nicht auf. Während fast das gesamte Land im Mai 2021 außer für Arbeit und das Notwendigste in die eigenen vier Wände eingesperrt war, galt Narrenfreiheit für Tourist*innen. Geradezu auf Knien erbettelte sich das Regime von den unterschiedlichen Ländern Tourist*innenströme, um die eigenen einbrechenden Devisenreserven noch zu retten. Sogar die Impfkampagne sollte für den Tourismus passend zugeschnitten sein: Der Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu gab Anfang Mai durch, dass sie jede Person bis Ende Mai impfen würden, mit der ein Tourist in Kontakt treten könnte, also Werktätige der Tourismusbranche. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Impfkampagne im Land noch nicht einmal wirklich angefangen. Ein dazugehöriges staatliches Werbevideo verbreitete eine Aura von Sommer, Sonne, guter Laune und lauter wuseligen werktätigen Türk*innen voller Lebensfreude und Gastfreundschaft, die Masken mit der Aufschrift „Enjoy, I’m vaccinated“ trugen. Ein eindrückliches Foto des AFP-Korrespondenten Bülent Kılıç, der wenig später am 26. Juni 2021 beim Istanbul Pride von durchdrehenden Polizisten fast umgebracht wurde, brachte hingegen das reale Grauen zum Ausdruck: Eine finster und unglücklich in die Ferne blickende türkische Putzkraft, neben ihr lachende Tourist*innen in Saus und Braus, inmitten des ansonsten verlassenen historischen Altstadtteils Istanbuls, Fatih. „Turkey Unlimited. Now available without Turks“, brachte es einer der zynischen Kommentare auf Social Media auf den Punkt.
Aber die wahre Apotheose der Macht auf dem Rücken und in Erniedrigung des Volkes, die absolute Indifferenz gegen alles Recht und alle Norm, sogar der vom Regime selbst gesetzten, das reine Regime des Dezisionismus, stellt alles andere in den Schatten.
Denn für das Regime galten keine Ausgangsbeschränkungen und keine Corona-Maßnahmen. Seit Oktober 2020 – während die Türkei dabei war, einen der bis dahin schlimmsten Gipfel der Pandemie zu durchleben – hielt die AKP unter Führung von Erdoğan dutzende kleinere und größere Provinzkongresse in geschlossenen Räumen ab und zwar mit Tausenden (!) von Teilnehmenden, gegen alles Recht und gegen alle Maßnahmen und in totaler Ignoranz der grassierenden Pandemie. Dabei wurde der Hochmut noch schamlos zur Schau gestellt. Erdoğan hob etwa voller Freude (!) auf dem Kongress seiner Partei in der am Schwarzmeer gelegenen Stadt Rize am 15. Februar 2021 hervor: „Wir halten Kongresse ab während einer Pandemie und der Kongresssalon in Rize ist zum Bersten voll!“ Und alle klatschen und johlen. Natürlich sprechen einige Indizien und der gesunde Menschenverstand dafür, dass diese Kongresse die Pandemie beschleunigt haben; abschließend lässt sich das jedoch nicht feststellen, da nicht einmal die Mitglieder des wissenschaftlichen Pandemiebeirats des Gesundheitsministers genauere Kenntnis über Ort und Grund von Infektionen besitzen. Das Einzige, was der Gesundheitsminister zur Gleichgültigkeit gegenüber allen Corona-Regeln seitens seiner Partei zu sagen hatte, war: „Ich finde es jetzt nicht richtig, deshalb [wegen den Kongressen, A.K.] eine Geschichte über Privilegien zu spinnen.“ Der Chef der Rundfunk- und Fernsehbehörde (RTÜK) gab eine Memo an alle Fernsehsender durch, dass sie nicht die Kongresse zeigen sollen, sondern leere Straßen.
Damit nicht genug. So wurden inmitten des „totalen“ Lockdowns mehrere öffentliche Begräbniszeremonien von prominenten AKP-Mitgliedern oder Staatsbürokraten abgehalten, obwohl diese verboten waren, erneut mit Hunderten bis Tausenden Teilnehmenden, darunter auch Ministern, dem Präsidenten selber, hohen Bürokrat*innen und so weiter. Die Krönung in der Missachtung der Corona-Maßnahmen leistete sich erneut Erdoğan: Am selben Tag, an dem Erdoğan weitgehende Beschränkungen des Lebens wegen der Pandemie verkündete (dem 13. April 2021, zu Beginn des Fastenmonats Ramadan), darunter ein Verbot gemeinschaftlichen Fastenbrechens, hielt er selbst ein größeres gemeinschaftliches Fastenbrechen in seinem Präsidentenpalast ab. Deutlicher hätte man nicht vorführen können, dass Gesetze nur für das zertretene Volk, nicht aber für die Damen und Herren der Macht gelten. Vom Regime organisierte Massenveranstaltungen und Demonstrationen wie beispielsweise ein Gebet mit tausenden Teilnehmenden vor der Hagia Sophia zum Zuckerfest oder pro-Jerusalem Demonstrationen und Autokonvois waren inmitten des „totalen“ Lockdowns im Mai 2021 erlaubt. Die Demos der HDP oder von Feminist*innen etwa anlässlich des Austritts aus der Istanbul Konvention oder der Istanbul Pride waren es indes nicht. Verhaftungen auf der Istanbul Pride wurden mit dem Verweis auf Corona-Schutzmaßnahmen vollzogen – selbstverständlich von einem Polizeioffizier veranlasst, der selbst ohne Maske durch die Gegend schrie und verhaften ließ ganz nach seinem persönlichen gusto. Während Gastronomie und Kleinhandel wegen den Auflagen und mangelnder Unterstützung regelrecht abstarben – laut Schätzungen sind 20-25% der Gastronomiebetriebe Bankrott gegangen –, feierten AKP’ler ausgelassen in geschlossenen Räumen, mit Musik und Tanz; das tat auch und erneut Erdoğan in seinem Palast (ohne Tanz, dafür mit vielen Gästen und Musik). Auf Gerüchte im Dezember 2020, wonach AKP-Mitglieder unter der Hand priorisiert geimpft wurden, wusste der Gesundheitsminister nur zu sagen: „Sowas würden wir nicht begrüßen“, was die Sache nicht besser machte. Genau so wenig wie der Umstand, dass Erdoğan Anfang Juni 2021 ganz unverblümt im Fernsehen herausplapperte, dass er schon die 3. Impfung und zwar vermutlich mit dem sehr effizienten BioNTech/Pfizer-Vakzin bekommen hatte, während damals türkeiweit erst etwa 20% der Bevölkerung eine Erstimpfung erhalten und davon nur etwa 15% vollständig geimpft waren, dazu noch weitestgehend mit dem weitaus weniger effektiven Sinovac-Vakzin.
Nicht zuletzt noch die Zurschaustellung maßlosen Reichtums und der Verschwendung, deren Ursprünge wie Auswüchse niemandem mehr als legitim erscheinen, dazu noch inmitten der Pandemie. So wurde bekannt, dass zahlreiche wichtige staatliche Funktionsträger sowie Berater von Erdoğan gleich mehrere Gehälter beziehen und Unsummen an Geld verdienen. Der Skandal um Kürşat Ayvatoğlu, einem aufstrebenden Jüngling im Hauptquartier der AKP, zeigt nur die Spitze des Eisbergs: Ayvatoğlu war beim Koksen in einer Luxuskarosserie erwischt worden und wurde ursprünglich laufengelassen, nachdem er sich auf der Polizeiwache mit: „das war nur Puderzucker, wir haben das als Witz aufgezogen“ verteidigte. Im weiteren Verlauf des Skandals tauchten zahlreiche Bilder von ihm auf, in denen er mit unendlich viel Luxus und einflussreichen Leuten an seiner Seite posiert. Er ist nur einer von vielen zutiefst opportunistischen Glücksrittern, die durch Anbiederung an die Macht zu Neureichen wurden, sich gerne mit Mächtigen ablichten lassen und im Abglanz der Macht baden, sowie ihren verschwenderischen Luxus ganz offen in Social Media-Profilen zur Schau stellen. Persönlichkeiten wie Ayvatoğlu, der sich laut Eigenaussage aus purem Machtkalkül bis ins AKP-Hauptquartier hocharbeitete, und die geldverschlingenden Bürokraten stehen nicht nur im extremen Widerspruch zum nach Außen kommunizierten konservativ-islamischen Ethikverständnis der AKP; die ostentative Verschwendungssucht, die darin schamlos expliziert wird, ist ein Hohn auf Alle, die unter Pandemie und Pandemiemanagement erdrückt werden.
Hochmut kommt vor dem Fall. Die hauptsächlich im Sinne von Herrschaft und Kapital betriebene Pandemiepolitik sowie die öffentlich dargestellte Selbstapotheose der Macht hat zusammen mit der sozialen Depravation ganz wesentlich zu einem massiven Legitimationseinbruch geführt.
Eine Mehrheit der Befragten in Meinungsumfragen bevorzugt mittlerweile das Parlamentssystem gegenüber dem „Präsidialsystem“ von Erdoğans Gnaden; glaubt, dass sich die Wirtschaft wegen schlechtem Management in einer Krise/in einem miserablen Zustand befindet; glaubt zu 80% nicht mehr den offiziellen Inflationszahlen; vertraut laut einer von der AKP selbst aufgegebenen Umfrage nicht mehr in das Pandemiemanagement der Regierung; hat das Vertrauen in das Justizsystem fast vollständig verloren; verurteilt sehr eindeutig die AKP-Kongresse während der Pandemie (zu 79%) sowie das Beziehen mehrerer Gehälter von Bürokrat*innen und Berater*innen (zu 70%); befindet, dass sich das Land und die Wirtschaft in eine schlechte Richtung entwickeln und klagt hauptsächlich über wirtschaftliche Probleme und die Coronakrise. Immer mehr Wähler*innen von AKP und MHP springen entweder direkt ab oder sind sich unsicher über ihre Parteipräferenz; der Anteil der Befragten, die keine klaren Wahlpräferenzen artikulieren (Protestwähler*innen, Unsichere, keine Antwort), liegt mittlerweile regelmäßig bei kräftigen 20%. Nicht zuletzt sinkt die Zustimmung zu Erdoğan als Präsident und befindet sich auf einem historischen Tief und fast alle Wahlumfrageinstitute berichten von Ergebnissen, wonach die Regierungskoalition bei einer anstehenden Wahl nicht mehr als Siegerin hervorgehen würde – darunter sogar AKP-nahe Wahlumfrageinstitute. AKP-intern werden mittlerweile Ängste geäußert, dass bei den nächsten Wahlen Schluss sein könnte. Nur: Ein Legitimationseinbruch allein genügt nicht, wenn nicht eine überzeugende Alternative da ist. Solange verbleibt der Dissens atomisiert und perspektivlos, jederzeit bereit dazu, zu verkümmern oder doch beim Bestehenden zu bleiben. Ich greife dieses Thema und das Problem der Opposition am Ende des Artikels noch einmal auf. Jetzt erst mal zur Wirtschaftskrise.
Die ewige Wiederkunft der gleichen Wirtschaftskrise
Spätestens seit 2013 hat sich ein Muster wirtschaftlicher Krisenanfälligkeit in der Türkei eingestellt, das sich alle paar Monate oder Jahre wiederholt und seit 2018 besonders verschärft. Zeitgleich entwickelten sich die Debatten über primäre und sekundäre Ursachen dieser Krise weiter und die Fragen danach, was sich daraus für die Kräfteverhältnisse und Entwicklungsperspektiven innerhalb der türkischen Gesellschaftsformation ableiten lässt.
Prinzipiell befindet sich der semi-periphere Neoliberalismus in der Türkei wegen seiner Außenabhängigkeit seit 2013 in einer strukturellen Krise. Das heißt, dass die türkische Wirtschaft sehr wesentlich auf den Import von Zwischen- und Kapitalgütern für die (Export-)Produktion sowie von finanziellem Kapital für die Finanzierung von Investitionen im Land sowie der Tilgung des Außenhandelsdefizits angewiesen ist. Ihr fehlt dagegen weitestgehend eine eigenständige Kapitalgüter- beziehungsweise technologieintensive Produktion, die ihre Außenabhängigkeit reduzieren beziehungsweise das Außenhandelsdefizit mindern könnte. Die derzeitige Lage begründet sich schlicht darauf, dass die AKP das schon vor ihr entstandene semi-periphere Modell des Neoliberalismus geerbt und vollständig verankert hat. Und es liegt zugleich daran, dass die AKP den sich ihr bietenden Spielraum in der Wirtschaftspolitik nicht im Sinne eines produktiven Updates der türkischen Wirtschaft, sondern klientelkapitalistisch und politisch motiviert durch die Vergabe von Unmengen an Bauaufträgen in den Beton gesetzt hat (das heißt, in Sektoren gelenkt hat, die kein produktives Upgrade der Industrie möglich machen und wenig bis keine Devisen generieren). Quantitative Easing und Anleihekäufe der US-amerikanischen Zentralbank (Fed) sorgten zwar nach 2007-08 weiterhin dafür, dass der Zufluss von ausländischem finanziellen Kapital in die Türkei nicht abnahm. Als die Fed 2013 jedoch ankündigte, diese Programme zurückzufahren, wurden die Kapitalflüsse volatiler und der Wert der Lira gegen dem US-Dollar und dem Euro fing seitdem immer an zu fallen, wenn nicht besonders günstige internationale Umstände den Kapitalzufluss wieder ankurbelten. Da die seinerzeit zu sehr günstigen Konditionen aufgenommenen Auslandsschulden insbesondere des Privatsektors teils erheblich waren, nahm damit die Auslandsverschuldung und wegen der Importabhängigkeit der türkischen Industrie auch die Inflation permanent zu. Erdoğans zunehmend unorthodox neoliberales und re-politisiertes Wirtschaftsmanagement, das eigenwillige außenpolitische Agieren der türkischen Regierung sowie das Ersetzen konstitutioneller und institutioneller Mechanismen durch willkürliche, kamen erschwerend hinzu. So führte ein diplomatischer Konflikt mit den USA im Sommer 2018 zu einem schweren Währungsschock. Auslandsschulden und Importkosten explodierten, Rückzahlungsprobleme, Schuldenumstrukturierungen und Einbruch des Konsums waren die Folgen. Es folgten massive Zinserhöhungen der türkischen Zentralbank (TCMB) bis zum Peak des Leitzinses von 25,50% im September 2018, die zwar die Attraktivität der türkischen Wirtschaft für ausländisches Kapital und den Wert der TL aufrechterhalten sollten, aber wegen der Höhe der Zinsen zusätzlich kontraktiv auf den Kredit- wie allgemein den Binnenmarkt wirkten. Die Währungskrise entwickelte sich zu einer schweren Wirtschaftskrise.
In Folge intervenierte Erdoğan noch direkter in die Wirtschaftspolitik. Zum einen setzte er schon kurz vor jener Währungskrise seinen Schwiegersohn Berat Albayrak als Finanz- und Wirtschaftsminister ein, der eine stärker binnenmarktorientierte Politik verfolgen sollte und hierfür vor leichten Kapitalverkehrskontrollen, Handelsbeschränkungen und – im Gegensatz zum damaligen Zentralbankchef – einer von staatlichen Banken angeführten Kreditexpansion nicht zurückschreckte. Zum anderen ersetzte Erdoğan prompt den unter hohem politischem Druck dennoch mehr oder minder nach orthodox-neoliberalen Regeln vorgehenden Zentralbankchef Murat Çetinkaya durch Murat Uysal, der seinem Namen volle Ehre angedeihen ließ (Uysal heißt fügsam, willfährig auf Türkisch). Er senkte die Zinsen wider die orthodoxen-neoliberalen Lehren schrittweise bis auf etwa 9% im Sommer 2020, das heißt weit unter die durchschnittliche Inflationsrate von 15,18% (2019) beziehungsweise 12,28% (2020) und somit auf ein reales Negativzinsniveau. [4] Beides und beide führten zu einer stetigen Erosion des Wertes der TL und zum Versiegen insbesondere der kurzfristigen Kapitalzuflüsse, sodass mitten in der Corona-Pandemie erneut eine schwere Währungskrise einsetzte und die TL am meisten unter den Währungen der Schwellenländer abwertete. Milliarden an Dollar-Reserven der TCMB wurden verschleudert, um den Wert der TL ohne Zinshebungen zu verteidigen: Laut Aussagen von Erdoğan selbst insgesamt immense 165 Milliarden $ zwischen 2019 und 2020, laut Kritiker*innen allein grob 128 Milliarden $ davon während der Coronakrise 2020 und dem erneuten Währungsschock im Sommer 2020. Umsonst alle Bemühungen der Sterblichen: Die Nettonegativreserven der TCMB abzüglich der Swaps machten die Situation noch prekärer (Für alle, die es genauer wissen wollen: Die Devisenreserven der TCMB minus Schulden und Swaps in ausländischer Währung: -54,1 Mrd. $, Ende November 2020; immer noch -45,57 Mrd. $ Ende Juni 2021). [5] Hinzu kamen erneut außenpolitische Spannungen insbesondere mit den USA. Zusätzlich wurden eine Kreditschwemme staatlicherseits hauptsächlich über staatliche Banken forciert – das gesamte Kreditvolumen wuchs um 40%! – und die schon erwähnten Konjunkturpakete verkündet, um die Wirtschaft zu stützen. Die Kredite gingen hauptsächlich an Privathaushalte, was natürlich die Binnennachfrage ankurbelte. Insgesamt 7 Millionen Individuen bezogen Bedarfskredite (max. 10.000 TL, also etwas weniger als 1.000 €), öffentliche Banken reichten Kredite an 180.000 kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie an 1,1 Millionen Ladenbesitzer*innen. Nach -9,9%/BIP im 2. Quartal 2021 gegenüber dem Vorjahreszeitraum wuchs die türkische Wirtschaft kräftige 6,7%/BIP im 3. Quartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die Komposition des Wirtschaftswachstums indes war bezeichnend für den Charakter desselben und relativierte dessen Tragfähigkeit: der inländische Konsum wuchs um 9%, die Industrie immerhin um 8%, aber das Finanz- und Versicherungswesen um ganze 41,1%. Von den niedrigen Zinsen hatten ja nicht nur die KMU und die privaten Konsument*innen profitiert, sondern natürlich auch die großen Privatbanken, die billig an TL rankamen, um diese teurer weiter zu geben oder zu handeln (worüber sich wiederum die KMU, die weiterhin auch auf Privatbanken angewiesen blieben, lautstark beschwerten).
Schrille Töne folgten: So sprach Erdoğan von einem „wirtschaftlichen Befreiungskrieg“ wie im späten Osmanischen Reich; der Finanz- und Wirtschaftsminister Albayrak deklarierte öffentlich, dass ihm der Wert des Dollars egal sei. Der willfährige Zentralbankchef erklärte Ende Oktober 2020 ebenfalls, dass die TCMB kein Ziel bezüglich des Werts der TL verfolge – was zwar strenggenommen dem Mandat der Zentralbank entspricht (keine Devisenfokussierung, sondern Preis- und ergo Inflationsfokussierung), aber mit den Zusätzen des Zentralbankchefs: „der Wert der Lira ist extrem niedrig“ und „die Wertlosigkeit der TL ist ein Risiko für die Preisstabilität“, ein sehr offen kommuniziertes Eingeständnis der prekären Situation und der Handlungsohnmacht der TCMB darstellte. Verständlicherweise kollabierte der Wert der TL daraufhin natürlich nochmals. [6] Allein in jener Woche verschleuderte die TCMB angeblich an die eine Milliarde Dollar an Devisenreserven, um den Wert der TL zu halten – völlig umsonst. Von etwa 6 TL pro Dollar Anfang 2020 fiel der Wert der TL auf bis zu 8,5 TL pro Dollar Anfang November 2020. Aber schon im August/September 2020 hatte sich wegen der prekären Situation wieder eine 180°-Kehrtwende angekündigt, die dann sukzessive vollzogen wurde: Auf die massive Kreditexpansion folgte eine massive Kreditkontraktion der Öffentlichen und die Zinsen der TCMB wurden zuerst durch die Hintertür und dann zaghaft auch explizit erhöht, obzwar der Leitzins immer noch unter der Inflationsrate blieb. Gekrönt wurde diese Kehrtwende erneut durch eine Ersetzung des Zentralbankchefs seitens Erdoğans in einer spontanen Aktion vom 6. November 2020. Finanz- und Wirtschaftsminister Berat Albayrak reichte daraufhin seinen Rücktritt ein – per Instagram, wohlgemerkt (und widerlegte damit übrigens linksliberale Fehlvorstellungen, wonach Erdoğans Politik nur mehr „klientelistische Familienpolitik“ sei). Und das Pendel der mittlerweile bekannten wirtschaftspolitischen Taktik der permanenten Kehrtwenden schlug erneut in die entgegengesetzte, orthodox-neoliberale Richtung aus: Der neue Finanzminister Lütfi Elvan wie auch der neue Zentralbankchef Naci Ağbal kündigten in sehr klaren Worten eine neoliberale Geld- und Fiskalpolitik an (hohe Zinsen, Kreditkontraktion, Ausgabenkürzungen). Erdoğan sprach davon, dass „die bittere Pille geschluckt“ werden müsse. Und erneut fand, diesmal schon als Farce der Farce, der x-te zweite Frühling in der Beziehung zwischen AKP und Großkapital statt: Innerhalb kürzester Zeit stieg der TCMB-Leitzins um mehr als 400 Basispunkte gerade noch so ein bisschen über das Inflationsniveau auf 15% an (die Inflation lag im November 2020 bei 14%, daher wurde der Leitzins bis Ende des Jahres auch auf bis zu 17% gehoben, um einen positiven Realzins zu garantieren). Eine Welle an Kapital kam ins Land geflossen, die Lira gewann stetig an Wert, der Hauptverband des Großkapitals, die Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute (Türk Sanayicileri ve İş İnsanları Derneği, TÜSIAD), und große internationale Player wie die Société Générale gratulierten gleich mehrmals euphorisch zur „neuen“ Wirtschaftspolitik. Mehrere Treffen mit Verbänden der KMU wie auch des Großkapitals wurden gehalten und erneut Einigkeit erzielt; ja sogar ein Gremium für die Kontrolle der stark umstrittenen Inflationsberechnungen des TÜIK gegründet, in dem Vertreter des Großkapitals saßen, um das Vertrauen kapitalistischer Akteure in die regulativen Institutionen des Staates weiter zu festigen.
Eigentlich ist das Muster dieser wirtschaftspolitischen Taktik der permanenten Kehrtwenden, „Erdoğans Zigzag’s“, altbekannt und wird seit Jahren praktiziert.
Ist der Druck wegen Kapitalabfluss und Währungsverfall auf Inflation und Zinsen so groß, dass sie binnenmarktorientierte KMU zu stark gefährdet, schlägt das Regime um Erdoğan eine aus der Perspektive neoliberaler Orthodoxie heterodoxe Wirtschaftspolitik der Kreditexpansion, Niedrigzinsen, teils staatlich gestützter Billigdevisen und ähnlicher Maßnahmen ein.
Diese Kehrwende wird dann mit reichlich nationalistisch-antiimperialistischer Rhetorik ideologisch verkleidet, zieht regelmäßig die Kritik des Großkapitals und der linksliberalen Antiautoritären auf sich und führt letztlich oft zu einer Verschärfung der Krisenelemente: Fall der Lira, noch höhere Inflation, daher noch höherer Druck auf die Zinsen, Versiegen der Kapitalflüsse und Verschärfung der innerkapitalistischen Antagonismen. Sobald genug Zeit erkauft wurde, um die binnenmarktorientierten Kapitale und KMU kurzfristig zu retten, und der Druck der internationalen Finanzmärkte, in die die Türkei ja organisch eingebettet ist, zu hoch wird, wird dann erneut eine 180°-Kehrtwende hin zu einer augenscheinlich orthodoxen neoliberalen Wirtschaftspolitik eingeschlagen. Es werden Reformen und Bekenntnisse zum freien Markt, zu makroökonomischer Stabilität, Berechenbarkeit, Transparenz etc. verkündet – bis zur nächsten Krise, in der dann wieder um 180° gewendet wird, und so weiter bis zum Jüngsten Gericht. Dass nicht nur die Großbourgeoisie der Türkei, sondern auch die „internationalen Finanzmärkte“ jedes Mal wieder die eine Seite der 180°-Wende, nämlich die orthodox-neoliberale, voller Glück empfangen wie Kinder ein frisch lackiertes Schaukelpferd, und wider besseren Wissens ignorieren, dass die nächste Kehrtwende wieder kommt, lässt sich vielleicht auch als Symptom des Zustands des globalen Kapitalismus lesen: Hauptsache es funktioniert jetzt, egal was später kommt, denn es gibt ja doch nichts besseres.
Auch dieses Mal zeichnete sich eigentlich recht früh die Vergänglichkeit der orthodox-neoliberalen Kehrtwende ab. Noch wenige Tage nach dem Wechsel in der Wirtschaftspolitik und den verantwortlichen Bürokraten sprach Erdoğan schon davon, dass er am liebsten wieder sehr früh niedrigere Zinsen sehen würde. Hardcoreberater von Erdoğan wie der Ex-Marxist-jetzt-Stiefellecker Cemil Ertem oder die Speerspitzen der Revolverpresse schossen eine Salve nach der anderen auf den neuen Zentralbankchef ab. Was kam, war also schon längst gewusst und zudem mit Fanfaren angekündigt. Amor fati aber lautete das Lebensmotto; und allzu erwartbar war also auch die Wiederkunft der ewig selben Wirtschaftskrise. Konkretes zeichnete sich im März 2021 ab: Keine zwei Monate nach Ankündigung der Errichtung des Kontrollgremiums für die Inflationszahlen wurde dieses sang- und klanglos begraben. Hinter den Kulissen munkelte man, der neue Finanzminister und der neue Zentralbankchef hätten kaum Entscheidungsmacht innerhalb ihrer jeweiligen Bereiche; und ein Reformpaket für die Wirtschaft kam über wohlklingende Worthülsen nicht hinaus. Als sich dann der Zentralbankchef angesichts der hohen Inflationsrate in den USA [7] trotzdem traute, die Zinsen nochmal um 2% auf 19% zu heben und – so heißt es – Untersuchungen anstellte, wie und warum so viele Devisenreserven der TCMB verschleudert wurden, da war dann Schluss mit lustig. Wenige Tage nach dieser Zinsentscheidung, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vom 19. auf den 20. März 2021, wurde der Zentralbankchef erneut per präsidialem Dekret ausgewechselt. Anstatt seiner wurde erneut ein ehemaliger AKP-Parlamentarier eingewechselt, Şahap Kavcıoğlu, der noch einen Monat zuvor im Flaggschiff der Revolverpresse, Yeni Şafak, ganz aggressiv die Meinung vertreten hatte, dass die Zinsen zu senken seien. Und so kam dann, was kommen musste: Kaum öffnete die Istanbuler Börse wieder am 21. März, musste sie gleich zweimal im Laufe des Tages wegen zu großen Kurseinbrüchen schließen. Erneut kam es mit 1400% Zinsen auf TL-Swaps zu einer TL-Klemme im Londoner Devisenmarkt und innerhalb einer einzigen Woche waren fast alle die mühsamen Gewinne der TL gegenüber dem $ von über fünf Monaten zunichte gemacht geworden. Absurderweise senkte der neue Zentralbankchef – vermutlich überrannt von den heftigen Reaktionen der Finanzmärkte – noch nicht einmal die Zinsen und gab sogar mehrmals durch, dass er sich an die orthodox-neoliberalen Spielregeln halten würde. Der Zentralbank-Leitzins steht daher immer noch bei 19%, wobei die Inflationsrate mittlerweile fast ebenso hoch ist und daher starken Druck auf den Leitzins nach oben ausübt, anstatt wie erhofft einen kleinen Spielraum für die Senkung der Zinsen zu liefern. Auch der Finanzminister – der nicht entlassen wurde – beteuerte hilflos die freien Märkte, das liberale Devisenregime und dergleichen. Es nutzte aber alles nichts. Tiefe Enttäuschung sodann, erneut, beim Großkapital: eineinhalb Jahre ökonomischer Reformpakete seien ergebnislos geblieben, ohne Berechenbarkeit sei nichts zu machen, die Türkei verpasse den Anschluss an die Welt wie schon zu Ende der 1970er, so der TÜSIAD.
Zwar ist die Türkei wegen der massiven Kreditexpansion und den niedrigen Zinsen nach China das einzige Land innerhalb der G20, das das Jahr 2020 mit einem wirtschaftlichen Plus abschloss (1,8% BIP-Wachstum in der Türkei für das ganze Jahr). Auch im neuen Jahr wächst die türkische Wirtschaft bislang kräftig weiter (7%/BIP-Wachstum im 1. Quartal 2021 gegenüber dem Vorjahreszeitraum). Aber nicht nur blieben die strukturellen Defizite des türkischen Neoliberalismus wie die finanzielle Außenabhängigkeit und das große Leistungsbilanzdefizit (-5,1%/BIP, 2020) bestehen, welches weiterhin mit ausländischem Kapital finanziert werden muss. Es gesellte sich auch noch ein größeres staatliches Defizit (-3,7%/BIP, 2020) hinzu, das logischerweise zu einer beträchtlichen Erhöhung der einst eigentlich recht niedrigen Staatsverschuldung auf 40%/BIP (2018: 29%, 2019: 31%) führte – wovon mehr als die Hälfte in ausländischer Währung besteht. Das heißt: Auf den Wertverlust der Lira folgt nicht nur Zunahme der Verschuldung der Privaten, sondern auch des Staates. Mittlerweile hat Erdoğan ein umfassendes Sparpaket für alle staatlichen Institutionen und Ministerien veröffentlicht – ausgenommen natürlich des Präsidialamtes. Ebenfalls nahm wegen der Kreditschwemme und dem Währungsverfall die (Privat-)Verschuldung enorm zu (75%/BIP Inlandsverschuldung der Privaten, insgesamt 60%/BIP Auslandsverschuldung privat und öffentlich), wobei alleine 200 Milliarden $ an Schulden (etwa 25%/BIP) in ausländischer Währung hauptsächlich des Privatsektors kurzfristig, das heißt innerhalb von 12 Monaten umzuwälzen sind.
Die zu erwartende Explosion der Rate notleidender Kredite (non-performing loans, NPL) konnte nur mittels temporärer Maßnahmen verdeckt werden: Wurden früher 90 Tage Überziehung von Kreditratenrückzahlungen als notleidende Kredite klassifiziert, so erlaubte die Regierung während der Pandemie eine Ausweitung auf 180 Tage. Daher beträgt derzeit der Anteil der NPL an allen Krediten offiziell 3,79%; nach früherer Darstellung berechnet jedoch 4,43%. Rechnet man alle Kredite hinzu, die in irgendeiner Weise Rückzahlungsschwierigkeiten aufweisen, kommt man auf einen Anteil problematischer Darlehen von 15% an allen Krediten. Zudem wurden Darlehen in Milliardenhöhe umstrukturiert; das heißt, es wurden Rückzahlungskonditionen von bestehenden Krediten im Sinne der Schuldner verändert (beispielsweise mittels Ratenaufschub, oder bloßer Zinszahlung für eine bestimmte Zeit). So wurden beispielsweise zwischen Oktober 2019 und März 2021 Kredite von 178 Unternehmen in Höhe von 38 Milliarden TL umstrukturiert. Anfang Juli dieses Jahres kam es zur bislang größten Refinanzierungsaktion der türkischen Geschichte: Bezeichnenderweise war es die den dritten Istanbuler Flughafen bedienende Operateurin IGA, die ganze 6,9 Milliarden $ Schulden refinanzieren ließ. Schon 2018 betrug die Höhe der Kreditrestrukturierungen für Unternehmen 30 Milliarden $. Aber darauf zu spekulieren, dass Unternehmen, die heute Kredite nicht mehr zurückzahlen können, morgen plötzlich wieder in der Lage hierzu sind, stellt eine sehr riskante Flucht in die Zukunft dar. Man denke an das an sich unbedeutende Unternehmen Diriteks Tekstil, dessen Börsenwert im Jahr 2020 um ganze 246% zulegte. Diriteks Tekstil musste Anfang des Jahres schon Schulden von über einer Million TL restrukturieren, konnte die erste Rückzahlungsrate trotz günstiger Konditionen dennoch nicht zahlen und sah sich folgerecht einem Vollstreckungsverfahren seitens des Gläubigers, der öffentlichen Halk Bank, ausgesetzt. Ein Ökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) spricht mit Bezug auf die notleidenden Kredite in der Türkei treffend vom „elefant-in-the-room“. Und nicht ohne Grund sind die Profite der öffentlichen Banken – die ja zu jener Kreditschwemme zu realen Negativzinsen politisch forciert wurden – ins Bodenlose gefallen und gehen mittlerweile ins Minus.
Der Wert der Lira fällt indes weiter. Die Dollarisierung der Einlagen, also der Anteil von $-Bankeinlagen an allen Bankeinlagen, als Schutz vor Währungsverfall und Inflation beträgt weiterhin fast 60%, die Inflation ist mit mittlerweile 18,95% (Juli) erneut stark gestiegen und die Schere zwischen der Inflation der Produzentenpreise und der Verbraucherpreise [8] hat mit fast 26% mittlerweile einen historischen Höchststand erreicht. Diese Entwicklung wird sich sehr sicher in kurzer Zeit auf die Verbraucherpreise niederschlagen. Kaum jemand glaubt mehr den erwähnten Inflationszahlen des TÜIK; alternative Berechnungen der Untersuchungsgruppe Inflation (Enflasyon Araştırma Grubu, ENAG) gehen von einer fast dreifachen Inflationsrate (36% für 2020) als der offiziell angegebenen aus. Es verwundert nicht, dass die ENAG wegen „gezielter Verleumdung“ und „Irreführung der Öffentlichkeit“ prompt seitens des TÜIK und des Finanzministers angezeigt und vom Staatsanwalt vorgeladen wurde.
Lange Rede, kurzer Sinn: Die kräftigen Wachstumszahlen verdecken nicht nur die Ausmaße der sozialen Depravation, sondern überhaupt die fundamentale Instabilität des Akkumulationsregimes und des Krisenmanagements.
Diese werden seit Jahren palliativ behandelt, wobei sich Instabilität und Krisen Jahr um Jahr verschärfen. Ob und wann sich diese Instabilität erneut als manifeste Krise Bahn bricht, steht in den Sternen geschrieben. Fest steht jedoch: Umso mehr sie sich verschärft, umso heftiger bricht sie hervor, wenn es soweit ist. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Das ist immer wieder der Fall. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der stets wiederkehrende Zyklus aus struktureller Instabilität – Krise – palliatives Krisenmanagement beendet wird, solange das derzeitige politische und Akkumulationsregime bestehen bleibt.
Das Unbehagen im Akkumulationsregime
Im Unterschied zu den untergeordneten Kapitalfraktionen geht es dem Großkapital unmittelbar ganz prächtig: Die größten Kapitalgruppen und Privatbanken der Türkei wie Koç, Sabancı, İş Bankası und so weiter legten 2020 wie auch bisher im Jahr 2021 kräftig zu, an Umsätzen so sehr wie an Profiten. Ähnliches gilt für die größten 500 Industrieunternehmen der Türkei, deren größte zu ebenen jenen Kapitalgruppen gehören – auch wenn ihre Verschuldung und Schuldenrückzahlungen ebenfalls zunahmen und sich ihre kräftigen Profitsteigerungen hauptsächlich aus dem nicht-operativen Geschäft ergaben (also außerhalb ihres industriellen Kerngeschäfts liegend, z.B. im Finanzwesen). Woher kommt also das Unbehagen der führenden ökonomischen Akteure im Akkumulationsregime? Warum beschwert sich der TÜSIAD fast durchgehend über das derzeitige Regime (außer es legt mal wieder eine orthodox-neoliberale Wende hin)?
Marxistische Theoretiker*innen und Kritiker*innen haben überzeugend dargestellt, dass Erdoğans weiter oben dargestellten permanenten „Zigzag’s“ nicht einer persönlichen Schrulle des Präsidenten entspringen oder gar einer islamistischen Ideologie, wie es öfter aus (links-)liberalen Kreisen zu hören ist.
Es handelt sich vielmehr um einen immer prekärer werdenden Balanceakt des Regimes zwischen den ökonomischen Interessen des Großkapitals und denen der KMU, wobei die letzteren gemeinsam mit ihren Beschäftigten zur Hauptwähler*innenbasis des derzeitigen Regimes gehören. In Abgrenzung zu liberalen Analyseansätzen tendieren die marxistischen dennoch oft in eine allzu rigide strukturalistische Richtung: Die These vom „neuen Neoliberalismus“ legt beispielsweise nahe, dass der Autoritarismus Erdoğans eine geradezu notwendige Folge der Krise des finanzialisierten Neoliberalismus (in der Türkei) darstellt. Dabei streben doch gerade die bürgerliche Opposition in der Türkei und die ökonomisch dominanten Akteure, das Großkapital, eine Perspektive der Restauration des Neoliberalismus anstelle des derzeitigen dezisionistischen Regimes an. Der Marxist Ümit Akçay hebt zwar hervor, dass die bisher größte Krise des Regimes, die sich durch den Gezi-Aufstand 2013 manifestierte, nicht unmittelbar aus einer Krise des Akkumulationsregimes folgte. Er führt aus, dass es so etwas wie „[t]he political elite’s survival strategies“ (S. 10) gab, die zu einer Staatskrise und dann zum Wandel des politischen Regimes hin zur präsidialen Diktatur führten – sprich, sich politische Kämpfe nicht eins zu eins auf die Verhältnisse im Akkumulationsregime zurückführen lassen. Gleichzeitig bleiben sie davon auch nicht gänzlich unabhängig, da beispielsweise im betreffenden Fall die Akkumulationskrise die Staatskrise verschärfte. Dann aber ordnet Akçay den politischen Autoritarismus in der Türkei dem allgemeinen globalen Trend zum Autoritarismus angesichts wirtschaftlicher Stagnation zu und identifiziert überhaupt politischen Autoritarismus mit Neoliberalismus, den er als – ausschließliche? – Ursache für jenen Autoritarismus betrachtet – als ob das eine zwangsläufig aus dem anderen folgte. Auch historisch betrachtet ist dies ungenügend: Als sei es nach Thatcher und Reagan nicht zur Formation eines „progressiven Neoliberalismus“ gekommen; als gäbe es aktuell nicht Biden in den USA, den Aufschwung des Grünen Kapitalismus in Europa und die neoliberale Restaurationsperspektive in der Türkei als reale Alternativen für die dominanten Fraktionen des Kapitals.
Der Marxist Ali Rıza Gürgen hebt gegen liberale Ansätze hervor, dass nicht der Autoritarismus von Erdoğan für die prekäre Situation der internationalen Kapitalflüsse in die Türkei verantwortlich sei, sondern – so legt es sein Artikel nahe – ausschließlich der globale Kontext, das heißt die globale Krise des Kapitalismus im Zuge der Coronapandemie, die ein Versiegen der Kapitalströme in die Peripherie mit sich brachte. Es stimmt natürlich, dass die türkische Wirtschaft wegen ihrer abhängigen Finanzialisierung auf internationale Kapitalströme besonders sensibel reagiert. Warum dann aber beispielsweise letztes Jahr die Lira derjenigen Währung der Schwellenländer wurde, die am stärksten abwertete, obwohl alle Schwellenländer mehr oder minder im selben globalen Kontext operieren und alle mehr oder minder von internationalen Kapitalflüssen abhängen, lässt sich nicht allein damit erklären.
Selbstverständlich hat die Politik und damit auch die unvorhersehbare – oder eigentlich: vorhersehbar im Zickzackkurs prozessierende – Wirtschaftspolitik des Regimes unmittelbare Auswirkungen auf die Kapitalkreisläufe: Die offensichtlich politisch herbeigeführte Negativzinspolitik der TCMB letzten Jahres führte sehr unmittelbar zu einem Versiegen der internationalen Kapitalströme und verschärfte die Krise.
Die erneute „Unberechenbarkeit“ und Politisierung der Wirtschaftspolitik seit März dieses Jahres nach einem kurzen orthodox-neoliberalen Intermezzo führt weiterhin zu einem Fall des Wertes der Lira, damit zu einer Steigerung der Inflation und so weiter, die sich nicht allein aus der strukturellen Akkumulationskrise erklären lassen, sondern wesentlich durch die Wirtschaftspolitik des Regimes verschärft werden. Politik und Wirtschaftspolitik gehen somit selbst nicht unmittelbar oder ausschließlich auf in ihren Funktionen für die Erfüllung der Interessen der dominanten ökonomischen Akteure. Sie funktionieren ebenso im Sinne des politischen Machterhalts, was sich nicht immer oder nicht in jeder Hinsicht mit den Interessen der dominanten ökonomischen Akteure deckt und zugleich unmittelbare Auswirkungen auf die Akkumulation hat. Umgekehrt sind die dominanten Fraktionen des Kapitals nicht nur am weitestgehend reibungslosen Funktionieren der Kapitalkreisläufe interessiert, sondern ebenso am gesamtgesellschaftlichen Kontext, in dem die Kapitalkreisläufe eingebettet sind, sprich an der Stabilität gesellschaftlicher Hegemonie.
Die marxistischen Erklärungsansätze zur derzeitigen Situation in der Türkei leiden meines Ermessens daran, dass sie bestimmte ökonomische Zusammenhänge als gegeben und als ausschließlich oder hauptsächlich determinativ für gesellschaftliche Verhältnisse ansehen, dabei aber die gesellschaftlichen und hegemonialen Aspekte von Vergesellschaftung sowie den (Klassen-)Kampf um hegemoniale (ökonomische) Strategien essentialistisch oder funktionalistisch relativieren und ihnen keine wesentliche Determinationskraft zuordnen. Wie schon hervorgehoben, hat das Wirtschaftsmanagement unter Erdoğan den wirtschaftspolitischen Spielraum der „goldenen Jahre“ (2002-10) dazu genutzt, klientelkapitalistische Beziehungen aufzubauen und zu stärken, anstatt diesen für ein Upgrade der kapitalistischen Struktur der türkischen Wirtschaft insgesamt zu verwenden. Diese klientelkapitalistischen Beziehungen sind zwar, gesamtwirtschaftlich gesprochen, nebensächlich: Der linke Analytiker Bahadır Özgür skandalisiert zwar zurecht, dass die größten 10 Unternehmen, die die größten Staatsaufträge erhalten, 2002-19 Aufträge in Höhe von 203,9 Milliarden $ oder Aufträge von einem Volumen von 26%/BIP zugesprochen bekommen haben. Damit ist laut WB die Türkei das Land, in dem die größten 10 Unternehmen am meisten Staatsaufträge relativ zum BIP bekommen, noch vor Brasilien mit 9,8%/BIP. Aber diese Relationen verblassen im Vergleich zum Großkapital, was Özgür und viele andere linke Analytiker*innen nicht betonen und daher ein verzerrtes Bild reproduzieren: Allein die größte Kapitalgruppe der Türkei, die Koç Holding, hat einen jährlichen Umsatz von 6%/BIP; die TÜSIAD als Ganze hingegen produziert 50%/BNP ausschließlich des öffentlichen Sektors. Weder Koç noch die TÜSIAD als Ganze zählen zum klientelkapitalistischen Netzwerk im engeren Sinne, sondern bilden den Hauptmotor des türkischen Kapitalismus. Aufgrund dieser vergleichbar untergeordneten Rolle des Klientelkapitalismus war daher die Großbourgeoisie diesen Beziehungen gegenüber lange Zeit auch mehr oder minder gleichgültig eingestellt, oder hielt sie für einen Preis, den man für die im Sinne des Großkapitals umgesetzten neoliberalen Reformen seitens der AKP zahlen musste. Sie sind aber für den politischen Machterhalt des Regimes unerlässlich, so sehr, wie sie im derzeitigen dezisionistisch-polykratischen Politikgefüge gleichzeitig auch zu einer Last werden für das Regime, da ein „Skandal“ nach dem anderen auffliegt (ich führe dies später aus). Zum anderen: Auch das wirtschaftliche Krisenmanagement des Regimes zielt ganz offensichtlich darauf, durch Stützung der KMU das politische Überleben des Regimes zu sichern. Wegen der ökonomischen Subordination der KMU und wegen des Realitätssinnes der AKP wird dabei stets der prekäre Balanceakt mit dem Großkapital gesucht, woraus sich der schon beschriebene Zickzack-Kurs herleitet, der aber zugleich die fundamentale wirtschaftliche Instabilität verschärft.
Der Kampf um die Krise des Neoliberalismus
Gesellschaftliche Hegemonie besteht nicht allein aus und dient nicht allein der ökonomischen Dominanz beziehungsweise Hegemonie der führenden Fraktionen des Kapitals, wie sich umgekehrt ökonomisch hegemoniale Akteure nicht allein um (ihre) ökonomische Dominanz und Hegemonie kümmern, sondern auf umfassende gesellschaftliche Hegemonie visieren.
In der Organisation gesellschaftlicher Hegemonie werden nicht nur die Interessen der ökonomisch relevanten Akteur*innen prozessiert, sondern auch derer, die im Politischen, Kulturellen und Sozialen Deutungsmuster, Ideologien, Vermittlungsformen usw. im Sinne gesellschaftlicher Hegemonie und damit ebenfalls politische, kulturelle (und andere) Hegemonie(n) organisieren. Militarismus, Chauvinismus, gesellschaftliche Polarisierung, Dezisionismus und dergleichen sind hierbei ebenso Mittel, mit denen das derzeitige Regime in der Türkei versucht, sich teils mit nicht unmittelbar ökonomischen Methoden eine neue Legitimationsbasis zu schaffen und daher nicht allein als Funktionen für die kapitalistische Akkumulation zu betrachten. Daher funktioniert der politische Machterhalt des Regimes beziehungsweise die Sicherung seines Überlebens trotz aller Krisen im Land weiterhin, auch wenn seit längerem die Legitimation des Regimes schleichend untergraben wird. Der immer noch verbreitete Unglaube der Bevölkerung, dass die Opposition es besser machen könne (bzw. dass es tragfähige alternative Parteien gäbe), der weiterhin fest verankerte Glaube von fast 80% der AKP-Wähler*innen an eine ausländische Verschwörung hinter dem Gezi-Aufstand 2013, und die damit im Zusammenhang stehende viel stärkere Zunahme der wahltechnisch betrachtet Unsicheren/Schwankenden als derer, die statt den Regimeparteien nun die Oppositionsparteien wählen wollen, bezeugt das Gewicht der relativen Autonomie politischer und sozialer Muster von Macht und Identitätsbildung auch inmitten einer Hegemoniekrise.
Weder die Krise des Akkumulationsregimes, noch die allgemeinere Legitimationskrise haben unmittelbar und unvermittelt soziale und politische Effekte. Sie haben nur vermittelt durch die Formen des Politischen und des Sozialen Effekte, die somit co-determinativ sind und deren Eigenheiten daher nicht einfach funktionalistisch entkernt werden können. Umgekehrt gefährden insbesondere gesellschaftliche Polarisierung und Dezisionismus aus der Perspektive des orthodox-neoliberalen bürgerlichen Lagers – wegen der durch sie teils induzierten, teils verschärften Hegemoniekrise – die Stabilität des gesamten gesellschaftlichen Systems ungleicher und ausbeuterischer gesellschaftlicher Beziehungen (nicht nur der ökonomischen) grundlegend, weshalb sie, zumindest in ihrer eigenen diskursiven Repräsentation, für eine stabilere Form der Regulation aller gesellschaftlichen Verhältnisse streiten. Das regulationstheoretische Argument, dass das (hegemoniale) Projekt politischer Akteure die Interessen der Bourgeoisie im weitesten Sinne mit einbeziehen muss, und dass erst die Synchronisation von politischem Projekt mit diesen Interessen die Kontinuität des Machtblocks gewährleistet, ist zwar so allgemein gehalten richtig, weicht der Bearbeitung dieser Felder aber letztlich aus und zieht sich auf eine deskriptive Position zurück (Feststellung von Synchronität oder Asynchronität/Krise). Es ist daher auch zugleich nicht richtig: Zum einen aufgrund der Bandbreite an Möglichkeiten, die zwischen vollständiger Synchronisation und vollständiger Asynchronität liegen. Es fehlt die Antwort auf die Frage nach den Faktoren, die festlegen, welche Position genau zwischen vollständiger Synchronisation und vollständiger Asynchronität eingenommen wird und damit nach Akteur*innen, Funktionsweisen und Interessen (innerhalb) derjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse, die miteinander synchronisieren oder asynchron sind. Damit im Zusammenhang lässt es zum anderen die Frage nach der Eigenheit nicht-ökonomischer Sphären und somit nicht-ökonomischer Interessen, Akteure, Hegemonien usw. im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse unbeantwortet und legt einen Funktionalismus „in letzter Instanz“ nahe (in letzter Instanz müssen diese anderen Verhältnisse nämlich mit den ökonomischen synchronisieren). Aus dieser unzureichenden theoretischen Bearbeitung folgt aber die unzureichende Analyse hegemonietheoretisch ausschlaggebender Prozesse, was der theorie- und analyseimmanente Grund für die Attraktivität nicht-marxistischer Ansätze ist.
Liest man die Verlautbarungen des TÜSIAD genauer, kann man eine ineinander verschränkte ökonomische wie politisch-regulative, in jeder Hinsicht jedoch sehr umfassende Kritik am derzeitigen Regime herauslesen: Ökonomisch wird ganz offen für eine neoliberale Restauration auf erweiterter Grundlage optiert. Politisierung der regulativen Institutionen, Unvorhersehbarkeit, Unfähigkeit in der Inflations- und Währungsverfallsbekämpfung und somit palliatives statt transformatives Krisenmanagement werden darin scharf kritisiert. Im Gegenzug werden eine neoliberale Geldpolitik, depolitisierte regulative Institutionen, ein Krisenmanagement und eine Wirtschaftspolitik eingefordert, die die industrielle Produktionsbasis des türkischen Kapitalismus eine Stufe höher heben kann, statt mit Kreditschwemmen bankrotte Geschäftsmodelle am Leben zu halten. Das Kalkül ist, in den globalen Lieferketten aufzusteigen und China partiell abzulösen. Politisch-regulativ betrachtet kritisiert der TÜSIAD fast alle wichtigen politischen Entscheidungen des Regimes: Ob nun den Austritt aus der Istanbuler Konvention, das HDP-Verbotsverfahren, die Berufung des neuen Rektors der Boğaziçi-Universität wider den Willen der Studierenden und Lehrenden, die Bildungspolitik, die Infragestellung des Laizismus, die Repression der Medien, die diplomatische Isolation des Landes oder die politisierte Justiz – nicht zuletzt die durch Sedat Pekers „Offenbarungen“ publik gemachte Versumpfung des Staates. All dies wird kritisiert aus der Angst heraus, dass ansonsten gesellschaftliche Polarisierung und Legitimationseinbruch die Hegemoniekrise so sehr verschärfen könnten, dass sie nicht mehr nur die derzeitige Regierung und das derzeitige politische Regime gefährden. Aus demselben Grund bezieht sich der Vorsitzende des TÜSIAD, Simone Kaslowski, positiv-wohlwollend auf Bidens Krisenpaket, das er als „sozialdemokratisch gefärbt“ charakterisiert. Bezüglich des Krisenmanagements in der Türkei äußert er, wie oben hervorgehoben, Sorge wegen Inflation und Arbeitslosigkeit.
Inwiefern die Vorschläge der restaurativen Akteure überhaupt für die popularen Klassen von Nutzen sind, diskutiere ich am Ende des Artikels genauer. Für diesen Abschnitt möchte ich allerdings Folgendes hervorheben: Natürlich wäre Erdoğan ohne den Neoliberalismus nicht möglich gewesen. Dessen krisenhafte Umsetzung in den 1990ern delegitimierte fast alle Parteien außerhalb der AKP, vor allem die sozialdemokratische Linke; zudem zerschlug die Privatisierungswelle der 2000er die organisiertesten Teile der Arbeiter*innenklasse, wie überhaupt der Neoliberalismus für einen grundlegenden Positionsverlust der Arbeiter*innenklasse sorgte (Entrechtung, stagnierende Reallöhne, klaffende Produktivitäts-Lohn-Schere, finanzielle Abhängigkeit usw.).
Eine desorientierte, zunehmend sozial depravierte Arbeiter*innenklasse bei gleichzeitiger (partieller) Delegitimation der bürgerlichen Linken ist eine der wichtigsten Bedingungen für den Aufstieg der autoritären Rechten, die so einerseits das Vakuum füllen, andererseits den sozialen Unmut auf ihre Art und Weise prozessieren kann.
Marxist*innen wie Korkut Boratav, Galip Yalman, Pınar Bedirhanoğlu oder Ümit Akçay haben diese Entwicklungen exzellent aufgearbeitet. Es sind dies aber nicht die einzigen und hinreichenden Gründe für den Aufstieg der autoritären Rechten – im Fall der Türkei: für die Errichtung einer präsidialen Diktatur unter Führung von Erdoğan. Es bedarf auch einer autoritären Rechten, die, um der eigenen politischen Macht willen, einen erfolgreichen sozialen und politischen Kampf mit politischen Kontrahent*innen und den relevanten sozialen Akteuren um politische und soziale Führung ausficht. Eine autoritäre Rechte, die zudem in der Lage ist, eine gewisse aktive oder passive Massenbasis zu schaffen. Einmal an der Macht, ist diese auch seitens der Großbourgeoisie nicht mehr ohne weiteres kontrollierbar und deshalb – außer in außerordentlichen Krisenzeiten – selten von ihr erwünscht. Daher ähnelt der TÜSIAD heute dem Zauberlehrling, der die Geister nicht mehr kontrollieren kann, die er selbst herbeirief (oder zumindest stark in ihrer Genese unterstützte). Es gibt aber auch keinen Zaubermeister, der helfen kann. Insofern ist es richtiger, den derzeitigen Autoritarismus nicht als „neuen Neoliberalismus“ zu bezeichnen, sondern als „Ergebnis einer mit zunehmender Härte geführten Auseinandersetzung um Neoliberalismus“ (S. 59) seitens diverser im engeren Sinne ökonomischer und nicht-ökonomischer Akteur*innen. Erdoğan bleibt an das Großkapital gebunden, das die ökonomische Hauptkraft in der Türkei ist. Und ebenso bleibt das Großkapital an Erdoğan gebunden: Denn seine Regierung hält, wenn auch krisenhaft, die Profite des Kapitals und neoliberale Arbeitsverhältnisse aufrecht. Eine allzu antagonistische Opposition gegen Erdoğan zu betreiben, vergrößert die Gefahr, ganz andere Geister, nämlich die popularen, zu entfachen, was wiederum aus Sicht des Großkapitals und der bürgerlichen Opposition ganz andere Risiken birgt. Daher befinden sich Erdoğan und Großkapital in einem instrumentellen Zweckverhältnis miteinander, das sie bei erstbester Gelegenheit über den Haufen schmeißen würden – wäre dies nur möglich, ohne große Krisen zu riskieren!
Autoritäre Konsolidierungsversuche
Die schon bekannten autoritären Konsolidierungsversuche des Regimes setzen sich derweil ununterbrochen fort. Sie setzen sich zusammen aus Unterdrückung (erstens und zweitens), sowie Einbindung und Spaltung zugleich der Opposition (zweitens und drittens). Außerdem findet der Versuch der Festigung eines autoritären, dezisionistischen Regimes inklusive einer ihm entsprechenden neuen Legitimationsbasis statt (viertens).
Erstens wird der Kampf um die entscheidenden oppositionsgeführten Großstädte weitergeführt. Wie schon dargelegt, bilden die oppositionsgeführten Großstädte – insbesondere Ankara und Istanbul – die politische Hauptschlagkraft der bürgerlichen Opposition gegen das Regime, wie sie selbst Ergebnis eines erfolgreichen Kampfes der Opposition sind. Seit den Kommunalwahlen 2019, also seitdem Ankara und Istanbul nach Jahrzehnten von der AKP (oder Vorgängerparteien der AKP) an die Opposition übergingen, decken deren neugewählte Bürgermeister einen Korruptions- oder Misswirtschaftsfall nach dem anderen aus der AKP-Ära auf. Zugleich nutzen sie die Mittel der Stadtverwaltungen, um durch dienstleistungsorientierte Politik und milde redistributive Maßnahmen für die Mittellosen eine gewisse Massenbasis für die bürgerliche Opposition aufzubauen. Es ist offensichtlich, dass die bürgerliche Opposition darauf abzielt, durch den Erfolg in den Kommunalverwaltungen in die Macherrolle zu kommen, Barrieren bei Regime-Wähler*innen zu brechen und ergo genügend Unterstützung aufzubauen, um die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Erdoğan und das um ihn herum organisierte Regime hingegen versuchen, den Handlungsspielraum der oppositionellen Stadtverwaltungen so weit wie möglich einzuschnüren, um diese Rechnung der Gegenseite zu vereiteln.
Mehrere Mechanismen greifen dabei ineinander: Zum einen werden zwar die Bürgermeister der betreffenden Städte von der oppositionellen CHP gestellt, die Stadtparlamente sind aber immer noch von AKP und MHP dominiert. Das bedeutet, die Parteien des Regimes nutzen ihre Parlamentsmehrheiten, um die Legislative und Exekutive auf Munizipalebene zu blockieren. Zudem nutzt Erdoğan die Mittel des Zentralstaates, um die Ressourcen der Städte so weit wie möglich zum Versiegen zu bringen: So bekommen oppositionsgeführte Städte (und Unternehmen) unterdurchschnittlich wenig zentralstaatliche Gelder und öffentliche Kredite, weshalb sie sich internationale Partner oder Kreditgeber wie die französische oder europäische Entwicklungsbank suchen. Es werden aber auch historische Stätten wie etwa der Gezi Park oder der Galata-Turm (beides Istanbul), die sich eigentlich im Eigentum der Großstädte befinden, an zentralstaatliche Ministerien übertragen und somit aus den Händen der Stadtverwaltungen genommen. Nicht zuletzt interveniert die Zentralregierung permanent in die Angelegenheiten der Städte: Spendensammlungen der Munizipalitäten, um von der Corona-Pandemie Betroffenen zu helfen (und natürlich gesellschaftliche Legitimation aufzubauen), wurden etwa der „Parallelstaatlichkeit“ und des Terrorismus bezichtigt und seitens des Innenministeriums unter einem juristischen Vorwand verboten. Die oppositionellen Munizipalitäten wussten dies aber mehr oder minder zu umgehen. Die Auseinandersetzung um das Spendensammeln und -verteilen der oppositionellen Munizipalitäten setzt sich bis heute fort, ebenso wie das Bemühen derselben, alternative Methoden der Redistribution zur Anwendung zu bringen und somit der Repressionskeule des Regimes zu entgehen. Auch beschlagnahmte das Innenministerium einen Großteil der „Antikorruptionsdossiers“ der Istanbuler Stadtverwaltung, bevor diese die Dossiers finalisieren und der Justiz übergeben konnte.
Der derzeit größte Konfliktpunkt, der mehrere dieser Mechanismen zusammenführt und daher symptomatisch ist, ist der Konflikt um Kanal Istanbul, ein megalomanes, mehrere Dutzend Milliarden Dollar teures Projekt zur Anlage eines künstlichen zweiten Wasserkanals parallel zum Bosporus. Von den ökologisch potenziell desaströsen Folgen dieses Projekts abgesehen, ist offensichtlich, dass es sich hier ökonomisch betrachtet um ein klassisches Klientelprojekt handelt – die Bauaufträge gehen natürlich an Erdoğan-nahe Unternehmer. Zugleich ist es ein Prestigeprojekt Erdoğans, mit dem er sich erneut als Visionär und „Macher“ präsentieren will. Und nicht zuletzt ist es ein Armdrücken zwischen Erdoğan und der Istanbuler Munizipalität darum, wer eigentlich in Istanbul das Sagen hat.
Zweitens geht die umfassende Repression gegen Oppositionelle und Dissidenten ununterbrochen weiter. Demonstrationen oder Kundgebungen sind, wenn sie nicht regierungsnah sind, fast unmöglich geworden, Folter und Gewalt seitens Beamt*innen nimmt zu. Unabhängige oder nicht regierungskonforme Fernsehsender werden im Gegensatz zu regimetreuen mit horrenden Strafzahlungen des Obersten Rundfunk- und Fernsehrates (Radyo ve Televizyon Üst Kurulu, RTÜK) überzogen, dessen Chef laut Eigenaussage zudem Erdoğans „Empfehlungen und Vorschläge“ als Befehle ansieht. Der letztes Jahr neu gegründete Fernsehsender Olay TV musste innerhalb kürzester Zeit schließen – mutmaßlich wegen großem politischem Druck, da der Sender auch über die pro-kurdische, linke HDP berichtete. Natürlich gehen fast alle öffentlichen Reklameschaltungen und damit Unsummen an Geldern an regimetreue Sender und Zeitungen, kaum welche an oppositionelle. Nicht nur werden Hunderttausende Webseiten blockiert und Tausende Social Media-Accounts juristisch verfolgt; die Regierung überzog auch Facebook, Youtube, Instagram, TikTok und Twitter mit Strafen in Höhe von insgesamt 1,2 Millionen €, weil sie keine der Regierung gegenüber für das Unternehmen verantwortlichen lokalen Repräsentanten ernannt hatten. Das Gesetz, das dies erfordert, wie auch die Strafzahlungen stehen im Zusammenhang mit dem Versuch des Regimes, mehr direkte Kontrolle auf die Social Media-Unternehmen auszuüben. Eine weitere Verschärfung des Medienrechts, wonach die Kontrolle der Regierung über Nachrichtenplattformen, die Gelder aus dem Ausland beziehen (also im Prinzip die gesamte alternative Onlinepresse), wurde schon angekündigt als „Kampf gegen die fünfte Kolonne“. Zudem wurden seit 2018 etwa 40 (oft oppositionelle) Journalist*innen tätlich angegriffen. Der oppositionelle, nationalistisch orientierte Sender Halk TV wurde während einer Liveübertragung aus den Waldbrandgebieten Anfang August von einem regierungsnahen Mob angegriffen, nachdem zuvor der RTÜK Sender, die nicht regierungskonform über die Waldbrände berichteten, mit „den heftigsten Sanktionen“ bedroht (und diese dann umgesetzt) und der millionenfach auf Twitter geteilte #HelpTurkey-Hashtag öffentlich und juristisch angeprangert und verfolgt wurde, weil er die Türkei als „schwach“ darstelle.
Die Verfolgung geschieht auch außerhalb der Türkei, wie jüngst der Angriff auf den kritischen Investigativjournalisten Erk Acarer in Berlin und die Existenz von Todeslisten mit Namen von türkeistämmigen Oppositionellen und Dissidenten in Deutschland gezeigt hat. Das Vorgehen beschränkt sich nicht allein auf Journalist*innen, sondern hat System. Erst neulich wurde die Chefin der rechten Oppositionspartei IYI, Meral Akşener, bei einem Besuch in Rize am Schwarzen Meer von einem aufgestachelten Mob empfangen und musste die Stadt frühzeitig verlassen. Erdoğans Kommentar, an Akşener gerichtet: „Danke Gott dafür, dass sie nicht zu weit gegangen sind, und dir [nur, A. K.] eine Lehre erteilt haben. Das sind noch die guten Tage, wartet mal ab, was da noch kommt“, ist paradigmatisch für die drohende, Gewalt relativierende oder zur Gewalt anstachelnde Sprache, die zentrale Personen des Regimes seit Jahren gegen oppositionelle Politiker*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen und andere nutzen. Dabei ist MHP-Chef Bahçeli oft viel direkter als Erdoğan. So bezeichnete er Protestierende an der Eliteuniversität Boğaziçi als „giftige Schlangen, deren Köpfe wir zerquetschen müssen“.
Die Repressionswelle gegen die HDP wurde in der vergangenen Zeit immer intensiver. Tausende ihrer Mitglieder, Funktionsträger*innen und sogar Parlamentarier*innen wurden in den letzten Jahren in Untersuchungshaft genommen, etwa 1000 Immunitätsaufhebungsanträge liegen für HDP-Parlamentarier*innen im Parlament vor und fortlaufend finden Razzien gegen sie statt. Mittlerweile läuft auch das sogenannte „Kobane-Verfahren“ auf Grundlage einer hanebüchenen Anklageschrift gegen insgesamt 108 ältere Führungspersonen der HDP. Gegen die Partei ist mittlerweile auch ein umfassendes Verbotsverfahren beim Verfassungsgericht anhängig (ebenfalls auf Grundlage einer hanebüchenen Anklageschrift), das auch eine Politikverbotsforderung für Hunderte HDP-Politiker*innen enthält; beide Anklagen mit dem Hauptvorwurf der Spaltung von Staat und Nation beziehungsweise der Zuarbeit zu einer „Terrororganisation“ (also der PKK).
Auch hier gilt: Was von oben abgesegnet wurde, findet von unten seine Entsprechung. Am 15. Juni 2021 ermordete ein überzeugter Faschist in Izmir Deniz Poyraz, eine Mitarbeiterin im dortigen Büro der HDP am 15. Juni 2021. Die Tat, begangen von einem, der in Syrien gekämpft und sich laut Eigenaussage vorgenommen hatte, so viele HDP’ler wie er konnte zu ermorden, ist – egal ob es ein geplantes Attentat oder ein Selbstläufer war – direkte Folge einer von oben gezielt betriebenen Politik der gewalttätigen Polarisierung im Sinne des Machterhalts. Es folgten weitere auch bewaffnete Attacken auf HDP-Büros und ein Massenmord an einer kurdischen Familie in Konya, bei der sieben Mitglieder der Familie von einem türkischen Faschisten ermordet wurden, kaum ein paar Wochen nachdem sie von einem aufgestachelten Mob, an dem auch der spätere Massenmörder teilnahm, angegriffen wurden. Einen Tag darauf griff ein faschistischer Mob von 300 Personen kurdische Landarbeiter*innen in Elmalı an und forderte sie dazu auf, das Land zu verlassen.
Offensichtlich dient die Entfesselung der Repression im Allgemeinen (wie im Besonderen gegen die HDP) dazu, Teile der Opposition zu demobilisieren und zu zermürben sowie, bezüglich der Medien, zu Regimediskursen massenwirksame alternative Diskurse zu verhindern. Außerdem dient sie dazu, eine autoritär-faschistoide Massenbasis aufzubauen.
Beim angestrebten HDP-Verbot könnte die Rechnung der Regierung weniger die sein, die Formation einer alternativen, mitte-links orientierten pro-kurdischen Partei in der Türkei überhaupt zu verhindern. Wichtigen politischen Akteur*innen in der Türkei ist klar, dass dies eher unwahrscheinlich ist und auch, dass sich pro-kurdische Parteien in der Vergangenheit immer stärker reformierten, nachdem sie verboten wurden. Das Kalkül ist vermutlich eher, dass eine Schließung der HDP (oder eine Kappung der ihr zustehenden staatlichen Zuschüsse) kurz vor den nächsten Wahlen zu einer gleichmäßigen Verteilung des Wähler*innenpotenzials der HDP auf Regime- wie restlichen Oppositionsparteien führt (oder die Effizienz der HDP weiter reduziert) und somit den Regimeparteien den Sieg ermöglicht. Es ist aber bislang nicht abzusehen, in welche Richtung sich das Verbotsverfahren entwickelt, da sein Ausgang wesentlich von den derzeitig laufenden Machtkämpfen abhängt und nicht von juristischen Prozessen (wären Recht und Gesetz Maßstab des Verfahrens, wäre es gar nicht erst zu einem Verbotsverfahren gekommen).
Die in diesem Artikel wegen einem innenpolitischen Fokus stiefmütterlich behandelte Außenpolitik, in diesem Fall das Verhältnis zur USA und zur EU, hat diese Repressionsorgie im Allgemeinen und das Verbotsverfahren gegen die HDP im Besonderen nicht nachteilig affiziert, im Gegenteil. Die durch die politische wie ökonomische Integration der Türkei in den euro-transatlantischen Kapitalismus sowie durch Druck ihrer Hauptakteure (USA, EU) erzeugte Wiederannäherung der Türkei an die außenpolitischen Interessen der NATO war Grund genug für diese, keine weiteren Sanktionen gegen die Türkei zu erheben – mit explizitem Verweis darauf, dass auch ein drohendes HDP-Verbot daran nichts ändern würde. Dies steht in Kontinuität zur Außenpolitik des euro-transatlantischen Blocks gegenüber der Türkei der letzten Jahre, wonach die wirtschaftliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit sowie Rüstungsexporte weiter Blüten trieben, während gelegentliche Skandalisierungen der Menschenrechtslage in der Türkei als disziplinierende Hebel genutzt wurden, um die Türkei ökonomisch wie außenpolitisch auf Linie zu halten. Jedenfalls folgten niemals auch nur annähernd so harte Sanktionen gegenüber der Türkei wie gegenüber Russland, China oder seit neuestem Belarus. Seit geraumer Zeit verweisen bundesdeutsche Think Tanks zudem ganz offen und unverblümt darauf hin, dass sich die EU ihrer mangelnden „normativen Kraft“ bewusst werden und sich daher darauf beschränken sollte, wirtschaftliche Druckmechanismen dafür zu nutzen, die Türkei ausschließlich in außenpolitischen Angelegenheiten auf Linie zu bringen. Hic Rhodus, hic salta – zeige hier und jetzt, was du kannst! Das HDP-Verbotsverfahren ist das Rhodos der Fabel, und die EU sprang: Es wurde eine Vertiefung der für die Türkei sehr wichtigen Zollunion und eine Verlängerung des „Flüchtlingsdeals“ vereinbart statt neuen Sanktionen. Insofern ist der EU keine Inkonsequenz vorzuwerfen – außer freilich derjenigen, „Menschenrechte“ ganz nach gusto hochtrabend im Munde zu führen aber sich nur dann für sie zu interessieren, wenn es gegen Russland, China, Belarus, Venezuela oder Kuba geht.
Aber die Repression gegen die HDP ist, drittens, auch ein integrales Element der Spaltung und Einbindung von Teilen der Opposition.
Die (Nicht-)Thematisierung der „kurdischen Frage“ auf Grundlage eines assimilatorischen türkischen Nationalismus und die Normalisierung eines rasenden militaristisch-nationalistischen „Antiterrordiskurses“ hat den antikurdischen türkischen Nationalismus zu einer wichtigen Mobilisierungs- und Legitimationsquelle für politische Akteur*innen gemacht.
Sogar der klassisch progressiv-neoliberale Ali Babacan, ehemals Wirtschaftsminister unter der AKP, nun Chef der kleinen Oppositionspartei DEVA, der sonst einen sehr starken Fokus auf „Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte“ hat, kritisiert den in der Vergangenheit liegenden „Friedensprozess“ mit der PKK, weil er die PKK gestärkt habe. Abdullah Gül, der letzte Präsident vor Erdoğan, der tendenziell Babacan-nah ist und die Polarisierung im Land wie auch das Präsidialsystem (wenn auch oft in sehr diplomatischen Worten) ablehnt, lehnt zwar den Verbotsantrag gegen die HDP ab – allerdings mit der Begründung, dass eine Schließung der HDP „Terrororganisationen“ (also die PKK) stärken würde und nicht etwa, weil ein solches Verbot gegen jede Minimalvorstellung von Rechtsstaatlichkeit geht. Sogar Babacan drückt sich darum, die Präambel und die ersten vier Paragraphen der Verfassung, die unter anderem einen rasenden geschichtsmetaphysischen türkischen Nationalismus und einen staatsverherrlichenden „Atatürkismus“ auf Verfassungsrang erheben, infrage zu stellen. Daher und weil sich die bürgerliche Opposition weitestgehend mit dieser Normalisierung arrangiert und diese teilweise auch für ihre eigenen Zwecke nutzt, wird der antikurdische türkische Nationalismus von Regime- wie von Oppositionsparteien mehr oder minder stark geteilt.
Die Regimeparteien waren, machiavellianisch betrachtet, sehr geschickt darin, diesen militaristisch-nationalistischen „Antiterrordiskurs“ auch auf die HDP auszuweiten und diese mit der PKK in eins zu setzen. Mittlerweile ist die HDP – neben der AKP – die am stärksten abgelehnte Partei in der Bevölkerung, auch eine politische Zusammenarbeit mit ihr wird mehrheitlich abgelehnt. Mit der intensivierten Repression gegen die HDP manövriert das Regime daher auch die bürgerliche Opposition in eine schwierige Position. Diese wissen ja: Ohne die HDP, die bei landesweiten Wahlumfragen bei etwa 10% der Stimmen liegt, und somit auch ohne politische Zugeständnisse an die HDP scheint ein Sieg gegen die Regimeparteien und Erdoğan unmöglich. Beispielsweise waren die HDP-Wähler*innen die Königsmacher bei den Kommunalwahlen in Istanbul 2019. Andererseits ist die Ablehnung von PKK und HDP insbesondere bei der oppositionellen MHP-Abspaltung IYI und innerhalb ihrer Wähler*innenbasis sehr stark. Orientiert sich die Hauptoppositionspartei CHP also allzu offen auf eine Zusammenarbeit auch mit der HDP, dann riskiert sie einen Bruch mit der IYI und anderen kleineren Oppositionsparteien, was die Aussichten auf einen Sieg gegen Erdoğan bei Wahlen ebenso unwahrscheinlich macht. Regimeakteure konzentrieren daher ihre verbalen Attacken und „Terrorismusvorwürfe“ auch ganz besonders auf die CHP und versuchen – teils mit expliziten Einladungen –, die IYI und andere kleinere Oppositionsparteien auf ihre Seite zu ziehen. Ganz davon abgesehen gibt es auch innerhalb der CHP und den CHP-Wähler*innenschaft starke anti-kurdische und anti-HDP Tendenzen.
Es ist also ein beständiges Schwanken der bürgerlichen Hauptoppositionsparteien hinsichtlich der HDP zu sehen: Bekundete der stellvertretende Chef der IYI, Yavuz Ağıralioğlu, dass sie die Aufhebung der Immunitäten von HDP-Parlamentar*iennen unterstützen werden (weil Terror!), ruderte gleich darauf die Chefin der IYI, Meral Akşener, zurück und betonte, man würde nicht einfach so, ohne genauere Prüfung, die Immunitätsaufhebungsanträge abnicken. Dieselbe Akşener sagte aber auch noch kurz zuvor im Februar 2021, Selahattin Demirtaş (der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, der seit mehreren Jahren im Gefängnis sitzt) sei organisch mit dem „Terror“ verbunden und sie suche kein Bündnis mit der HDP. Zur Verbotsdrohung gegen die HDP blieb und bleibt sie allerdings gezielt vage und hält sogar eine Unterstützung dafür von Teilen ihrer Partei für möglich. Innerhalb der IYI wird diskutiert, wie es zu bewerkstelligen ist, sich so scharf wie möglich von der HDP abzugrenzen, zugleich aber auch nicht dem Regime zuzuarbeiten; etwa, indem man beispielsweise durch Akzeptanz der Immunitätsaufhebungen auch die Ausweitung der Repression auf die restliche Opposition ermöglicht. Die IYI denkt offensichtlich auch über die Gründung eines dritten Wahlbündnisses nach, sollten CHP und HDP offen miteinander koalieren. Einige wenige Austritte aus der IYI wegen der „Nähe zur HDP“ hat es ebenfalls schon gegeben. CHP-Chef Kılıçdaroğlu hingegen weicht zwar vom Ultranationalismus seines Vorgängers Deniz Baykal betreffs der „kurdischen Frage“ ab, lehnte aber den „Friedensprozess“ mit der PKK ab 2009/2010 dennoch ab – mit der Begründung, dieser nutze der PKK und Öcalan. In den letzten Jahren stach er damit hervor, dass er militärische Invasionen der türkischen Armee gegen die PKK und kurdische Gebiete in Syrien unterstützte und zudem denjenigen Immunitätsaufhebungsanträgen zustimmte, die überhaupt erst zur Inhaftierung der ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP (und später auch zur Inhaftierung eines CHP-Parlamentariers) führten. Auch aktuell lehnt er die offensichtlich zur Schwächung und Spaltung der Opposition eingesetzten Immunitätsaufhebungsanträge nicht rigoros ab, sondern bekundet, man müsse erst mal deren Inhalte „prüfen“.
Ein wirkliches Novum war allerdings die Reaktion der bürgerlichen Opposition auf eine in ihrer Zielsetzung und Umsetzung bis heute nicht ganz aufgeklärten Militäroperation des türkischen Staates im irakisch-kurdischen Gebirge von Gara im Februar 2021. Während der Operation kamen 13 türkische Geiseln in der Hand der PKK um, wofür sich der türkische Staat und die PKK gegenseitig beschuldigten. Während die bürgerlichen Oppositionsparteien bei solchen Operationen – insbesondere mit so hohen Verlusten – üblicherweise sofort an der Seite der Regierung stehen, blieben sie diesmal kritisch-distanziert und stellten viele Fragen bezüglich des Zwecks und des genauen Ablaufs der Operation. Das versetze natürlich das Regime in Rage. In diesem Fall durchschauten also die bürgerlichen Oppositionsparteien die politische Inszenierung des Operationsablaufs als Methode des Regimes, sich Legitimation auch im oppositionellen Lager zu organisieren. Das Verbotsverfahren gegen die HDP ist in dieser Hinsicht natürlich auch eine Initiative des Regimes, um die bürgerliche Opposition dazu zu zwingen, sich nicht mehr schwankend angesichts der „kurdischen Frage“ beziehungsweise der HDP zu verhalten, sondern sich eindeutig zu positionieren – und dafür den Preis bezahlen (nämlich entweder die Unterstützung der Kurd*innen oder die der Nationalist*innen zu verlieren).
Die Versuche zur Spaltung und Einbindung der Opposition erfolgen indes nicht ausschließlich über die „kurdische Frage“. Zum einen fällt die wohlwollende Berichterstattung über Spaltungen innerhalb der Oppositionsparteien ins Auge. Eine offiziell mit Verweis auf die „kurdische Frage“ und Nähe zur Gülen-Gemeinde erfolgte Abspaltung von der IYI wurde seitens der Regimepresse gut aufgenommen. Auch der Präsidentschaftskandidat der CHP von 2018, Muharrem Ince, trat aus der CHP aus und hat mittlerweile eine eigene Partei gegründet. Auch über ihn wurde in der Regimepresse sehr wohlwollend berichtet und das Vorgehen der CHP gegenüber Ince skandalisiert. Aber es wird unter Umständen auch direkter interveniert: So besuchte Erdoğan im Januar 2021 ein wichtiges Mitglied der kleinen oppositionellen Partei der Glückseligkeit (Saadet Partisi, SP), die aus der Tradition des politischen Islams in der Türkei kommt und von deren Vorgängerin sich die AKP als Abspaltung gegründet hat. Offensichtlich konnte Erdoğan diese Persönlichkeit (Oğuzhan Asiltürk) von einer Wiederannäherung an die AKP überzeugen. Seit kurzem plädiert Asiltürk offen dafür, dass sich die SP der Wahlallianz des Regimes, der Volksallianz (Cumhur İttifakı) anschließt und ihre oppositionelle Rolle aufgibt. Er versucht mittlerweile zunehmend aggressiv, die Macht innerhalb der SP zu übernehmen, wobei auch die derzeitige SP-Führung selbst in ihrer Opposition zur AKP nicht immer klar positioniert ist. Offensichtlich zielen diese Taktiken darauf ab, eine Demobilisierung, Demoralisierung und/oder sogar ein Überlaufen von Teilen der Opposition herbeizuführen.
Nicht zuletzt erfolgen Einbindungsversuche der Opposition auch über die kümmerlichen Reste gemeinschaftlicher oder konsultativer Verfahren sowie einer angeblich an Rechtsstaatlichkeit orientierten Reformagenda. Bei der Besetzung von sieben neuen Mitgliedern des für die Ernennung aller wichtigen Richter*innen und Staatsanwält*innen zuständigen Rats für Richter und Staatsanwälte (Hakim ve Savcılar Kurulu, HSK) erlaubte das Regime der CHP und IYI, zwei der Mitglieder zu ernennen und somit so etwas wie eine „gemeinsame Verantwortung in der Staatsführung“ zu evozieren. Auch wurde zeitweise darüber gemunkelt, das Regime könne einige wenige Zugeständnisse an die rechten Oppositionsparteien machen bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung – und selbstredend im Gegenzug Unterstützung für die neue Verfassung erhalten. Und wie schon vor zwei Jahren wurde mit großem Tamtam ein Menschenrechtsaktionsplan verkündet, das angeblich Menschenrechte schützen und willkürlichen Haftstrafen vorbeugen und dadurch als Schein einer Teilliberalisierung die oppositionelle Energie dämpfen sollte. Letztlich tragen die Zugeständnisse an gemeinschaftliche Verfahrensweisen und die Reformagenda allerdings nicht weit, da sie schon von Anfang an weitestgehend Makulatur waren.
Denn gemeinschaftliche Verfahren und Rechtsstaatlichkeit vertragen sich, viertens, nicht mit dem andauernden Faschisierungsprozess als Krisenbearbeitungsmodus, der daher auch einer anderen Legitimationsbasis, namentlich einer autoritären bedarf. In dieser Hinsicht erfolgte zuzüglich der in diesem Artikel schon beschriebenen repressiven Maßnahmen und zur Gewalt anstachelnden Reden seitens des Regimes auch eine erneute Diskussion um die Wiedereinführung der Todesstrafe sowie mehrmalige Forderungen nach der institutionellen Entmachtung oder gar Abschaffung des Verfassungsgerichtes, da es in einigen wichtigen politischen Verfahren nicht nach dem Gefallen des Regimes entschied. Als Zementierung konservativ-autoritären Lebensstils wurden Alkoholverkaufsverbote während pandemiebedingten Lockdowns verhängt, Musik und Unterhaltung müssen aktuell trotz vollständiger Öffnungen um Mitternacht beendet werden. Und es erfolgte die lang angekündigte Aufkündigung der Istanbuler Konvention zum Schutz vor häuslicher Gewalt seitens des türkischen Staates. Der Austritt aus diesem Abkommen war schon letztes Jahr versucht worden, traf aber auch innerhalb des Regimes auf großen Widerstand. Dieses Jahr war das Regime erfolgreich darin, die Kündigung der Istanbuler Konvention durchzudrücken – mit dem Argument, diese legitimiere mit dem Begriff „gesellschaftliches Geschlecht“ „widernatürliche“ (also nicht-heteronormative) Sexualitäten, was „unserem“ Moralverständnis widerspräche. Die restriktive und homophobe Sexualitäts- und Alltagsmoral zielt damit aber nicht nur auf die Unterdrückung und Demoralisierung alternativer Lebensentwürfe und Sexualitäten, sondern vor allem auch auf die Schaffung (oder Stärkung) von und Legitimation durch konservativ-autoritäre Sozialcharaktere. Warum sonst kommt eine Familien- und Sozialministerin auf die Idee, den Anstieg von Gewalt an Frauen für „tolerabel“ zu halten, da sie einen (noch) stärkeren Anstieg mit der Pandemie erwartet hätte? Zugleich erdreistete sich aber das Tourismusministerium Ende Juli 2021 ernsthaft und ohne Scham ein Promotionsvideo über Istanbul mit dem Titel „Istanbul is the new cool“ zu drehen und zu veröffentlichen, das Istanbul als eine säkulare, liberale, offene, lebensfreudige, unbeschwerte, potenziell queere und hippe Stadt darstellte, um irgendwie noch westliche Tourist*innen anzuziehen. Als ob „Enjoy, I’m vaccinated“ nicht gereicht hätte. Die zynischen Kommentare auf Twitter reichten von „das war/ist Istanbul vor/nach der AKP“ bis hin zu „Frauen tanzen, Ballett auf den Straßen, wilde Nächte, Getränke, Tische... Es ist so schön, ich frage mich welches Land das wohl sein mag“.
Nicht zuletzt gab es einige institutionelle Veränderungen zur Stärkung der repressiven Apparate. Die Veränderungen zielen auf die Festigung eines autoritären Staatsaufbaus: Beispielsweise ist es mittlerweile dem Geheimdienst (MIT) und der Polizei erlaubt, bei „terroristischen oder gesellschaftsbezogenen Ereignissen“ auf Waffenbestände des Militärs zuzugreifen. Zudem ist es mittlerweile verboten, mit Handys Aufnahmen von polizeilichen Maßnahmen zu tätigen. Auch wurde die Kontroll- und Interventionsmacht des Innenministeriums über die Vorstände von NGOs bedeutend gestärkt. Und es wird seitens des Regimes die Einführung einer neuen Verfassung diskutiert, die offensichtlich eine verfassungsrechtliche Stärkung der Präsidialdiktatur parallel mit einer Stärkung der türkisch-nationalistischen und islamistischen Elemente der Verfassung zum Ziel hat. Aber keine dieser Maßnahmen konnte verhindern, dass Anatolien Ende Juli wortwörtlich in Flammen aufging.
Anatolien in Flammen
Seit Ende Juli wüten die vermutlich verheerendsten Waldbrände in der Geschichte der modernen Türkei. Über 160.000 Hektar Waldfläche verbrannten vom 28. Juli bis zum 9. August in über 270 Bränden, die 53 von insgesamt 81 Provinzen in Flammenmeere verwandelten.
Es ist natürlich einerseits Zufall, dass im selben Jahr die Corona-Pandemie auf der Welt wütet; in Texas im Februar eine historische Kältewelle zum Zusammenbruch des Elektrizitätsnetzwerkes und zu über 200 Kältetoten führte; Kanada und Teile der USA eine bisher nicht gesehen Hitzewelle von 50° Celsius durchmach(t)en; in Rheinland-Pfalz beziehungsweise Nordrhein-Westfalen (und in Belgien, Luxemburg, der Niederlande und der nordöstlichen Schwarzmeerküste der Türkei) geradezu diluvianische Sintfluten zu immensen Zerstörungen und zum Tod von fast 200 Menschen führten; weitere Regionen rund um das Mittelmeer in Flammen stehen (Waldbrände in Italien, Griechenland, dem Balkan, Algerien...); auch Kalifornien mit dem größten Waldbrand seiner Geschichte kämpft; es sogar in Sibirien zu weitflächigen Waldbränden kommt, während in Grönland die Eiskappen wegen einer Hitzewelle massiv schmelzen und so weiter. Aber es ist zugleich überhaupt kein Zufall, sondern diese Extremwetterereignisse sind eine logische Konsequenz von geradezu eiserner Notwendigkeit. Sie folgen aus dem menschengemachten Klimawandel, wie der aktuell veröffentlichte Weltklimabericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) in aller Ausführlichkeit und wissenschaftlich fundiert festhält. Extremwetterereignisse werden daher unausweichlich zunehmen, einzig die Frage nach dem wann und wo beherbergt eine Prise Zufall. Ähnlich verhält es sich mit dem zumindest stark durch menschliche Handlungen begünstigten Ausbruch und der Verbreitung von Epidemien und Pandemien. Vielleicht wird dieses Jahr irgendwann als das erste ökologische Katastrophenjahr bezeichnet werden, in dem sich die mit apodiktischer Notwendigkeit aus dem Klimawandel und den spezifischen Formen menschlicher Landwirtschaft folgenden Extremwetterereignisse und Pandemien in einem bislang noch nicht gekannten Ausmaß akkumulierten – und damit auch den Menschen in den imperialistischen Zentren die Klimakrise fassbar vor Augen führten. Die UN spricht schon davon, dass wir auf einen Planet hinsteuern, der zu einer „uninhabitable hell“ (S. 3) wird und Leo Panitch bläut uns, etwas arg pessimistisch, schon seit Jahren ein, dass wir uns darauf vorbereiten müssen, den Sozialismus unter Umständen aufzubauen, die denen von Blade Runner ähneln.
Das derzeitige Inferno in Anatolien ist allerdings nicht nur eine Geschichte des menschengemachten Klimawandels. Es führt – wie in einem Brennglas – alle in diesem Artikel bereits angesprochenen sozialen Entwicklungen und Antagonismen konzentriert zusammen und verschärft sie: den neronischen Hochmut des Regimes, das Desinteresse des neoliberalen Staates an Mensch und Natur, die Faschisierung, den Lynchmob, die antikurdische Hetze – aber auch das Potenzial umfassender Solidarität.
An erster Stelle ist das Totalversagen des neoliberalen Staates zu nennen, wo es um Schutz und Überleben von Mensch und Natur geht: Angesichts der völlig unzureichenden Ausstattung von Feuerwehr und Feuerlöschflugzeugen versuchten Dorfbewohner*innen, Polizist*innen und Gendarmen individuell mit eigenen Händen, kleinen Wasserkübeln, Decken und dergleichen den Flächenbrand zu besänftigen; die Evakuation von Tausenden von Menschen aus Küstenorten und Tourismusressorts wurde teils mit privaten Mitteln, das heißt mit Privatjachten, Jetskies und kleinen Booten organisiert. Ganze Dörfer und Städte mussten evakuiert werden; auch das Kohlekraftwerk Ören bei Milas/Muğla, das in letzter Sekunde abgeschaltet und gemeinsam mit der ganzen Umgebung von den Seestreitkräften des türkischen Militärs evakuiert wurde. Es war eine der wenigen Situationen, in denen die Regierung das Militär, das seit dem Putschversuch 2016 direkt dem Gouverneur und der Regierung mit Ausnahme des militärischen Verteidigungsfalles weisungsgebunden untersteht, zu Hilfe rief. Die Furcht vor einer (eher fiktiven denn wahrscheinlichen) kemalistischen „Vereinigung von Volk und Armee“ durch gemeinsame Aktion sitzt tief. Viele freiwillige Brandbekämpfer*innen aus allen Landesteilen, oft politisch links eingestellt, und Dorfbewohner*innen berichten davon, dass lange Zeit gar keine oder kaum Flugzeuge/Helikopter eingesetzt wurden – oder sie, von Staat und Regierung in Stich gelassen, die Brände selbst bekämpfen mussten. „Ich weiß nicht, wer uns helfen wird“, ruft – verzweifelt und wütend zugleich – Ismail Öztürk, ein Dorfbewohner bei Manavgat/Antalya, dessen gesamtes Dorf niederbrannte.
Im Zentrum der Debatte um Staatsversagen steht die beizeiten von Atatürk gegründete gemeinnützige Institution der Türkischen Luftfahrtgesellschaft (Türk Hava Kurumu, THK) und natürlich das Forst- und Landwirtschaftsministerium. Die THK diente historisch nicht nur der Verbreitung und Ausbildung der Luftfahrt, sondern auch der Bekämpfung von Bränden. Noch 2002 besaß sie 19 Löschflugzeuge, die in den 2000er-Jahren im In- wie im internationalen Ausland zum Einsatz kamen. Ab etwa 2010 wurde sie zunehmend heruntergewirtschaftet, indem ihr bestimmte privilegierte Einkommensquellen staatlicherseits gekappt und islamistischen Organisationen übergeben wurden. Seit 2019 wird sie von einem regimetreuen Zwangsverwalter geführt, der 2015 kurzfristig einen Ministerposten innehatte (den für Handel und Zölle), und die THK gemeinsam mit dem Forst- und Landwirtschaftsministerium ganz aus der Brandbekämpfung herauszog. Das Herunterwirtschaften der THK ist dabei nicht nur (aber auch) Teil des antikemalistischen Kulturkampfes der AKP: Die THK steht immer noch für ein „Erbe Atatürks“ und galt als kemalistische Bastion. Das Kaputtsparen der de facto halbstaatlichen, aber nach Privatrecht operierenden THK ist aber auch ganz simpel Teil einer neoliberalen Austeritätspolitik, die an allen hauptsächlich sozialen und infrastrukturellen Ausgaben spart, die als „überflüssig“ gelten. Ein Blick auf das Nachbarland Griechenland, in dem die durch Austerität fast handlungsunfähige Feuerwehr verzweifelt mit dem wenigen Personal, das ihr zur Verfügung steht, versucht, die Brände zu bekämpfen – während zugleich die Polizei massiv aufgestockt wurde und wird –, macht deutlich, wie ähnlich sich zwei neoliberale Staaten an der euro-transatlantischen Peripherie bei allen ideologischen und kulturellen Differenzen sind.
Anstatt die durchaus vorhandenen funktionsfähigen Teile der Flotte der THK sofort zu nutzen – sieben Flieger standen die ganze Zeit flugbereit bei Etimesgut/Ankara auf dem Flugfeld – und die reparaturbedürftigen schnellstmöglich auf Vordermann zu bringen, regnete es Schmähungen und Drohungen auf die THK und alle, die den Einsatz der THK einforderten. Dabei plapperte der Forst- und Landwirtschaftsminister Bekir Pakdemirli natürlich heraus, dass dem Ministerium selbst keine Feuerlöschflugzeuge zur Verfügung stünden. Und der derzeitige Zwangsverwalter der THK gab zu, dass er sich „auf einer Hochzeit“ befand, als ihn CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu verzweifelt versuchte, per Telefon zu erreichen. Dieser wollte ihm das Angebot der am heftigsten vom Feuer betroffenen Gebiete (alle CHP-geführt) überreichen, wonach die betreffenden Munizipalitäten vorschlugen, die Wartungskosten der THK-Feuerlöschflugzeuge zu übernehmen, damit diese schnellstmöglich in den Einsatz geschickt werden könnten. Bis Feuerlöschflugzeuge und -helikopter von Russland, der Ukraine, Israel und Aserbaidschan und anderen Ländern – übrigens zu vermutlich bedeutend höheren Kosten als eine Wartung der THK-Flotte – angemietet wurden und die EU Hilfe schickte, waren die Brände schon zu einem Flächenbrand ausgewachsen.
Sehenden Auges also ließ das Regime die Provinzen in Flammen aufgehen – genauso, wie der römische Geschichtsschreiber Sueton Kaiser Nero beschreibt, der dem Großen Brand von Rom untätig zugeschaut haben soll.
Wie der Nero der Erzählungen Suetons, so verfolgt – abgesehen von der neoliberalen Inkompetenz – auch das Regime in der Türkei offensichtlich mehrere Kalküle mit dem laxen Vorgehen gegen die Brände. Ein Faktor ist vermutlich ein politökonomischer: Bis zu 70% einiger betroffener Provinzen sind mit Bergbaulizenzen versehen. Das Abbrennen der Wälder „vereinfacht“ da natürlich den Bergbau, zumal – zufälligerweise? – unmittelbar zu Beginn der Brände ein Gesetz verabschiedet wurde, das im Prinzip dem Präsidenten das Recht zuspricht, nach Gutdünken Waldgebiete als Bergbaugebiet zu deklarieren. Obwohl der Schutz der Wälder auf Verfassungsrang verbindlich festgelegt ist, wurde dieses Verfassungsprinzip während der AKP-Ära kontinuierlich untergraben. Der Bergbau (Gold, Metalle, usw.) stellt nun mal eines der lukrativsten Investitionsmöglichkeiten für AKP-nahe Kapitalgruppen dar. Auch jetzt wird zwar versprochen und versichert, dass alle niedergebrannten Wälder aufgeforstet werden. Ähnliche hochheilige Versprechungen haben sich allerdings in der Vergangenheit als blanke Lügen erwiesen.
Ein weiterer Faktor ist ein gedoppelter politischer. Zum einen wird die Unfähigkeit, die Brände zu bekämpfen – auch von Erdoğan selbst – der Opposition zugeschrieben. Alle Kommunalverwaltungen der am heftigsten von den Bränden betroffenen Provinzen an der West- und Südküste der Türkei sind nämlich unter Kontrolle der CHP. Das ist natürlich Teil des allgemeinen Kampfes um die Hegemonie zwischen Regime und Opposition um die Gunst der Bevölkerung. Zugleich aber soll und darf aus Regimeperspektive brennen, was zum verhassten West- und Südküstenstreifen der Türkei gehört – das heißt diejenigen Teile des Landes, die während der AKP-Ära durchgehend in der Hand der kemalistischen CHP (oder, wenn auch etwas weniger stabil, der MHP) blieben und daher nun in neronischer Verachtung dem Brand ausgeliefert wurden. Und inmitten dieses Infernos sang das Regime und die Regimepresse eine Ode auf die angeblich unvergleichlich effektive Brandbekämpfung(sinfrastruktur) des türkischen Staates und schwang die Repressionskeule gegen den millionenfach geteilten #HelpTurkey-Hashtag auf Twitter.
Der andere Teil des politischen Kalküls ist die Nutzbarmachung der Brände für die Entfachung des antikurdischen Rassismus und der faschistischen Massenmobilisierung zwecks Legitimationserhalt. Erdoğan höchstpersönlich legte eine Verursachung der Brände durch die PKK nahe. Er bezeichnete die Opposition erneut als „Terroristen“ und drohte durch die Blume mit Gewalt im Falle eines solchen „Vaterlandsverrats“, was die dann natürlich tatsächlich stattfindenden Übergriffe legitimierte und anfachte. Natürlich gibt es bis heute keine Beweise dafür, dass „Saboteure“ oder die PKK die Feuer gelegt haben. Der türkische Staat müsste sich grundlegend Gedanken über seinen Existenzgrund machen, wenn Saboteure und/oder die PKK so fähig wären, dass sie fast die Hälfte des Landes in ein Flammenmeer verwandeln können. Unter Führung vermutlich der MHP (aber auch Teilen der oppositionellen MHP-Abspaltung IYI) und mit tatkräftiger Unterstützung der regimetreuen Revolverpresse wurden über Social Media-Accounts und Internetseiten Hetze gegen angebliche „PKK-Terroristen“ und andere „Bösewichte“ betrieben und bewaffnete rechte Volkswehren zum „Schutze des Vaterlandes“ gegründet. Anstelle die Feuer zu bekämpfen und die Regeneration von Mensch und Natur zu fördern, wie linke Freiwillige es taten, konzentrierten sich diese Volkswehren darauf, Lynchmobs und sogar Passkontrollen auf viel befahrenen Straßen zu organisieren. Alle, die „ausländisch“, „suspekt“ oder, noch schlimmer, wie Kurd*innen aussahen beziehungsweise per Geburtsort als „Kurde“ identifiziert werden konnten, wurden angegriffen und regelrecht zum Abschuss freigegeben. Die Aufwiegelung ging so weit, dass ein Gendarmerie-Kommandant intervenierte und organisierte Zivilist*innen in scharfen Worten mahnte, nicht auf Falschinformationen bezüglich angeblicher „Terroristen“ und Sabotageakten reinzufallen. Die Gendarmerie hätte eine Reihe an solchen anonymen Meldungen geprüft; alle seien falsch gewesen und hätten Unschuldige bewusst zur Zielscheibe erkoren. Der Kommandant hob explizit hervor, dass solcher Art Informationen der wechselseitigen Aufhetzung und der Lynchjustiz dienten. Offensichtlich befürchten auch Teile des Staates, dass die betriebene Hetze zu einem unkontrollierbaren Chaos und zur weiteren Destabilisierung des Landes führt.
Alle gegen alle – im Namen von Staat und Erdoğan!
Denn inmitten der autoritären Konsolidierungsversuche verschärft sich mit dem sich einengenden ökonomischen Spielraum und der allgemeinen Krisenhaftigkeit der konflikthafte Charakter der Polykratie. Polykratie bezeichnet ein „äußerst komplizierte[s] Herrschaftsgefüge[], aufgebaut aus mehreren, sich gegenseitig nicht selten bekämpfenden und blockierenden Zentren, die allerdings in der Regel […] dem allmächtigen Führer“ (S. 417) untergeordnet bleiben. Zu so einer Situation kommt es üblicherweise mit der schrittweisen Ersetzung konstitutionell-institutioneller Vermittlungs- und Politikformen durch dezisionistische Politik- und Staatsformen. Dezisionismus heißt in diesem Fall, dass das politische Handeln nicht primär mittels rechtsstaatlich-konstitutionell abgesicherten und für alle relevanten Machtakteur*innen verbindlichen Regeln, Normen und gemeinschaftlichen Vermittlungsformen stattfindet. Vielmehr sind es unmittelbare Entscheidungen von potenten Machtakteur*innen, aus deren Handlungen auch Gesetz und Norm folgen oder zumindest nach gusto interpretiert/angewandt werden (können). [9]
Die grundlegende dezisionistische Fiktion ist natürlich diejenige, dass es in einem politischen Zustand, in dem der Dezisionismus dominant ist oder eine wichtige Rolle spielt, nur einen Souverän gibt, aus dessen Entscheidung dann alles Relevante folgt beziehungsweise dem alle anderen politischen Organe untergeordnet sind. Stattdessen tun sich unter dem einen offiziellen (dezisionistisch agierenden) Souverän (in diesem Fall Erdoğan), der sich auch in das Geschäft anderer staatlicher Institutionen einmischt, lauter kleinere (Möchtegern-)Souveräne und Machtblöcke hervor, die miteinander konkurrieren um Macht und Einfluss, eben eine Polykratie. Da aber konstitutionell-institutionelle Vermittlungsformen politischer Konflikte fehlen oder den dominanten dezisionistischen stark untergeordnet sind, werden diese Konflikte oft hinter den Kulissen geführt. Bündnisse und Kooperationen werden ad hoc und institutionell nicht abgesichert geschlossen – und genauso abrupt wieder aufgekündigt. Dabei nehmen alle untergeordneten, aber dennoch entscheidenden, Akteur*innen für sich in Anspruch, ganz und gar im Sinne des offiziellen Souveräns (Erdoğan) oder des Staatswohls zu handeln, da diese Elemente das Einzige sind, worauf sich die dezisionistischen Akteure als übergeordnete Institutionen einigen können. Da diese selbst aber durch den Dezisionismus entweder fast jedweder Verbindlichkeit und objektivierter Institutionalisierung beraubt sind oder aber selbst wesentlich dezisionistisch agieren, wird der politische Konflikt innerhalb des polykratischen Gefüges zunehmend eruptiv und agonal ausgetragen, insbesondere, wenn der politische und ökonomische Verteilungsspielraum durch die andauernde Krisenhaftigkeit kleiner wird.
Erdoğan thront als Schiedsrichter letzter Instanz über dem polykratischen Kampfplatz und versucht, dessen Volatilität durch ad hoc kalkulierte Balanceakte unter Kontrolle zu halten.
Es macht daher auch Sinn, von einem (politischen) Regime zu sprechen, da nicht alle relevanten politischen Akteur*innen auch öffentliche oder offen gelegte politische Funktionen übernehmen, aber dennoch im und außerhalb des Staates politisch maßgeblich sind. Die MHP hat beispielsweise keinen einzigen Ministerialposten inne – dennoch organisiert sie ihre Kader in bestimmten Staatsapparaten und wirkt ganz maßgeblich mit an der Formulierung der Regierungspolitik.
Über die Ausmaße dieses polykratischen Zustandes habe ich anderorts ausführlich geschrieben. Ich möchte hier auf die aktuellen Entwicklungen eingehen. Zum einen hat sich der Machtkampf zwischen dem – von den Nationalisten der MHP unterstützten – Innenminister Süleyman Soylu, der nicht aus der Tradition des politischen Islams stammt, und dem aus der Tradition des politischen Islams kommenden Schwiegersohn von Erdoğan, Berat Albayrak (ehemals Finanz- und Wirtschaftsminister), durch den weiter oben diskutierten Rücktritt von Albayrak Ende letzten Jahres vorerst im Sinne von Soylu – und daher im Sinne des nationalistischen Lagers beziehungsweise eines nationalistischen Kräftenetzwerkes im derzeitigen Regime – entschieden.
Dieses Netzwerk befindet sich mit dem erneut eskalierten Krieg gegen die Kurd*innen ab 2015 und der, politisch betrachtet lebenserhaltenden, Unterstützung der MHP für die AKP schon seit geraumer Zeit im Aufwind. Auch in diesem Jahr übernahm der MHP-Chef Bahçeli wie in den Jahren zuvor die Initiative im Faschisierungsprozess der Türkei, indem er die Wiedereinführung der Todesstrafe, mehrmals die Entmachtung und/oder Abschaffung des Verfassungsgerichtshofes und letztlich eine neue Verfassung vorschlug. An letzterem entfachte sich ein bisher nicht weiter hochgekochter Konflikt mit der AKP, da Bahçelis Vorschlag zwar auf ein autoritäres Staatssystem ausgerichtet ist, aber auch explizite Kontrollmechanismen des Präsidenten, beispielsweise durch ebenfalls direkt gewählte Präsidentenberater (sozusagen durch faschistische Tribune) vorsieht. Auch bei der Verbotsforderung gegenüber der HDP war Bahçeli lautstark vorne dabei – mit Sicherheit auch deswegen, um der Möglichkeit einer taktisch-instrumentellen Annäherung der AKP an die HDP oder einem erneuten „Friedensprozess“ zuvorzukommen, da die MHP selbst Haupttreiberin und eine der Hauptprofiteurinnen des militaristischen Kurses ist. Demgegenüber könnte die AKP unter Umständen auch wegen ihrer Geschichte zu einem taktisch-instrumentell verstandenen „Friedensprozess“ mit der kurdischen Bewegung zurückkehren oder eine Rückkehr wahltaktisch in Aussicht stellen, auch wenn dies aufgrund der Entwicklungen immer unwahrscheinlicher wird. Ähnliches, wenn auch auf einem viel niedrigeren Niveau, wurde schon bei den Kommunalwahlen 2019 versucht. [10] Dass Erdoğan vor Kurzem die mehrheitlich kurdische Großstadt Diyarbakır besuchte und betonte, es sei nicht die AKP gewesen, die den „Friedensprozess“ beendet habe (sondern natürlich PKK und HDP), war für die türkischen Verhältnisse seit 2015 ein Novum, weil es den Friedensprozess zumindest wieder zum Thema machte. Erst kürzlich hob er kontrafaktisch hervor, dass es der türkische Staat gewesen sei, der die Kurd*innen in Kobâne vor dem IS geschützt habe. Prompt intervenierte Bahçeli und gab öffentlich zu verstehen, dass niemand irgendwelche „Absichten“ (sprich, auf einen erneuten Friedensprozess) herauslesen sollte.
Im Zuge der Erstarkung des nationalistischen Lagers in seiner Breite sowie der erneuten offenen Militarisierung der Türkei sind auch zentrale Akteur*innen des Tiefen Staates der 1990er als wirkmächtige Akteur*innen erneut in die Öffentlichkeit gerückt.
Ryan Gingeras hält fest, dass der Begriff des Tiefen Staates genutzt wird, um
to explain why and how agents employed by the state execute policies that directly contravene the letter and spirit of the law. It is a phrase that generally refers to a kind of shadow or parallel system of government in which unofficial or publicly unacknowledged individuals play important roles in defining and implementing state policy. Although military officers are often seen as ringleaders in administering the Turkish deep state, the participation of narcotics traffickers, paramilitaries, terrorists and other criminals is also deemed essential in constructing the deep state. […] Paramount to the operation and survival of the deep state is the extreme emphasis placed upon state security[.] (S. 152-54, 173)
Im Tiefen Staat spielen also Persönlichkeiten innerhalb und außerhalb des Staates eine zentrale Rolle in der Formulierung und Umsetzung legaler wie vor allem illegaler Sicherheitspolitik im Namen der „Staatssicherheit“. Die ehemalige Premierministerin Tansu Çiller, die alle (das heißt vor allem auch rechtswidrig vorgehende Paramilitärs) als „Helden“ bezeichnete, die für den Staat töten und getötet werden; der ehemalige Polizeichef und Innenminister Mehmet Ağar, der für den Aufbau der Sondereinsatzkräfte der Polizei und ihrer semi- bis illegalen Kriegsführung in den kurdischen Gebieten in den 1990er maßgeblich verantwortlich war (und wegen der Bildung einer kriminellen Organisation während seiner Amtszeit ins Gefängnis musste); sowie nationalistische Mafiabosse, darunter auch Sedat Peker, wurden seit 2015/16 juristisch wie politisch rehabilitiert und unterstütz(t)en seitdem die AKP. Auch Innenminister Süleyman Soylu kommt aus der politischen Tradition, aus der auch Mehmet Ağar kommt. Ein Foto aus dem letzten Jahr, auf dem besagter Mehmet Ağar, ein ultranationalistischer Mafiaboss und zwei ehemalige hochrangige Militärs aus dem Gebiet der „speziellen Kriegsführung“ in einem Luxusyachthafen posieren, zeigt deutlicher als alle Worte, was Tiefer Staat in der Türkei ist.
Aber die Konflikte innerhalb dieses polykratischen Regimes nehmen nicht ab, sondern eher zu. So kam es zu einem größeren Machtkonflikt mit einer spezifischen nationalistischen Fraktion, die wegen ihrer außenpolitischen Perspektive einer zu erschaffenden Balance zwischen USA und Russland als Eurasier bezeichnet werden. Diese Fraktion war ebenfalls nach dem Bruch zwischen AKP und Gülen-Gemeinde 2012-13, spätestens jedoch ab 2016 juristisch wie politisch rehabilitiert worden. Sie konnte sogar eine starke mediale Präsenz entwickeln und in Diplomatie und außenpolitischer Sicherheitsdoktrin partiell den Ton angeben, trotz fehlender elektoraler Verankerung. Der vorgeschobene Grund für den jetzt aufbrechenden Machtkonflikt war eine eher spielerische denn ernsthafte Infragestellung des Vertrages von Montreux (1936), der die Hoheit der Türkei über die Bosporus-Meerenge und die Freiheit der Handelsschifffahrt garantiert, dabei aber zugleich den internationalen militärischen Schiffsverkehr stark einschränkt. Diese Infragestellung ist jedoch ein Symptom der außenpolitischen Reorientierung des Regimes in Richtung einer engeren Zusammenarbeit mit den USA und dem Westen im Allgemeinen: Vor allem Staaten, die nicht Anrainer des Schwarzen Meeres sind, sind von den militärischen Beschränkungen des Vertrages betroffen. Daher veröffentlichten unter anderem mehr als 100 ehemalige Admiräle aus besagter eurasischer Fraktion eine Erklärung, die zur Einhaltung des Vertrages mahnte, da sie eine Beschädigung des Verhältnisses zu Russland befürchteten. Es war zugleich ein Manöver, um ihrer offensichtlich anstehenden politischen Liquidation zuvorzukommen. AKP und MHP reagierten umgehend und verurteilten die Erklärung als „Putschversuch“; es folgte eine riesige Razzia gegen die Admiräle. Ein hochrangiger AKP’ler bezeichnete die Erklärung als „Gottes Segen“ – so wie Erdoğan den Militärputsch 2016 als Gottes Segen bezeichnet hatte –, der ihnen die Säuberung der eurasischen Elemente ermögliche. Der intellektuelle Kopf der Eurasier, der ehemalige Admiral Cem Gürdeniz, war gemeinsam mit anderen wichtigen eurasischen Militärs nach Jahren der teils öffentlichen Lobpreisung seitens des Regimes im Handumdrehen zur persona non grata geworden – eine typische Entwicklung in dezisionistisch-polykratischen Bündniskonstellationen.
Auch mit dem Hauptbündnispartner MHP und der um sie und in ihr organisierten nationalistischen Fraktion kommt es zu Konflikten. Die „kurdische Frage“ und die Kontrolle über das Präsidialamt beziehungsweise die Debatte um die neue Verfassung habe ich schon erwähnt. Es gibt aber auch einen Kampf um die ideologische Deutungshoheit im Allgemeinen. Eine Wiederannäherung Erdoğans und der AKP an Parteien sowie an Kultur- und Symbolpolitik des politischen Islams ist klar erkennbar. Nach 2015-2016 hatte eine türkisch-nationalistische und staatsverherrlichende Wende stattgefunden, da die AKP angesichts der Hegemoniekrise und des Bruchs mit ihrem ehemaligen Bündnispartner, der Gemeinde des Predigers Fetullah Gülen, das Bündnis mit unterschiedlichen nationalistischen Fraktionen in Staat und Gesellschaft suchte. Jetzt aber versucht die AKP wieder umzuschwenken. Ihr geht es dabei wie bei der instrumentellen Tuchfühlung an die Kurd*innen zum einen darum, das eigene Bündnisnetzwerk ausweiten und damit zugleich die Opposition zu schwächen. Das habe ich weiter oben bezüglich der Annäherungen an die Saadet Partisi (SP) ausgeführt. Die AKP nahm hierfür auch eine innere Erneuerung ihrer Kaderstruktur vor und versetzte erneut viele Persönlichkeiten aus der Tradition des politischen Islams in entscheidende Stellen der Parteistruktur. Andererseits geht es ihr aber auch darum, im Ideologischen und Kulturellen dafür zu sorgen, dass ihr die Führung nicht zugunsten der nationalistischen Fraktionen entgleitet. Schon früher gab es darum Konflikte. Wegen der Abschaffung eines erznationalistischen Eidspruchs in Schulen oder bestimmter anti-islamistischer Regularien bei den Rekrutierungsmechanismen des Militärs gab es jüngst einen ähnlichen Konflikt zwischen AKP und nationalistischen Fraktionen.
Dabei treten auch in der Reorientierung der AKP auf einen islamistischen Kulturkampf dezisionistische Elemente zutage: Der Imam der erst jüngst wieder in eine Moschee konvertierten Hagia Sophia, Boynukalın, trat mehrmals initiativ ins Rampenlicht, indem er lautstark gegen hohe Zinsen, den Laizismus, LGBTQI*, die Nutzung des Begriffs „Femizid“ sowie die Istanbuler Konvention Stellung bezog und das seiner Interpretation nach vom Quran verbürgte Recht des Mannes über die Familie zu herrschen verteidigte. Er überschätzte sich allerdings. Nach großem öffentlichen Druck trat er im April diesen Jahres zurück. An seiner Statt ergriff gleich der nächste Imam die Initiative: Bei einem Gebet, bei dem auch Erdoğan zugegen war, bezeichnete er den Staatsgründer Atatürk als „Unterdrücker und Ungläubigen“, was natürlich ebenfalls zu einem großen Skandal wurde. Ein anderer AKP-Parlamentarier war der Meinung, dass „die Scharia unser Gesetz“ ist, während ein stellvertretender Fraktionsvorsitzender der AKP die Perspektive vertrat, dass die geplante neue Verfassung eine „Verfassung der Neubegründung“ der Republik anstrebe. Der eigentliche Fraktionsvorsitzende der AKP ruderte prompt zurück und versicherte, dass man an der Republik von 1923 festhalten werde.
Der Kampf um die Justiz setzt sich ebenfalls fort. Wie gehabt beschweren sich zentrale Figuren des Verfassungsgerichtshofs regelmäßig über unterschiedliche Aspekte mangelhafter Rechtsstaatlichkeit im Land; etwa über die mangelhafte Umsetzung von Urteilssprüchen des Verfassungsgerichtes. Dabei hält sich das Verfassungsgericht selber „nach oben hin“, also hinsichtlich der Umsetzung von Urteilen des Europäischen Menschengerichtshofes, nicht immer an dessen Beschlüsse. Es handelt also selbst nicht rechtsstaatlich und ist intern politisch grob in zwei Lager gespalten. Erdoğan versucht, eigene Leute in diese Institution zu platzieren, die noch nicht vollständig unter seiner Kontrolle ist. Innerhalb des polykratischen Herrschaftsgefüges hat sich das Verfassungsgericht den Ärger führender Vertreter des Regimes zugezogen, da es in einigen besonders krassen rechtswidrigen Fällen nicht im Sinne des Regimes entschied: Beispielsweise beim Demonstrationsrecht, dem ersten Verbotsantrag gegen die HDP (das mangels überzeugender Begründung einstimmig zurückgewiesen wurde!) und bei der offensichtlich rechtswidrigen und rein politisch motivierten Inhaftierung eines HDP-Parlamentariers (Ömer Faruk Gergerlioğlu). Es kam sogar zu einem sehr heftigen öffentlichen Schlagabtausch zwischen einem vermutlich linksnationalistischen Richter des Gerichts und dem Innenminister Soylu. Aus diesen Gründen speist sich die mehrfach erfolgte Forderung nach der Abschaffung des Verfassungsgerichtes, allen voran seitens der MHP. Das Verfassungsgericht befürchtet, dass der Vertrauenseinbruch in das Justizsystem zu groß wird und es „notwendigerweise zu Suchbewegungen außerhalb des Justizsystems“ (AYM-Vorsitzender Arslan) kommt; dass also die staatliche Ordnung aktiv in Frage gestellt und Gerechtigkeit außerstaatlich gesucht wird. Ähnlich argumentiert auch der Justizminister Abdülhamit Gül, der deshalb mit Innenminister Soylu seit längerem im Clinch liegt. Soylu fordert beispielsweise im Gegensatz zu Justizminister Gül die Fortführung von Elementen des Ausnahmezustandes; diese seien nützlich im „Kampf gegen den Terror“ (Soylu hat sich in dieser Angelegenheit mittlerweile durchgesetzt). Aber letztlich bilden die Gegensätze Verfassungsgericht-Lokalgerichte oder (Abdülhamit) Gül-Soylu nur unterschiedliche Nuancen desselben dezisionistisch-polykratischen Herrschaftsgefüges im Justizsystem. Die Justiz als solche ist in hohem Maße durchpolitisiert und so zu „unabhängigen“ Entscheidungen nicht fähig. Sichtbar wird dies etwa aus einer Untersuchung von Reuters auf Grundlage von Daten des Justizministeriums, nach der 45% der 21.000 Richter*innen und Staatsanwält*innen drei oder weniger als drei Jahre Erfahrung im Amt haben.
„Der Staat ist heilig, nicht aber das Wort eines jeden, der ihm dient“
Zurück zum Aufhänger des Essays, dem berüchtigten Mafiaboss, Stoßtruppler des tiefen Staates und mittlerweile Social Media Star Sedat Peker.
Peker ist MHP’ler und tritt ein für die Schaffung eines großtürkischen Reiches – er ist also ein typischer ultranationalistischer Faschist, genauer gesagt ein Pantürkist. Als Mafiaboss übernahm er laut seinen eigenen Aussagen auch bewaffnete Aufgaben für den Staat im Kampf gegen die PKK.
In Geheimdienstberichten der 1990er wird er namentlich genannt als Akteur innerhalb der mit dem Geheimdienst konkurrierenden staatlichen Elemente des Tiefen Staates. In den späten 1990ern und frühen 2000ern erlosch sein Glanz – wie der der anderen nicht-staatlichen Elemente des Tiefen Staates. Innerhalb der staatlichen Elemente des Tiefen Staates setzte sich die Überzeugung durch, nach der Inhaftierung von Abdullah Öcalan seien diese schwer kontrollierbaren und relativ autonomen Akteure nicht mehr nützlich genug für den Staat. Ein Mafiaboss nach dem anderen landete im Gefängnis oder musste ins Ausland fliehen, die kurdische Hizbullah wurde dezimiert. Aber wie schon erwähnt: Spätestens mit der offen militaristisch-nationalistischen Wende der AKP ab 2015 krochen diese Kreaturen wieder hervor. Auch Sedat Peker, der 2016 wieder zu fragwürdigem „Ruhm“ gelangte: Er bedrohte die Akademiker*innen für den Frieden (BAK) damit, dass er in ihrem Blut duschen werde. Seitdem wurde er wieder zu einer angesehenen und für das Regime mobilisierenden Persönlichkeit – bis er sich 2020 ins Ausland absetzte. Einige Monate später, im April 2021 kam es dann zu einer großen Razzia gegen seine Familie und seine Mafiastrukturen.
Laut eigener Aussage hatte ihn der Innenminister Soylu vor dieser möglichen Razzia gewarnt und Peker deshalb empfohlen, für einige Zeit ins Ausland zu verschwinden, bis sich die Lage beruhige. Es ist bisher nicht wirklich ersichtlich, warum genau Soylu Peker fallen ließ; auch Peker äußert in seinen ersten Videos Verwunderung und vor allem Entrüstung über den Innenminister: Peker habe doch auch aus dem Ausland so sehr für Soylu im Kampf gegen Albayrak Position bezogen. „Du warst doch mein Rückkehrticket“, bricht er an einer Stelle in seinem fünften Video ehrlich entrüstet hervor, als er sich direkt an Soylu wendet. Im Endeffekt ist dieses Detail vielleicht auch unwichtig. Im Allgemeinen können wir einen polit-ökonomischen und vermutlich einen politischen Ursachenkomplex für den Zwist ausmachen, auch ohne alle Details genau zu kennen.
Politökonomisch betrachtet handelt es sich um ein Auseinanderbrechen von Teilen des unendlich komplex ausdifferenzierten milliardenschweren Klientelgeflechts der Netzwerke um und zwischen Erdoğan und dem Regierungsclan der Aliyevs in Aserbaidschan, in welchem die nicht zum engen Netzwerk gehörenden Akteure geschasst wurden, als sich ökonomische Probleme (primär Schuldenrückzahlungsprobleme) einstellten. Peker war wohl mit einem azerischen Oligarchen alliiert, der in Bedrängnis geriet und unterging – das zumindest legt die verlinkte Analyse von Bahadır Özgür nahe. Politisch betrachtet ist es ein wahrscheinliches Szenario, dass sich ein Teil des nationalistischen Machtblocks dafür einsetzt, dass Albayrak (oder Soylu?) sich zum Nachfolger von Erdoğan heraufarbeitet, um im Windschatten des schwachen Albayrak (oder Soylus?) erneut die dominante Kraft im Staat zu werden. Peker hat sich wohl Gerüchten nach relativ autonom und gegen diesen Block und Albayrak (oder Soylu?) gestellt und geriet dadurch auf die politische Abschussliste. Warum ihn dann der mit Albayrak verfeindete Soylu fallen ließ, darüber können wir, wie gesagt, derzeit nur spekulieren. Mittlerweile rühmt sich Peker auch damit, dass er Soylus Pläne auf das Präsidialamt zerstört habe. Eventuell war nicht Albayrak, sondern Soylu die Person, die den Windschatten für die nationalistische Fraktion hervorbringen sollte. Oder aber die Person änderte sich im Laufe der Zeit.
Was wir wissen ist, dass Soylu bisher versucht, die ganze Affäre dahingehend auszunutzen, gegen die islamistischen Fraktionen innerhalb der AKP vorzugehen und partiell auch gegen vergangene Politik der AKP wie beispielsweise den Friedensprozess zu wettern, also in die Offensive zu kommen. Dabei hat er aber einen schweren Stand: Innerhalb der zentralen Machtstellen des Polizeiapparates ist anscheinend schon ein Kampf zwischen Soylu-nahen und anti-Soylu-Fraktionen entbrannt – und auch in Bevölkerungsumfragen steht Soylu mittlerweile schlecht da. In einem der wichtigsten Think Tanks des Regimes, SETA, hat es vermutlich die zuvor Soylu unterlegene Albayrak-Fraktion geschafft, die gesamte Soylu-nahe Fraktion auszumerzen (die wiederum, typisch für einen polykratischen Führerstaat, mit viel Pathos und der Ansage: „wir werden weiter auf dem Weg marschieren, den der Präsident gezeigt hat“, den Think Tank mit wehenden Fahnen verließ). Auch innerhalb der Bürokratie der TCMB scheint die Albayrak-Fraktion die Oberhand gewonnen zu haben. Wie gesagt: Wo Dezisionismus und Polykratie herrschen, da können Verbündete von gestern Feinde am nächsten Tag sein und umgekehrt.
Pekers erneuter Aufstieg und das Aufplatzen der von ihm „aufgedeckten“ Skandale als Form politischer Abrechnung wären nicht möglich gewesen ohne die ausgeuferten Verschränkungen von Dezisionismus, Polykratie und Klientelkapitalismus – letzterer als Mechanismus der Loyalitätsbildung – der letzten Jahre.
Anfänglich – wie er selbst in seinen Videos betont – motiviert aus Entrüstung, Wut und Rachedurst erzählte Peker in einer immer wieder durch ausführliche Drohungen und Kampfansagen an Mehmet Ağar, Albayrak und Soylu durchsetzten manisch-narzisstischen Inszenierung aus dem Plauderkästchen dezisionistischer und klientelistischer Willkür hinter den Kulissen. Bis Mitte-Ende Mai ging es in seinen Videos darum, wie sich angeblich Mehmet Ağar im oben erwähnten politökonomischen türkisch-azerischen Geflecht den ebenfalls oben erwähnten Luxusyachthafen mit unlauteren Mitteln krallte; sein Sohn (ein AKP-Parlamentarier) eine Frau vergewaltigt und umgebracht und sich dann durch den Staat habe decken lassen; darum, dass der Sohn des ehemaligen AKP-Premiers Binali Yıldırım, Erkam Yıldırım, angeblich den Drogenhandel zwischen Kolumbien-Venezuela-Türkei-Zypern organisiert habe; um einen lokalen Polizeichef in Silivri, der Suizid beging, weil er anscheinend dem Druck politischer Direktiven Soylus nicht mehr standgehalten habe; um eine Hand voll erzopportunistischer Journalisten wie Hadi Özışık oder Veyis Ateş, die sich inmitten der Auflösung des Konstitutionalismus im Glanze von Macht und Geld zu Vermittlern zwischen Macht und Geld aufgespielt hätten (unter anderem auch zwischen Peker und Soylu); um Süleyman Soylu selbst, der seine Position als Minister ausgenutzt habe, um sein Versicherungsunternehmen aufblühen zu lassen; aber auch darum, wie Peker im Zypern der 1990er seinen Bruder dem Militär für extralegale Aktivitäten zur Verfügung stellte; wie er im Sinne der AKP 2015 mit Gewalt gegen Medien vorging; wie er AKP-Parlamentariern und AKP-nahen Auslandsorganisationen wie den (zwischenzeitlich verbotenen) Osmanen Germania Geld zusteckte und so weiter und so fort. Wortmeldungen seitens in den Videos genannter Personen, Leaks von Videos und Gesprächen, einige journalistische Recherchen und sogar einige wenige Rücktritte (Veyis Ateş kündigte von seinem Sender, Mehmet Ağar trat von seiner CEO-Position im Luxusyachthafen zurück) legen bei den meisten von Peker erzählten Geschichten nahe, dass in ihnen zumindest ein Fünkchen Wahrheit innewohnt; wie viel genau davon Realität, wieviel Fiktion, wie viel bloß falsches Wissen oder Überheblichkeit ist, werden wir indes wohl erst dann lernen, sobald uns alle relevanten staatlichen Quellen offengelegt werden – wenn überhaupt. Die türkische Justiz tut angesichts der „Enthüllungen“ von Peker bisher jedenfalls – gar nichts.
In der partiell auch von Peker „aufgedeckten“ Geschichte des dubiosen Geschäftsmannes Sezgin Baran Korkmaz kommen alle diese Fäden des Dezisionismus, der Polykratie und des Klientelkapitalismus exemplarisch zusammen. Korkmaz, ein aggressiver Investor kurdischer Abstammung, gehört zu den typischen Neureichen der AKP-Ära. Nach 2016 arbeitete er sich durch Anbiederung an den Staat nach oben, etwa durch Vermittlungstätigkeiten zwischen der us-amerikanischen Geschäftswelt und der türkischen. Unter Umständen spielte er auch eine wichtige Vermittlerrolle im Drogenhandel zwischen Venezuela und der Türkei. Für seine Dienste wurde er offensichtlich klientelistisch belohnt: mit Insiderinformationen zu Unternehmen in der Türkei, die sich in Schwierigkeiten befanden. Diese kaufte er dann aggressiv und vermutlich teils mit unlauteren Mitteln auf. Zudem betrieb er Geldwäsche für die Kingston-Brüder, einer Betrügerbande in den USA, die sich vom us-amerikanischen Staat rechtswidrig Milliarden von Dollar an Zuschüssen zuwenden ließen. Korkmaz hatte offensichtlich Kontakte in alle Bereiche ökonomischer, politischer und juristischer Macht in der Türkei und ließ aus all diesen Bereichen wichtige Personen in seinen Luxushotels umsonst verkehren. Aber er war eben nicht der einzige Klient der Macht: Ein türkischer Konkurrent, der Korkmaz auch ökonomisch unterlegen war und von ihm vernichtet zu werden drohte, wandte sich vermutlich an den Innenminister Soylu (die Details der Story bleiben noch vage). Mit Appellen an Nation, Vaterland und dergleichen hochtrabende Dinge bat er diesen, Korkmaz aus dem Verkehr ziehen zu lassen. Soylu sah vermutlich die Chance gekommen, sich einen getreuen ökonomischen Klienten aufzubauen. Er informierte Korkmaz, ähnlich wie später Peker, vor einer bevorstehenden Razzia und riet ihm zur Flucht. Das Büro für die Untersuchung von Finanzkriminalität (MASAK) fertigte zeitgleich einen vernichtenden Bericht über Korkmaz an – ein paar Monate, nachdem ein vorhergehender Bericht desselben MASAK nichts gegen Korkmaz aufzudecken hatte. Und schon war Korkmaz plötzlich Saulus statt Paulus. Die Leser*in weiß mittlerweile schon: Solche abrupten Umkehrungen sind typisch für dezisionistisch-polykratische Herrschaftsgefüge. Hinzu kommt nun, dass der schon genannte Journalist Veyis Ateş Korkmaz telefonisch kontaktierte – Teile des Telefongesprächs wurden im Zuge des „Skandals“ veröffentlicht – und sich als Vermittler zwischen ihm und Soylu anbot; natürlich im Gegenzug für eine läppische Aufwandsentschädigung von 10 Millionen Euro!
Der Staat war also nicht nur tief, sondern auch sumpfig geworden, voller Kreaturen, denen noch die „nationalen Werte“ der alten Mafiosis und Paramilitärs des Tiefen Staates zu bloßen Instrumenten ihres reinen individuellen Machtopportunismus wurden.
Interessant ist, dass Peker in seinen ersten Videos stets hervorhob, nicht gegen den Staat zu sein. Im Gegenteil, er hielt bei seinen „Aufdeckungen“ und Attacken auch stets den Staatspräsidenten Erdoğan außen vor. Mehrmals betonte er, dass er im Staate aufgewachsen und für ihn gedient habe. „Der Staat existiert ewig, er ist heilig. Es gibt aber kein Gesetz, das vorschreibt, dass das Wort eines jeden, der dem Staat dient, auch heilig ist“, so Peker im dritten Video, und später im siebten Video: „Der Staat ist ein Geist und es ist dieser Geist, der heilig ist“. Deshalb, so Peker, greife er bestimmte üble oder „tiefe“ Elemente im Staat an, nicht aber den Staat als solchen. Er hob hervor, dass „sie“ – Ağar, Soylu, Albayrak … und so weiter? – Erdoğan umgarnt hätten und rief Erdoğan, den er seinen „großen Bruder“ nannte, dazu auf, im Sinne des Staates (und somit natürlich in seinem eigenen) zu intervenieren. Im vierten Video sprach er davon, dass er „vor dem Staat in den Staat“ flüchtete. Das kann wörtlich verstanden werden: Aus der Türkei flüchtete er nach Albanien, dann in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Es ist aber vor allem im übertragenen Sinne zu verstehen: Geschasst im Machtkonflikt innerhalb des polykratischen Staatsgebildes seitens einer ihm feindlich gesinnten Fraktion flüchtete er nach vorne, mitten in dieses Gebilde hinein – in der Hoffnung, das Spiel gegen die ihn verfolgenden Elemente im Staat zu wenden und sich selbst erneut als lukrativen Agent desselben präsentieren zu können. Alle seine Videos sind daher ebenso viele Gesprächsangebote an den Staat im Allgemeinen, an Erdoğan im Besonderen.
Ende Mai drehte er jedoch den Hahn weiter auf. Er betrat sehr sensible Themenbereiche – vermutlich, weil seine Versuche, erneut vom Staat ernst genommen zu werden, bis dato keine Früchte getragen hatten. In seinem achten Video machte er öffentlich, wie seinem Wissen nach die Türkei Waffen an Jihadisten in Syrien lieferte – unter anderem ihn selbst „ausnutzend“, wie er es bezeichnete. Peker kündigte an, auch in eine Abrechnung mit Erdoğan höchstpersönlich gehen zu wollen und dessen Gedächtnis „aufzufrischen“, da Erdoğan leider im Sinne von Soylu Partei ergriffen habe. Er fing an, die AKP im Allgemeinen anzugreifen und darüber zu berichten, wie nicht nur Soylu Klientelismus betreibe, sondern auf welche Art und Weise in allen AKP-Munizipalitäten Korruption und Vetternwirtschaft stattfände. Peker nutzte die Gelegenheit, seine Zuschauer*innen dazu aufzurufen, sich gegen die Regierung zu stellen, diese umzuwälzen und die Ordnung zu verändern, damit Korruption und Klientelismus aufhörten. Er schlug sogar einen linkspopulistischen Ton an: Er sprach von der Plünderung von Ressourcen durch eine Handvoll Klientelkapitalisten, während die Bauern und das Volk in Armut dahindarbten. Er äußerte sich auch darüber hinaus politisch und kritisierte die Kurden- und Alevitenpolitik der Regierung. Auch während der Waldbrände Ende Juli/Anfang August kritisierte er die Schuldzuweisungen an die HDP und bezeichnete die Vorwürfe als „Spiel von Provokateuren im Gewande der Vaterlandsliebe“. Peker vertrat damit eine politische Linie, die sich eigentlich als Mehrheitsmeinung im Staat der frühen 2000er durchgesetzt hatte, namentlich die in diesen „Fragen“ enthaltenen sozialen Antagonismen durch milde integrative Kompromisse zu entschärfen und damit der PKK die soziale Basis abzugraben, ohne von den Prinzipien des türkischen Nationalismus gänzlich abzuweichen. Letztlich konnte er noch so oft betonen, dass er nur einzelne Individuen im Staat angriff und der Staat heilig sei: Ende Mai/Anfang Juni befand Peker sich eindeutig auf Kriegsfuß mit Regierung wie Staat.
Seine veränderte Strategie machte vermutlich Eindruck. In Kombination mit dem großen öffentlichen „Erfolg“ seiner Videos kam es deshalb ab Anfang/Mitte Juni zu einer merklichen Veränderung im Vorgehen von Peker. Am Wochenende des 12./13. Juni 2021 erschien nicht wie erwartet ein neues Video. Zunächst hieß es, Peker sei von türkischen Kommandos entführt worden. Es stellte sich heraus, dass ihn Beamte der VAE (vermutlich des Geheimdienstes) zu einer Befragung einbestellt hatten. Wir wissen nicht genau, was dort und anderweitig besprochen wurde. Peker selbst erzählt die eher unwahrscheinliche Geschichte, dass ihn die VAE-Beamten davor warnten, weitere Videos zu veröffentlichen, da sein Leben in höchster Gefahr sei. Wahrscheinlicher ist, dass die VAE gegen außenpolitische Konzessionen der Türkei Druck auf Peker aufbauten; gleichzeitig ist es sehr wahrscheinlich, dass um diesen Zeitpunkt herum auch Verhandlungen zwischen Peker und dem türkischen Staat, oder besser gesagt, bestimmten Fraktionen im türkischen Staat stattfanden. Die Videos hörten abrupt auf. Seitdem twittert Peker seine „Enthüllungen“ nur mehr. Er ging auch nicht wie angekündigt dazu über, Erdoğan ins Zentrum zu stellen. Stattdessen schoss er sich wieder vor allem auf Süleyman Soylu und dessen angebliches Klientelnetzwerk ein: Beispielsweise machte er publik, dass Soylu angeblich auch nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 unter der Hand Langfeuerwaffen an Zivilisten verteilte in der Vorbereitung auf einen Bürgerkrieg (was plausibel ist, da eine bei der angeblichen Waffenübergabe beteiligte Person das von Peker angeführte Übergabetreffen bestätigt hat, ohne jedoch zu wissen was übergeben wurde, und laut einer Analyse von Daten des Innenministeriums bis zu 100.000 Waffen aus staatlichen Inventaren fehlen). Es ist seitdem offensichtlich, dass Peker seither (wenn nicht schon zuvor) unmittelbar aus dem Polizei- und Justizapparat heraus sensible Informationen auch über sehr aktuelle Ereignisse erhält, die er sodann auch veröffentlicht.
Peker hat also sein subjektives Ziel, als jemandes Agent im Staat zu fungieren und darin zugleich seine eigenen Interessen zu verfolgen, vorerst erfolgreich erreicht. Ende Mai waren seine Videos schon insgesamt 172 Millionen mal angeschaut gewesen, in den Sozialen Medien folgen ihm ebenfalls Millionen Menschen. Öffentliche Umfragen über Kenntnis und Einschätzung der Inhalte von Pekers Videos seitens der Bevölkerung der Türkei oszillieren in ihren Ergebnissen zwar noch zu extrem, um daraus zu tragfähigen Schlüssen zu kommen; es ist aber offensichtlich, dass Peker zu einem popularen Phänomen geworden ist.
Das von ihm wohlkomponiert inszenierte Simulacrum, die Simulation des „Ehrenmannes“, der überpotente Männlichkeit, Gewaltbereitschaft, einen exzessiv-manischen Narzissmus und ein dementsprechendes Selbstbewusstsein gekoppelt mit einer aufmüpfigen, gar politisch oppositionellen Haltung, aber im Namen von Staat (devlet), Nation (millet) und Vaterland (vatan) verkörpert, macht den verführerischen Bann seiner politischen Ästhetik aus.
Sehr erfolgreich auf wenige Minuten ist dies in einem Kunstvideo des Youtubers Tımar Rutherford zur Darstellung gebracht worden. Peker selbst ist natürlich alles andere als irgendwie „oppositionell“ oder gar emanzipatorisch: „Wenn ich Dreck bin, dann nur Dreck der untersten Stufe in einem ganzen System an Dreck“, hebt Peker selber in aller Ehrlichkeit im bisher letzten seiner langen Videos hervor. Durch seine Popularität und seine Befähigung, wichtige Akteur*innen der polykratischen Konfiguration ins Wanken zu bringen und öffentlich zu demaskieren, hat er erreicht, was viele andere Machtnetzwerke im polykratischen Gefüge nicht schaffen. Darin liegt Pekers derzeitige Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit, was ihn letztlich nützlich gemacht hat – für wen auch immer innerhalb des polykratischen Gefüges. Ryan Gingeras hält dazu passend fest, dass die nicht-staatlichen Elemente des Tiefen Staates zwar vornehmlich mit Bezug auf den Staat wirkmächtig werden, dass sie aber nicht darin aufgehen, willenlose Instrumente für staatliche Akteure zu sein. Darüber hinaus verfolgen sie auch eigene Interessen und legen sich dafür, wo nötig, auch mit staatlichen Akteuren an.
Was hat sich also machtpolitisch hinter den Kulissen getan Ende Mai/Anfang Juni? Eine These wäre, dass Erdoğan durch Pekers Performance überzeugt ist, jetzt den geeigneten Moment gefunden zu haben, sich einer nationalistischen Fraktion im Machtblock zu entledigen, dass aber Bahçeli, der auch als erster von beiden öffentlich Soylu in Schutz genommen hat, blockt. Andererseits hat Peker vor Kurzem auch wenig subtil damit gedroht, die Gewalt eskalieren zu lassen, wenn „sie“ bei den nächsten Wahlen, die „sie“ laut Peker offensichtlich verlieren werden, nicht von selbst die Macht abtreten. Es ist nicht ganz klar, ob Peker mit „sie“ Erdoğan und die AKP meint, oder nur bestimmte Teile des derzeitigen Regimes. Letztlich können wir derzeit nur spekulieren, mit wem im Staat Peker zusammenarbeitet. Fakt ist, dass die Causa Peker beziehungsweise die vom ihm öffentlichkeitswirksam aufgerollten Skandale eindrücklich vor Augen führen, welches Ausmaß Dezisionismus, Polykratie und Klientelkapitalismus in der Türkei mittlerweile angenommen haben.
Das ganze Land schaut auf die Youtube-Videos eines gewaltaffinen, im Namen des Staates mordenden Mafiabosses anstatt auf das Parlament und die Justiz für entscheidende Entwicklungen in Politik und Recht – kann es ein eindrücklicheres Bild für die Ersetzung von Konstitutionalismus durch Dezisionismus und Polykratie geben?
Und zeigen nicht gerade die von ihm „aufgedeckten“ Skandale, wie sehr Dezisionismus und Polykratie mit Korruption, Vetternwirtschaft, Glücksrittertum, kurzum: Klientelkapitalismus zusammengewachsen sind? Zugleich zielt Pekers Vorgehen natürlich darauf ab, diese etablierten Mechanismen zu festigen. In der klassisch paternalistischen Manier des Rechtspopulismus entfacht er den berechtigten Unmut und die Leidenschaften der Bevölkerung in einer tendenziell reaktionären Art und Weise – und dann noch in einer Form, die die Bevölkerung passiv mobilisiert, sie also explizit nicht selbst zur Organisation und zur Aktivität aufruft, sondern als mobilisierte Manövriermasse im innerpolykratischen Machtkampf zur Hand haben möchte.
