Ist die Unterscheidung zwischen Meinung und Handlung unklar?
Im Sommer 2017 wird die Internetplattform linksunten.indymedia verboten und damit assoziierte Personen – vor allem in der Region Freiburg – mit staatlicher Repression überzogen. Die Solidarität innerhalb der linken und linksradikalen Szene ist zunächst groß. Auch Peter Nowak, Achim Schill und Detlef Georgia Schulze zeigen sich in einer Erklärung mit dem Medienportal und ihren Betreiber_innen solidarisch: Ihr Aufruf, der wenige Tage nach dem Verbot erscheint, ist mit „Solidarisch zu sein, heißt: sich dem Verbot zu widersetzen“ überschrieben; sie fordern darin, die Beiträge der Plattform wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Erklärung ist mit einem Ausschnitt aus der Verbotsverfügung des Innenministeriums bebildert, der seinerseits das bekannten Logo von linksunten.indymedia enthält - den Buchstabe I, von jeweils drei schallwellenartigen Klammern auf jeder Seite umrandet. Ein Jahr später erhalten die drei Post: Die Berliner Staatsanwaltschaft legt ihnen diese Bebilderung als Verwendung eines Kennzeichens einer verbotenen Vereinigung aus; den Inhalt der Erklärung als Unterstützung ebenjenes Vereins. Derzeit läuft das Verfahren. Anlass genug für Peter Nowak, Achim Schill und Detlef Georgia Schulze, in einer zweiteiligen Reihe ausgiebig über den Unterschied von Meinungsäußerungen und (anderen) Handlungen zu diskutieren [1].
Achim (an Detlef Georgia gewandt): Du hattest im Zusammenhang mit einer Presseerklärung kürzlich einen Text dreier, damals allesamt radikaldemokratischer, Juristen zitiert. Die Autoren forderten, „die tradierte liberale Unterscheidung von Meinen und Handeln [...] wiederzubeleben: Der ‚Wert’ einer Meinung, eines Kunstwerks, einer politischen Aktivität etc. ist prinzipiell nicht vom Staat, und das heißt eben auch nicht von einem Gericht nachzuwiegen“. Du selbst hast anschließend an dieses Zitat formuliert: „Dieses Postulat bleibt um den 25. Internationalen Tag der Pressefreiheit herum auch in Deutschland weiterhin ein Desiderat“ – also etwas Erwünschtes, das fehlt. Dem möchte ich entgegensetzen: „Tatsächlich muss man dem ‚bürgerlichen’ Gesetzgeber zu Gute halten, dass die Trennung von ‚Meinung’ und ‚Handlung’ nicht so hermetisch ist, wie es vielleicht die liberale Tradition postuliert. Zwar mag diese liberale Trennung gut gemeint sein, aber politisch ist sie eher ‚naiv'.“
Detlef Georgia: Inwiefern ist diese Unterscheidung Deines Erachtens unklar? Ist der Unterschied zwischen den, möglicherweise als beleidigende Meinungsäußerungen zu wertenden, Sätzen „Du bist ein Miststück“ oder „Du bist eine elende Charaktermaske des Kapitals“ einerseits und der Abgabe eines Schusses auf Herz oder Kopf der gemeinten Person andererseits nicht ein ziemlich deutlicher Unterschied? Genauso der Unterschied zwischen einem Steinwurf und der Rechtfertigung eines Steinwurfs?
Achim: Zum einen gibt es natürlich einen Unterschied zwischen einer mentalen Verfassung und der Tat (das heißt der Ausführung). Aber es lässt sich doch nicht leugnen, dass die mentale Verfassung schlussendlich zur Tat führt, oder jedenfalls eine Voraussetzung der Tat darstellt. Nicht zufällig wird ja zum Beispiel beim Tatbestand des Mords nach den „(niedrigen) Beweggründen“ gefragt, die dann erst den Tatbestand erfüllen.
Detlef Georgia: Da möchte ich einhaken. Abgesehen davon, dass die „niederen Beweggründe“ und die anderen heutigen Kriterien für Mord erst von den Nazis eingeführt wurden [2]; also nicht dem klassisch liberalen Strafrecht zuzurechnen sind [3]: Findest Du nicht, dass es ein fundamentaler Unterschied ist, ob bloß beim Strafmaß für eine Tat, die tatsächlich stattgefunden und bei irgendeiner Person einen materiellen (körperlichen oder finanziellen) Schaden verursacht hat, die die Beweggründe des Tuns (das Motiv) berücksichtigt werden, oder aber ob eine bloße Absicht, die eventuell gar nicht zu einer Tat, und damit weder zu einem körperlichen, noch zu einem finanziellen Schaden, führte, bestraft, also zum Strafgrund, gemacht wird? Würdest Du nicht zustimmen, dass, solange es überhaupt Recht und Strafjustiz gibt, der Unterschied zwischen Täter- und Gesinnungsstrafrecht einerseits und Tatstrafrecht andererseits nicht nur etwas ist, was von Linken in der Situation der Defensive aus Eigeninteresse zu verteidigen ist, sondern auch für das Strafrecht einer sozialistischen Übergangsgesellschaft von fundamentaler Bedeutung ist? Ist da nicht folglich auf dem Weg zu einer Gesellschaft ohne Herrschaft etwas gründlich schiefgegangen, wenn Übergangsgesellschaften, die dem Anspruch nach „sozialistisch“ waren, jahrzehntelang Gesinnungsstrafrecht als geltendes Recht hatten und anwandten?
Peter: Du verweist mit dem letzten Satz unter anderem auf die Zeit und Rechtsprechung in der Sowjetunion. Der erste Kommissar für Justiz in der Sowjetunion war Isaac Steinberg von den linken Sozialrevolutionären. Er hatte durchaus Vorstellungen einer sozialistischen Justiz, die nicht einfach die kapitalistische Unterdrückung nur unter umgekehrten Vorzeichen praktizieren wollte. Es gab auch bei den Bolschewiki am Anfang Widerstand gegen die Fortsetzung der alten Unterdrückung unter neuem Vorzeichen. So wurde zunächst die Todesstrafe abgeschafft. Statt Strafe sollte Resozialisierung vor allem von Menschen der Arbeiter*innenkasse im Mittelpunkt stehen. Das war auch in den ersten Jahren der Sowjetunion Praxis, wurde aber dann mit der stalinschen Konterrevolution über Bord geworfen.
Achim: Ja, schon. Vielleicht kommen wir trotzdem noch mal zurück zum bürgerlichen Staat. Zumindest wäre es verwunderlich, wenn der bürgerliche Staat nicht so handeln würde, wie er handelt. Genau darin, eben darüber verwundert oder „entsetzt“ zu sein, besteht die „Naivität“ und Illusion des auch links auftretenden „Rechtsfetischismus“ (also: die Betrachtung von Rechtsnormen als etwas Absolutes/Unverrückbares – statt sie in ihrer historischen Bedindigtheit [und auch als situativ] zu verstehen). Auch das gehört zur Realität des Klassenkampfs: dass die Gegner*innen (immer) „gemein“ sind. Aber vielleicht geht mir da auch meine leninistische Taktiererei durch. Meines Erachtens ist das ein positiver Aspekt des „leninistischen Realismus“. Er bewahrt einen vor unnötigen Enttäuschungen.
Detlef Georgia: Was ist denn das Interesse des bürgerlichen Staats? Wenn wir, da wir in den Kopf oder die Seele des bürgerlichen Staates nicht hineinsehen können, das Interesse des bürgerlichen Staates aus seiner Praxis folgern, dann scheint es nicht so zu sein, dass es immer im Interesse des bürgerlichen Staates ist, auf alles, was sich dissident regt, am härtest Möglichen einzuschlagen. Und wenn der Staat nicht auf alles einschlägt, dann ist das nicht immer das Resultat des Widerstandes der proletarischen Massen. Es scheint doch vielmehr so zu sein, dass auch innerhalb der herrschenden Klasse umstritten ist, was das richtige „Interesse“ oder die richtige Strategie ist. Und es scheint auch so zu sein, dass nicht immer das, was die jeweils hegemoniale Fraktion in den Staatsapparaten und den herrschenden gesellschaftlichen Gruppen als ihr „Interesse“ ansieht, das allerschlechteste für die Ausgebeuteten und Beherrschten ist. [4] Oder anders gesagt: Wenn die Repression mal wieder besonders hart zuschlägt, dies allein aus „dem Klasseninteresse“ zu erklären, scheint mir eine Pseudo-Rationalisierung zu sein, die in Wirklichkeit nichts, weder die Konfliktdynamik, noch die Kräfteverhältnisse erklärt.
Achim: Dem stimme ich zu. Die „herrschende Klasse“ ist natürlich fraktioniert und kein homogener Block. Aber der Staat ist der ideelle Gesamtkapitalist (wie es Engels es seinem Anti-Dühring [5] ausdrückte), und die vorherrschende Staatslinie ist quasi das „durchschnittliche Gesamtinteresse“ des Kapitals. Das ist natürlich auch diskursiv umkämpft. Dieses durchschnittliche Gesamtinteresse des Kapitals scheint mir derzeit stark nach rechts zu gehen. Nicht, weil der linke Widerstand, trotz der Stärke bei G20 zum Beispiel, insgesamt so stark wäre, sondern weil das Kapital seine Privilegien selbst gegen mögliche Alternativen absichern will. Historisch ist das natürlich ziemlich aussichtslos. Aber darin zeigt sich auch das stark irrationale Moment in bürgerlichen Gesellschaften.
Die Realgeschichte der Politischen Justiz in Deutschland
Achim: Das zweite Argument, das ich vorbringen wollte, lautet: Die Realgeschichte der Politischen Justiz in Deutschland zeigt, dass die Gesinnung unterschiedlich gewichtet wurde und wird. Dass die „Feinde links stehen“, ist dem bürgerlichen Staat durchaus bewusst. Und er hat ja auch „recht“ damit.
Detlef Georgia: Das bestreite ich gar nicht. Diese Realgeschichte ist doch vielmehr gerade Gegenstand meiner politischen und, soweit Meinungsfreiheit und Zensurverbot reichen, auch juristischen Kritik.
Achim: Mir geht es aber darum, die Grenzen dieser Kritik aufzuzeigen.
Detlef Georgia: Was folgt aber denn aus diesen „Grenzen“? Du stehst links. Der vom bürgerlichen Staat identifizierte Staatsfeind steht logischerweise links. Gesinnungsjustiz ist seit Jahrzehnten Realität. Du hast keiner Person auch nur ein Härchen gekrümmt, sondern mit Peter und mir Deine Gesinnung geäußert. Also ist es zwar alles andere als angenehm, aber folgerichtig, dass du verurteilt wirst?
Achim: Ich hoffe, das ist eine rhetorische Frage. Natürlich habe ich keinen Bock, für dieses „Verbrechen“ bestraft zu werden. Aber ich mache mir eben auch nicht viele Illusionen über den bürgerlichen Justizbetrieb. Ich weiß auch nicht, wie unsere Chancen stehen. Es würde mich aber nicht wundern, wenn versucht würde, uns einen Denkzettel zu verpassen. