Türkischer Frühling?
Am Sonntag, den 31. März fand in der Türkei der siebte Urnengang in fünf Jahren statt. Diesmal standen Lokalwahlen an, die jedoch aufgrund der fortdauernden Hegemoniekrise und Faschisierung des Regimes, angeführt von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, an enormer Bedeutung gewonnen hatten. Angesichts dieser Umstände hat jeder Wahlgang immer auch den Charakter eines Referendums über das Regime an sich. Die Wahlen, die immer noch umstritten sind, weisen jedoch auf eine bedeutende Veränderung in der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung und eine Verschiebung der politisch-gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse hin. Steht ein türkischer Frühling an?
1 - Die Wahlen waren nicht demokratisch…
Mainstreammedien und Politiker*innen in der Türkei reden von einem „Sieg der Demokratie“ bei den Lokalwahlen. Es kann nicht oft genug betont werden: Die Lokalwahlen waren, unabhängig vom Ergebnis, keine „normalen“ demokratische Wahlen und es gab seit Jahren keine solchen normalen demokratischen Wahlen in der Türkei. Die gesamte Opposition wurde von Erdoğan als „Terrorist*innen“ bezeichnet und seine Minister und Verbündeten drohten damit, alle gewählten aber ungewünschten Bürgermeister*innen und Ratsmitglieder – in erster Linie die der Demokratischen Partei der Völker (HDP) – abzusetzen und durch zentralistisch bestimmte Verwalter*innen zu ersetzen. Darüber hinaus wurden hunderte, tausende von Menschen – wiederum in erster Linie HDP-Mitglieder – im Vorlauf zur Wahl noch bis zum letzten Tag festgenommen und verhaftet. Viele führende Politiker*innen der HDP, darunter der frühere Ko-Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtaş, sitzen seit Jahren im Gefängnis. Die Medien sind unter umfassender Kontrolle des Regimes und fungieren als Propagandamaschine desselben. Zuletzt wurden auch bürgerliche und rechte Oppositionelle mit Prozessen und potentiellen Gefängnisstrafen bedroht und zwar wiederum vom Präsidenten höchstpersönlich. Nicht zuletzt wurde eine de facto Präsidialdiktatur über die letzten zwei Jahre hinweg institutionalisiert. Angesichts dieser Umstände von der demokratischen Tradition in der Türkei zu sprechen macht nur Sinn, wenn damit die demokratischen Bestrebungen und Kämpfe der Menschen trotz und gegen das bestehende Regime und dessen Faschisierung gemeint sind.
2 - … und die Wahlnacht verlief höchst dubios.
Während die Stimmenabgabe vergleichsweise ruhig verlief, kam es dann abends und nachts bei der Stimmenauszählung und Bekanntgabe der Resultate zu einer Reihe von mysteriösen und höchst dubiosen Ereignissen.
Exakt um 23:11 Uhr, als angeblich 91 Prozent aller Wahlurnen ausgezählt und ins System gespeist waren, hörten die Medien abrupt damit auf, weiter neue Informationen zu übermitteln – und dieser Stopp dauerte ungefähr zehn Stunden an. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı (AA), die einzige mediale Quelle der Wahlergebnisse, und auch die Hohe Wahlbehörde (YSK), die offiziell mit der Abwicklung der Wahl betraut ist, lieferten keine Erklärung für diesen abrupten Stopp. Der Zeitpunkt dieser plötzlichen Unterbrechung war kein Zufall. Ankara war bereits an den Kandidaten der Millet İttifakı (Bündnis der Nation), Mansur Yavaş von der Republikanischen Volkspartei (CHP) übergegangen, und in Istanbul reduzierte sich der Vorsprung des Kandidaten der Cumhur İtifakı (Volksallianz), dem früheren AKP-Premierminister Binali Yıldırım rasant. Aber Yıldırım trat bald vor die Kameras und erklärte sich direkt zum Sieger und somit zum neuen Bürgermeister Istanbuls. Erdoğan selbst hielt sich bei seiner ersten Rede noch zurück und sehr „präsidial“, äußerte sich aber bis heute nicht eindeutig zur Lage in Istanbul oder in Ankara.
Es sah alles danach aus, als ob das Regime wieder vor unser aller Augen die Wahlen massiv fälschen würde. Während die Opposition in den Jahren zuvor immer „Wahlbetrug!“ kreischte, aber nichts unternahm, lief es diesmal anders ab. Der Oppositionskandidat der CHP in Istanbul, Ekrem Imamoğlu trat sofort vor die Kameras und erklärte, dass die Informationen, die ihm vorlägen, einen Vorsprung für ihn zeigten und nicht mit den offiziell verbreiteten Daten übereinstimmten. Bis zum Morgengrauen trat Imamoğlu insgesamt beeindruckende elf Mal vor die Kameras. Er forderte AA und die YSK dazu auf, ihre Arbeit zu erledigen und bei einem klaren Ergebnissen dies auch kundzutun. Während all dies vor sich ging fanden einige hektische Sitzungen von führenden AKP-Kadern statt, sowohl in Istanbul wie auch in Ankara. Erdoğan flog von Istanbul nach Ankara, um seine Balkonrede in der AKP-Zentrale zu halten und flog dann wieder zurück. In der Nacht tauchten dann AKP-Plakate auf den Werbeflächen in Istanbul auf, die Yıldırım zum Sieger erklärten.
Erst in den Morgenstunden des 1. April löste sich der Knoten so langsam. Als Imamoğlu das zehnte Mal vor die Kameras trat, erklärte er, dass er unzweifelhaft der Sieger der Wahl in Istanbul sei, die offiziellen Stellen dies aber nicht bekannt geben würden, obwohl sie es wüssten. Er erklärte sich dann in Eigeninitiative zum Bürgermeister von Istanbul. Noch wichtiger aber war, dass letztlich um etwa neun Uhr auch der YSK-Präsident Sadi Güven eine offizielle Erklärung abgab. Die AA hatte zwischenzeitlich verlauten lassen, dass der Informationsfluss von der YSK gestoppt habe und sie deshalb keine neuen Zahlen präsentieren konnten. Der YSK-Präsident hingegen erteilte der AA eine Abfuhr und meinte, „sie sind nicht meine Kunden, ich weiß nicht, wo sie ihre Informationen herhaben“. Er fügte hinzu, dass gemäß der ihm vorliegenden Daten Imamoğlu in Istanbul uneinholbar vorne läge. Die beiden staatlichen, im Grunde direkt an den Präsidenten gebundenen Institutionen standen nun in direktem Konflikt zueinander. AA fügte sich dann plötzlich der YSK und aktualisierte die Daten. Das Regime erkannte das Ergebnis aber immer noch nicht an und machte klar, dass sie die Ergebnisse anfechten würden. Bei dem derzeitigen Konflikt geht es zwar vor allem um Istanbul und Ankara, aber in einer ganzen Reihe von Städten fiel die Entscheidung für Regime wie auch Opposition hauchdünn aus, so dass derzeit Ergebnisse heftig angefochten werden in Bursa, Balıkesir, Uşak, Muş oder Iğdır. Mittlerweile redet die regimetreue Revolverpresse vom „Wahlputsch“ (!) der Opposition und bringt diesen teils in Zusammenhang mit „Terrorismus“, während sich Erdoğan ungewöhnlich still verhält. Vermutlich wartet er ab, ob der Coup seiner Partei gelingt oder nicht, um sodann wieder in die Offensive zu gehen. Die Intrigen und das Drama der Wahlnacht sind noch längst nicht vorbei.
3 - Die AKP hat an Macht eingebüßt – gegenüber der Opposition, aber auch gegenüber ihrem Hauptbündnispartner.
Wenn die Resultate in etwa so bleiben, wie sie im Moment sind, dann kann mit Sicherheit festgehalten werden, dass es bedeutende Gewinne für die oppositionelle Bündnis der Nation der CHP und der Guten Partei (IYI), einer MHP-Abspaltung, gibt, während die AKP eine herbe Niederlage einstecken musste.
Die AKP verlor die beiden führenden politischen, ökonomischen und kulturellen Machtzentren der Türkei, nämlich Ankara und Istanbul. Diese Niederlage hat enorme symbolische und gesellschaftliche Bedeutung, da die AKP und ihre Vorläuferorganisationen die beiden Städte seit 1994 ununterbrochen regierten. Insgesamt konnte die Hauptopposition den Großteil der Großstädte gewinnen. Sie kann nun auf große ökonomische und politische Ressourcen zurückgreifen und hat darüber hinaus die Möglichkeit, den Korruptionssumpf insbesondere in Istanbul und Ankara trocken zu legen und durch Öffnung alter Akten vergangene Korruption ans Tageslicht zu bringen. Mehr noch, die Großstädte, die die Opposition gewonnen hat, bringen zusammen über 60 Prozent des BIP der Türkei auf.
Die faschistische, ultranationalistische MHP, der Hauptpartner der AKP, kann wieder als ein Sieger der Wahl angesehen werden. Der relativ niedrige Stimmenanteil von – momentan – 7,31 Prozent sollte darüber nicht hinweg täuschen, denn in den meisten großen Städten unterstützte die MHP die AKP. Interessanterweise war die MHP stark in den Städten, in denen AKP und MHP separat antraten, und gewann 33 Prozent dieser Städte und sieben Städte, die bisher von der AKP gehalten wurden. Insgesamt erhöhte die MHP die Zahl der Städte in ihrer Kontrolle von acht auf elf – wobei sie die beiden Großstädte Adana und Mersin an die CHP verloren hat.
So konnte die MHP innerhalb der Volksallianz ihre Position erneut stärken. Sie ist nicht, wie oft behauptet, der Schoßhund der AKP, sondern im Gegenteil ein wichtiger Teil der Volksallianz, der seinen Einfluss im Staat sukzessive ausbauen konnte. Umso mehr sich die Hegemoniekrise vertieft und die AKP an Führungsfähigkeit einbüßt, umso mehr wird das nationalistisch-etatistische Lager, das derzeit im Bündnis mit der AKP ist, die Geschicke des Landes bestimmen können.
Was mit der Guten Partei passieren wird, ist noch nicht klar. Sie spielte zwar eine wichtige Rolle im Bündnis der Nation und konnte viele wichtige Stimmen von der MHP für das Bündnis gewinnen, jedoch keine einzige Provinz. Es wird sich erst in der näheren Zukunft zeigen, welche Rolle die Partei künftig in der politischen Landschaft der Türkei spielen wird.
4 - Die HDP war ein Königsmacher.
Die Rolle der HDP in den Wahlen wurde im Vorlauf zu den Wahlen meist heruntergespielt oder ignoriert, aber die Taktik der HDP war überaus klug und flexibel. Die grundlegende Perspektive war: erstens, die Gemeinden und Städte in den kurdischen Regionen im Südosten, in denen statt der HDP-Bürgermeister*innen staatliche Zwangs-Verwalter*innen eingesetzt wurden, zurückzugewinnen und, zweitens, im Westen in vielen strategisch wichtigen Städten keine Kandidat*innen zu nominieren und somit die Opposition gegen die Volksallianz zu unterstützen. Im Westen ging diese Strategie voll auf und die HDP wurde zum Königsmacher. Der neugewählte Co-Bürgermeister von Diyarbakır, Adnan Selçuk Mızraklı brachte das auf Twitter poetisch an die HDP-Wähler gewandt zum Ausdruck: „Ihr habt die Glühbirne [Symbol der AKP] ausgemacht, denn die Sonne ging auf.“ Es wäre unmöglich für die CHP gewesen Istanbul, aber auch Adana und Mersin ohne die HDP-Stimmen zu gewinnen. In all diesen Städten hält die HDP über 10 Prozent der Stimmen und damit mehr als die Gute Partei oder irgendeine andere Unterstützerin der CHP.
Im Südosten gewann die HDP zwar viele Gemeinden und Städte wie Diyarbakır, Mardin und Van wieder zurück, musste aber zugleich einige herbe Verluste einstecken. So hat sie Ağrı, Şırnak und Bitlis an die AKP verloren, Dersim/Tunceli wurde von einem unabhängigen kommunistischen Kandidaten gewonnen. Die HDP erklärte diese Verluste mit dem massiven Versetzen von Polizist*innen und Militärpersonal in diese Regionen und die andauernden heftigen Repression. Wer die Region kennt, weiß, wie heftig die Lage ist und dass so etwas sicher seinen Teil zu den Ergebnissen beigetragen haben kann. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass eine gewisse Ermüdung angesichts dauerhaften Konfliktes und der Wunsch nach funktionierenden kommunalen Dienstleistungen auch wichtige Faktoren waren, die das Ergebnis beeinflussten. Die HDP gewann auch schon vor der Ära der Zwangs-Verwalter allgemein in Lokalwahlen weniger Stimmen als in nationalen Wahlen und eine Reorientierung auf lokale Infrastruktur und die Bedürfnisse der Bevölkerung werden – trotz und gegen die massive Repression – notwendig sein, damit die Partei in ihren Kernregion wieder an Stärke und Einfluss gewinnen kann.
5- Eine Restauration bahnt sich an, wir sollten achtsam bleiben.
Auch wenn die Wahlergebnisse augenscheinlich sehr positiv für alle demokratischen und sozialistischen Kräfte zu sein scheinen, gilt es vorsichtig und wachsam zu sein. Es bahnt sich gerade ein sehr widersprüchlicher Prozess der Restauration an, der Teile der Regimekräfte sowie den Hauptteil der Oppositionsparteien umfasst und eine inklusivere Form der Krisenlösung anstreben könnte.
Erdoğans erste Rede und seine spätere „Balkonrede“ in der Wahlnacht enthielten wichtige Elemente, die in diese Richtung weisen. Er hob klar hervor, dass die Volksallianz immer noch mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt (nämlich 51,6 Prozent nach derzeitigem Stand). Das heißt, dass die Volksallianz in absoluten Stimmanteilen nur wenig abgebaut hat im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2018 (damals 53,7 Prozent). Erdoğan fügte hinzu, dass es nun 4,5 Jahre keine Wahlen mehr geben würde und dass sich das Land jetzt auf ökonomische wie außenpolitische Angelegenheiten konzentrieren müsse, wobei er die „Lösung“ des „Rojava-Problems“ explizit erwähnte. Es ist kein Zufall, dass die Teile seiner Reden, die sich auf Wirtschaftspolitik bezogen, geradezu identisch waren mit den entsprechenden Teilen der vor der Wahl abgegebene Erklärung der größten kapitalistischen Lobby-Gruppe des Landes, der TÜSIAD. Gleichzeitig sagte Erdoğan, dass er und die AKP die Wahlergebnisse akzeptieren würden und jetzt nicht die Zeit sei, enttäuscht zu sein, nur weil die Ergebnisse nicht wie gewünscht seien. In drohendem Tonfall fügte er gleich mehrmals hinzu, dass „wir schon sehen“ werden, wie gut die Opposition die neu von ihr gewonnenen Städte regieren werden könne.
Andererseits trat die Hauptopposition vergleichsweise sehr milde auf. Man wird sich noch erinnern an die Worte des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der CHP, Muharrem Ince, der meinte, dass sie sich zuerst Istanbul und Ankara zurückholen und dann Präsidentschaft sowie Parlament wieder gewinnen würden. Solche und ähnliche Ansagen suchte man vergebens in der Wahlnacht, als sich der Sieg der Opposition herauskristallisierte. Mansur Yavaş in Ankara wie auch Ekrem Imamoğlu in Istanbul verzichteten auf jegliche kämpferischen Ansagen bezüglich möglicher politischer Perspektiven und gaben sich im Gegenteil sehr versöhnlerisch. Der Chef der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, brachte es auf den Punkt, als er sagte: „Siege gewinnt man gegen Gegner; wir haben nicht gesiegt, sondern waren erfolgreich“. Hauptoppositionsführer*innen wie Führungspersönlichkeiten des Regimes bedienten, bei allem Detailunterschied, den Diskurs, dass niemand verloren, sondern „die Türkei gewonnen“ hätte. Alle beendeten ihre Erklärungen damit, dass es jetzt darum gehe ans Werk zu gehen und die wichtigen Probleme anzupacken.
Und die HDP? Ein sehr populärer Slogan des Bündnisses der Nation lautete: „Am Ende des März kommt der Frühling“. Wenn allerdings nicht vom Kurdischen Frühling, der die Siege in Istanbul, Adana und Mersin überhaupt erst möglich machte, gesprochen wird, noch weniger sich darum bemüht wird, diesen politischen gebührend anzuerkennen und zu integrieren, dann ist vorgezeichnet, wohin die Reise gehen soll.
Wir haben oft darauf hingewiesen, dass die Hauptparteien der Opposition – CHP und Gute Partei – die Kräfte der Restauration organisieren. Das heißt, dass sie darauf abzielen, die derzeitige soziale und politische Ordnung zu stabilisieren, indem sie Erdoğan stürzen oder bändigen, ohne doch dabei die Fundamente jener Ordnung zu ändern – insbesondere was die wirtschaftlichen Fundamente angeht. In der momentanen Situation sieht es so aus, als ob die Kräfte der Restauration einen Machzugewinn verzeichnet haben. Das hat sicherlich mit der Tiefe der wirtschaftlichen Krise und weiters auch damit zu tun, dass der Unmut der Menschen ein selbstsichereres Auftreten der Opposition möglich macht, ja sie geradeheraus dazu zwingt. Dies dürften auch die Hauptgründe dafür sein, dass sich die Opposition in der Wahlnacht, als die AKP ihren – ersten – Coup plante, so klar dagegen positionierte und im Gegensatz zu früheren ähnlichen Situationen standhaft blieb. Höchstwahrscheinlich waren dies auch die zentralen Gründe dafür, dass sich bestimmte Teile des Staates und sogar der AKP dazu genötigt fühlten, Erdoğan und seine Clique zu drängen, die Wahlresultate anzuerkennen. Die Situation ist derzeit so kritisch und die Unfähigkeit des dominanten Blocks, die Hegemoniekrise zu verwalten, so offenkundig, dass eine Tendenz an Kraft gewinnt, die die unterschiedlichen Hauptkräfte des dominanten wie des oppositionellen Blocks zusammendrängt, damit die umfassende Hegemoniekrise gemeinsam überwunden werden kann. Aber zu dieser Tendenz gibt es innerhalb der Eliten auch Gegentendenzen, denn eine breite Zusammenarbeit würde bedeuten, dass die oppositionellen Kräfte innerhalb der Kräfteverhältnisse bedeutend an Macht gewinnen würden. Der Widerspruch der Herangehensweisen drückt sich nicht nur im Verhältnis der Staatsapparate zueinander aus, wie oben ausgeführt am Beispiel des Verhältnisses von AA und YSK. Sie drückt sich auch in Erdoğans Handeln selbst aus, der in ein und derselben Nacht oszillierte zwischen einer etwas versöhnlerischer und pragmatischeren und einer selbstbewusst-aggressiveren, ausschließenden Herangehensweise. Erdoğan könnte durchaus in eine Gegenoffensive übergehen, wie er dies schon nach den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 getan hatte – der ersten Wahl, in der die AKP empfindliche Einbußen verzeichnen musste. Er könnte aber auch den Kräften der Restauration ihren Raum einräumen und sich selbst als Führer der Restauration präsentieren. Auch seine Partei scheint sich noch nicht sicher zu sein darüber, ob sie einen offenen Putsch gegen die Wahlergebnisse lancieren oder sie doch lieber akzeptieren möchte. Und dann gibt es da noch die Bündnispartner von Erdoğan, die sichtbaren wie die MHP und die unsichtbaren, die sich lieber in den Schatten aufhalten. Was werden sie sagen, falls das Regime tatsächlich an Macht einbüßt?
Es ist, kurz gefasst, nicht klar, welche dieser allgemeinen Tendenzen sich letztlich durchsetzen wird, ja, ob überhaupt eine der Tendenzen längerfristig die Oberhand behalten wird. Derzeit sieht es danach aus, als ob die Tendenz zur Restauration in der kommenden Periode erstarken wird. Aber dieser Prozess ist durchsetzt mit Gegen-Tendenzen und Widersprüchen, deren Umfang und Tiefe bestimmt werden von der Dimension der Krise, sowie den Differenzen bezüglich Herangehensweise und Machtposition des dominanten wie oppositionellen Blocks. Und, sie werden natürlich bestimmt werden von den Massenkämpfen, so sie stattfinden.
6 - Die Möglichkeiten und Aufgaben der popularen Kräfte.
Selbst kleine Risse und Brüche im Machtblock und seiner despotischen Ordnung angesichts einer sich vertiefenden, allumfassenden Krise eröffnen Möglichkeiten für die popularen Kräfte. Die Wahlen sind vorbei, aber der Kampf um die Zukunft hat eben erst begonnen und wird mit Sicherheit eine Weile andauern. Die ökonomische Krise ist nicht einfach mit dem Ende der Wahl verschwunden und der Kampf darüber, wer für die Krise bezahlen wird, wird weitergehen. Obwohl die führenden Kräfte des Oppositionsblockes für die Restauration optieren, die sie in den Machtblock integrieren wird – denn die hauptsächlichen Staatsapparate kontrolliert ja immer noch der dominante Block –, ist die Stimmung und Moral in der Bevölkerung im Aufschwung begriffen. Die Forderungen der verschiedenen Basen der Parteien, der popularen Kräfte sind teils viel radikaler als die restaurativen Ansprüche der jeweiligen Führung.
Der Sieg der Opposition wurde in erster Linie durch eine weit verbreitete Wut in der Bevölkerung auf die AKP und Erdoğan und der standfesten Haltung der kurdischen Bewegung zustande gebracht. Der Unmut über die soziale Lage und die permanente Krise führte viele Menschen dazu, nicht in erster Linie für die Opposition, sondern gegen das Regime zu stimmen.
Die popularen Kräfte dürfen die Wahl – selbst wenn sie so stehen sollte – nicht einfach als Erfolg feiern und sich darauf ausruhen. Sowohl der mögliche Gegenangriff, wie auch eine mögliche Restauration werden den Bedürfnissen der popularen Kräfte nicht entsprechen können. Es gilt die gesellschaftlichen Dynamiken zu organisieren und konkrete Forderungen zu stellen, so zum Beispiel die Aufarbeitung der Korruption in der AKP-Periode in Städten wie Ankara und Istanbul, und vor allem die Forderung nach einer neuen, demokratischen Verfassung.
Der von unterschiedlichen gesellschaftlichen Dynamiken getragenen Kämpfe in der Türkei, allen voran Kurd*innen, Feminist*innen, LGBTQ+ Individuen, Alevit*innen, Arabische Alevit*innen und der Arbeiter*innenklasse gegen den despotischen Staat und den Neoliberalismus sowie für eine demokratische Republik sind zwar seit Gezi manchmal mit Repression zurückgedrängt worden, aber nie abgerissen. Jetzt ist genau der Zeitpunkt, an dem es gilt, die Initiative zu ergreifen und die Risse im Machtblock auszunutzen, um eine radikalere Agenda zu pushen. Es sind einzig und allein die popularen gesellschaftlichen Dynamiken, die sowohl den Winter eines Gegenangriffs, wie auch die Restauration durch einen Frühling abwenden können, den die CHP in ihrem Wahlsong versprochen hatte und den sie selbst nie wird bringen können.
Der Artikel Daylight In Turkey? erschien ursprünglich auf Englisch im Jacobin Magazine vom 3. April 2019. Er wurde aus dem Englisch ins Deutsche übersetzt und leicht verändert von Max Zirngast und Alp Kayserilioğlu.