Die widerständige Türkei und die etatistische Opposition
Beim Versuch einer paternalistischen Mobilisierung der Bevölkerung steht Peker nicht alleine da. Der Unmut in der Bevölkerung und der Unglaube in die Institutionen des Staates ist, wie gezeigt, weit verbreitet. Es gibt aber darüber hinaus auch zahlreiche Widerstände und Kämpfe gegen die vom Regime und vom Neoliberalismus herbeigeführten destruktiven Zwänge, Verbote, Entrechtungen, Depravationen. So kämpften und kämpfen die gesamte Pandemie über Arbeiter*innen an vielen Standorten gegen Entlassungen, Nicht-Erfüllung von Corona-Maßnahmen, fehlende Auszahlung von Löhnen und vieles mehr – auch in oppositionsgeführten Kommunen. Zwar waren am 1. Mai 2021 im Prinzip alle Demonstrationen verboten, Linke und Gewerkschafter*innen organisierten aber in vielen Stadtteilen und -plätzen kleinere Kundgebungen und ließen sich von Gewahrsamnahmen nicht einschüchtern. An der Boğaziçi Universität, einer der prestigeträchtigsten Universitäten des Landes, kam es seit Januar diesen Jahres zu einer riesigen Protestwelle gegen einen von Erdoğan per Dekret und gegen die Wünsche der Studierenden und Lehrenden eingesetzten AKP’ler als Zwangsverwalter-Rektor – mit Erfolg: Erst vor Kurzem wurde der Rektor, Melih Bulu, ebenfalls per Erdoğans Gnadendekret abgesetzt. Die Boğaziçi-Uni gehört neben einer kleinen Handvoll anderer Eliteuniversitäten zu den Universitäten, die die AKP trotz 20-jähriger Regierungszeit nicht kontrolliert bekommt. Die feministische Bewegung ist die Einzige, die wegen ihrer großen Legitimation immer noch Demos organisieren und teils die Polizei zum Rückzug von den Straßen zwingen kann. Dabei hat die Mobilisierungsfähigkeit der feministischen Bewegung mit zunehmender Repression und Austritt aus der Istanbuler Konvention nicht abgenommen, sondern zugenommen. Die HDP ist zwar durch den autoritären Dauerbeschuss kaum mehr handlungsfähig, bleibt aber weiterhin standhaft; auch in Wahlumfragen bleibt sie weiterhin stabil bei um die 10%. Der Kampf der Anwaltskammern gegen die regimefreundliche Reform derselben letzten Jahres wie auch der geradezu heroische Kampf der Ärztekammer für eine populare Pandemiepolitik und gegen die Verdrehungen und Inhumanität des Regimes unter den widrigsten Umständen zeigen, dass es auch in und durch organisierte Korporationen – Überreste des fordistischen Erbes in der Türkei – Widerstand gegen den Autoritarismus möglich ist.
Auch angesichts dieser Kämpfe und anderen wichtigen politischen Fragen ist regelmäßig eine mehr oder minder starke beziehungsweise absolute Mehrheit der Bevölkerung anderer Meinung als das Regime: Eine absolute Mehrheit der Bevölkerung lehnt den Austritt aus der Istanbuler Konvention ab; eine absolute Mehrheit lehnt die staatlichen Profitgarantien für die zahlreichen „Megaprojekte“ (Brücken, Tunnel, Flughäfen, usw.) ab und unterstützt deren Verstaatlichung; eine Mehrheit lehnt auch den Kanal Istanbul ab; eine absolute Mehrheit ist der Meinung, dass es keine politische Einmischung in die Universitäten geben und diese ihre Rektor*innen selber wählen sollten und unterstützt den Protest an der Boğaziçi-Universität; ebenso eine absolute Mehrheit lehnt jedwede Beschränkung des Verfassungsgerichtes ab; eine absolute Mehrheit bevorzugt Laizismus statt „die Scharia“ (81% gg. 18%); eine Mehrheit lehnt die Enteignung des Gezi-Parkes und seine Überführung in ministeriales Eigentum ab; eine absolute Mehrheit ist der Meinung, dass die Erklärung der Admiräle zum Vertrag von Montreux keinen Putschversuch darstellt; und nicht zuletzt findet eine Mehrheit die von der Opposition betriebene Skandalisierung der Verschleuderung der TCMB-Reserven richtig.
Angesichts der autoritären Furie, wie sie in der Türkei wütet, ist dieses Niveau an Widerstand, Kämpfen und abweichender politischer Meinung der Bevölkerungsmehrheit beachtlich. Der LKW-Fahrer, der bei einem Besuch der oppositionellen CHP über die ökonomische Misere seines Berufsstandes klagt und dann spontan vor laufender Kamera explodiert: „Bruder, lass’ mal brüllen wie ein Löwe. Mein verehrter Bruder, hau doch mal die Faust auf den Tisch und brüll mal. Es geschieht Unrecht, die Menschen hier leiden, den Menschen geht es schlecht, sie sind hungrig“, hat schon viel in Kauf genommen. Es bedarf viel Mut, eine solche Kampfansage in der heutigen Türkei vor laufender Kamera abzulassen.
An Kampfbereitschaft und Mut fehlt es wahrlich nicht. Aber die Kämpfe finden nur selten zu einer relativ geeinten politischen Form und Perspektive zusammen.
Das Potenzial atomisierter und demobilisierter Proteste und individueller Kampfbereitschaft bleibt aber notwendig beschränkt und tendenziell offen für eine reaktionäre Degeneration, Hoffnungslosigkeit, Kapitulation vor dem Herrschenden und/oder Rückzug. Angesichts dessen verfolgt die bürgerliche Opposition eine sehr etatistische Form der Politik. Die Nähe bis hin zu Identität der bürgerlichen Opposition zur/mit der Regierung bezüglich der „kurdischen Frage“ habe ich schon erwähnt. Auch in allen Angelegenheiten, die als „staatlich“ akzeptiert sind, wie beispielsweise die grundsätzliche Vorstellung einer Substanz und Einheit des Staates und die Verteidigung seiner Institutionen (inklusive des Präsidialamtes!) und Interessen nach Außen, steht die bürgerliche Opposition Seite an Seite mit dem Regime (oder fordert sogar ein noch härteres Vorgehen). Sie stimmen damit de facto zu, wenn wichtige Wortführer*innen des Regimes die Unterscheidung machen in Regierungsangelegenheiten, bei denen man durchaus unterschiedlicher Meinung sein könne, und Staatsangelegenheiten, bei denen Einheit gefordert sei. Dabei gibt es natürlich nicht einen „heiligen Geist des Staates“, der zeitlos durch Raum und Zeit west, wie es Peker und viele vor ihm behaupteten. Die Anrufung einer mystischen „Essenz des Staates“ ist allerdings ein Mittel, um Zustimmung zu einer grundsätzlich autoritären Vergesellschaftungsform zu generieren – etwas, worin sich in der Tat Regierende wie bürgerliche Oppositionelle seit Gründung der Republik, ja seit dem späten Osmanischen Reich einig sind. Insofern lässt sich mit Fug und Recht von einer autoritären Staatstradition in der Türkischen Republik sprechen.
Die bürgerliche Opposition teilt aber auch den Aspekt der paternalistischen Mobilisierung, die der autoritären Staatstradition zueigen ist.
Kemal Kılıçdaroğlu so sehr wie Sedat Peker, Imamoğlu (CHP-Bürgermeister von Istanbul) so sehr wie Bahçeli, Meral Akşener so sehr wie die Revolverpresse des Regimes sind sich einig im Aufruf, dass die Menschen „ja nicht auf die Straße“ gehen oder zumindest „Maß und Zurückhaltung“ in ihrem Protest wahren sollen, weil sonst alles außer Kontrolle gerät und Chaos das Land regiert. Als disziplinierend-mobilisierendes Element werden dazu verschwörungstheoretische Ideologiefragmente „as an intentionally deployed weapon of politics“ (S. 2) genutzt. „Jemand hat auf den Knopf gedrückt“ und ähnliche Sätze sind politische Allgemeinplätze geworden, die implizieren, dass es ein – natürlich nie konkret zu identifizierendes – Mastermind (üst akıl) gibt, das laut Erdoğan seit Gezi 2013 in den unzusammenhängendsten Ereignissen als das eine identische Subjekt wirkt, um die Türkei durch wechselseitige Polarisierung und Aufhetzung der Bevölkerung zu vernichten. Auch Sedat Peker wird von der Revolverpresse in diese Verschwörung eingeordnet.
Natürlich gibt es kein Mastermind. Es ist das Regime selbst, das Polarisierung und Aufhetzung betreibt, um Alternativen zu unterdrücken und sich eine autoritäre Legitimationsbasis zu schaffen. In Kombination mit anderen Krisenelementen bringt dies aber auch eine Reihe nichtintendierter Effekte mit sich, wie sich verschärfende außenpolitische und soziale Antagonismen, Prekarität, usw., die durchaus wirklich zu einer Art von Kontrollverlust führen, nämlich zur Hegemoniekrise an sich. Das verschwörungstheoretische Framing versucht bloß, diese Hegemoniekrise disziplinierend zu organisieren. Denn wo hinter allem Unzusammenhängenden und allen Verwerfungen ein böser Mastermind zum Schaden Aller agiert und man nie weiß, ob nicht auch etwas als Gut erscheinendes eigentlich dem Bösen dient, da macht sich eine passivierende Ängstlichkeit breit. Der Glaube daran wächst, dass es der Lenkung durch die das Volk führenden Elite bedarf, welche allein kompetent den Kampf gegen dieses Mastermind ausfechten kann. „[C]onspiracy isn’t just a symptom of authoritarian politics, […] it imagines and prefigures that authoritarianism“ (S. 6), fasst Göknar im eben zitierten Artikel folgerichtig zusammen. Ein erfolgreicher Kampf gegen die Taktiken des Regimes, in dem die Bevölkerung selbst organisiert partizipiert, ist der erfolgversprechendste Weg gegen die Präsidialdiktatur: Die Wahrnehmung der eigenen Wirkmächtigkeit ist das beste praktische Gegenmittel gegen die verschwörungstheoretische Disziplinierung im Allgemeinen, aber vor allem auch gegen die in der Diffusität des Alltagsverstandes verankerten, jahrzehntelang von den Herrschenden geförderten reaktionären Elemente wie den antikurdischen Rassismus oder die Unterstützung für außenpolitischen Chauvinismus.
Die bürgerliche Opposition will dies aber offensichtlich nicht. Sie hofft darauf, durch die Exploitation reaktionärer Sedimente im Alltagsverstand eine paternalistische Mobilisierung gegen das Regime zu organisieren, mit dem sie das Regime stürzen und den Übergang zu einer restaurierten neoliberalen Hegemonie einleiten kann – ohne eine zu starke populare Partizipation zu riskieren, die bedeutend mehr als eine bloße Restauration des Neoliberalismus auf die politische Agenda setzen könnte. Wie sehr die bürgerliche Opposition das Regime stürzen und wirklich abschaffen will, ist ohnehin an sich fragwürdig. Der Chef der Hauptoppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, gab erneut zu verstehen, dass sie keine Abrechnung (devr-i sabık) mit der AKP-Ära und ihren Verbrechen vorhaben, sollten sie an die Macht kommen. Ähnlich der schon erwähnte stellvertretende Vorsitzende der IYI, Yavuz Ağıralioğlu, der „unsere Freunde in der AKP, inklusive Herr Erdoğan“ explizit nicht als Feinde, sondern als Konkurrenten unter dem Banner derselben Sache, „Nation und Heimat“ bezeichnete.
Unter dem Druck der Faschisierung sind auch Teile der Linken, allen voran starke Fraktionen innerhalb der HDP, auf eine Taktik der „Demokratiefront“ umgeschwenkt, der zufolge die Zusammenarbeit aller „demokratischer Parteien“ zwecks Sturz des Regimes Priorität hat. Die Linke, auch die HDP, wäre allerdings besser beraten, sich primär auf das zu konzentrieren, was sie von den bürgerlichen Parteien unterscheidet: Eine Perspektive auf die Überwindung des Neoliberalismus im Sinne der popularen Klassen und eine umfassende Demokratisierung durch populare Massenmobilisierung und -partizipation. Ansonsten bleiben nicht nur die materiellen Bedingungen der Möglichkeit einer reaktionären Organisierung und Mobilisierung der popularen Klassen erhalten, sondern auch die ideellen und politischen – wie der antikurdische Rassismus, der militaristische Chauvinismus und dergleichen. Erst wenn das Volk selbst an der politischen Macht aktiv partizipiert und über sein Geschick selbst entscheidet, werden die Bedingungen der Möglichkeit des Autoritarismus aufgehoben, so Rıza Türmen, ehemaliger Richter der Türkei am Europäischen Menschengerichtshof und linker Demokrat. Die revolutionären Elemente innerhalb der Linken müssen dabei zusätzlich den Punkt stark machen, dass es nicht bloß um Klientelkapitalismus und Neoliberalismus geht und dass strategisch die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise als solcher letztlich der einzige Weg ist, die notwendigen (wenn auch nicht allein hinreichenden) Grundlagen für ein gutes Leben für die Bevölkerungsmehrheit zu schaffen. Dass sich Linke prioritär auf ihre Aufgaben konzentrieren, schließt eine taktische Wahlzusammenarbeit, so denn Wahlen stattfinden sollten, nicht aus. Im Gegenteil: Erst dann, wenn die Linke ihre Aufgaben gut macht, kann sie bei einer möglichen Wahlallianz eine Anerkennung linker Positionen erzwingen.
Das kurz- bis mittelfristige Ziel für Linke sollte sein, Erdoğan zu stürzen – aber unter Umständen, in denen die Linke so stark wie möglich ist. Es wäre sogar wünschenswert, wenn sie bei den nächsten Wahlen einen selbstbewussten und eigenständigen dritten Parteienblock im Unterschied zum Regimeblock wie zum Block der bürgerlichen Opposition bilden könnte, anstatt direkt oder indirekt dem bürgerlichen Oppositionsblock zuzuarbeiten. Nur durch organisatorische und ideologische Autonomie sowie einer erfolgreichen popularen Praxis kann die Linke Positionen erkämpfen. Zusammenschlüsse wie Einheit für Demokratie (Demokrasi İçin Birlik, DİB), die sich aus Parteien und Organisationen, Bewegungen und Einzelpersonen zusammensetzen, versuchen gerade, solch eine populare Perspektive zusammen mit einer popularen Mobilisierung zu entwickeln.
Vielleicht sind wir derzeit an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr so sehr um die Frage geht, ob Erdoğan stürzt – sondern eher darum, wie er stürzt und wie die Türkei nach Erdoğan aussehen wird. Diesem Kampf um die Zukunft der Türkei sollten wir uns selbstbewusst und voll Lebensfreude stellen.
Anmerkungen:
[1] Für die Entwicklungen und theoretischen Einschätzungen zu den Entwicklungen vor/bis September 2020 verweise ich auf meinen längeren Analyseartikel „Virus als Katalysator“, ebenfalls hier im re:volt magazine erschienen. Ich werde die dort ausgeführten Dinge hier nicht mehr ausführlich behandeln und auf permanente Verweise auf jenen Artikel verzichten; wo keine Quellen angegeben sind oder nicht weiter ausgeführt wird, lassen sich Details in jenem Artikel nachlesen.
Für viele wichtige inhaltliche Diskussionen und Literaturempfehlungen danke ich dem Arbeitskreis Social and Political History of Turkey. Besonderer Dank gilt dabei Axel Gehring und Svenja Huck für wichtige inhaltliche und formale Kommentare. Ganz besonderen Dank zudem an Johanna Bröse für eine sehr genaue inhaltliche und sprachliche Redaktion des gesamten Artikels. Was wäre der Artikel nur ohne dich und deine Arbeit? Für alle Fehler, Fehleinschätzungen und Verrücktheiten, die weiterhin im Artikel geblieben sind, bin natürlich nur ich verantwortlich. Gedankt sei auch Jo aus dem re:volt-Kollektiv für die meines Ermessens sehr treffende Collage, die als Titelbild des Artikels fungiert.
[2] Ein in der Zwischenzeit vorlegter Rechenschaftsbericht des Finanzministeriums nennt fast identische Zahlen: 2,4%/BIP direkte Ausgaben, 9,3%/BIP Kredite usw. Siehe T.C. Hazine ve Maliye Bakanlığı, Kamu Maliyesi Raporu 2021-I, Mai 2021, S. 30.
[3] Minibusse sind kleinere Busse, die etwa 10-20 Sitz- und 5-10 Stehplätze haben und eines der meistgenutzten Fortbewegungsmittel in der Türkei darstellen.
[4] Sind die Zinsen niedriger als die Inflationsrate, spricht man von realem Negativzins. Das heißt die Zinsen sind – egal ob sie nominell positiv, das heißt über 0% liegen – real negativ, da sie unterhalb des Niveaus der Preissteigerung verbleiben. Jeder, der zu realem Negativzins investiert, betreibt also im Normalfall ein Verlustgeschäft. Im betreffenden Fall ist ein realer Negativleitzins der TCMB daher ein sehr starker negativer Investitionsimpuls für ausländisches Kapital. Anders sieht es beispielsweise bei bundesdeutschen Staatsanleihen aus, die ebenfalls einen realen Negativzins abwerfen. Da sie jedoch gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft und im Unterschied zur Türkei als stabil und als sicherer Hafen gelten, investieren Finanzmarktakteur*innen durchaus in sie um diese dann beispielsweise als Sicherheiten für weitere Finanzgeschäfte zu nutzen.
[5] Bei einem Währungs- oder Devisenswap werden Mengen zweier Währungen wechselseitig getauscht, um in Zukunft wieder rückgetauscht zu werden. Die TCMB beispielsweise nutzt solche Swaps, um kurzfristig an dringend notwendige Devisen heranzukommen. Damit verschiebt sich das Problem des Devisenmangels in die Zukunft.
[6] Da die türkische Wirtschaft bei wesentlichen Inputs an Importe gebunden bleibt, wirkt sich natürlich ein Wertverfall der Lira unmittelbar auf die Inflation aus und zieht regelmäßig eine Steigerung derselben mit sich. So wurde dann zwar nach den desaströsen 1990ern, als die TCMB noch eine Fokussierung auf einen fixen TL-Wert hatte und inmitten der Transformationskrisen zum regulierten Neoliberalismus und spekulativer Attacken im Prinzip handlungsunfähig wurde, die Wechselkursfokussierung der TCMB aufgegeben im Sinne einer Preisstabilitätsfokussierung. Da letzteres aber ebenfalls eine gewisse Stabilität des Wechselkurses voraussetzte, intervenierte die TCMB wo nötig natürlich auch in den Devisenmarkt, so beispielsweise 2004-05. Aber das waren noch gute Zeiten, da war das Akkumulationsregime noch nicht fundamental krisenhaft, sondern wurde nur zyklisch negativ affiziert von volatilen internationalen Finanzströmen.
[7] Was Zinshebungen in den USA und daher Kapitalabflüsse aus der Peripherie in die USA wahrscheinlich machte und daher trotz orthodox-neoliberaler Geldpolitik des türkischen Zentralbankchefs zu einem Fall des Wertes der TL führte. Auch die beste Wirtschaftspolitik kann im Regelfall die strukturellen Defizite eines spezifischen Akkumulationsmodells nicht beheben, in diesem Fall die abhängige Finanzialisierung der türkischen Wirtschaft.
[8] Üblicherweise werden die Steigerungen der Verbraucherpreise als offizielle Inflationsrate angegeben. Produzentenpreise hingegen bezeichnen die Preise, die Produzenten für ihre Inputs bezahlen. Wegen der Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft und dem Fall des Wertes der Lira ins Bodenlose sind die Produzentenpreise um mehr als 40% gestiegen, weit mehr als die Verbraucherpreise. Das heißt letztlich, dass die Kosten der Unternehmen viel stärker steigen als die Preise, zu denen sie ihre Waren verkaufen können. Auf kurz oder lang werden also Bankrotte folgen oder eine Anpassung der beiden divergierenden Preisentwicklungen stattfinden, das heißt die sich schon beschleunigende Steigerung der Verbraucherpreise.
[9] Ich nutze damit den Begriff etwas anders als Carl Schmitt, der ihn als ein metaphysisches Letztbegründungsprinzip jeder Rechtsordnung, egal ob liberal oder monarchisch oder sonst wie, verstanden wissen will und ihn zudem normativ positiv auflädt. Daher die Charakterisierung von Schmitt als proto-faschistisch. Ich nutze den Begriff als Analysetool für eine mögliche Strukturierung eines gegebenen politischen Systems (im betreffenden Fall der Türkei), zudem sicherlich ohne eine normative Aufwertung.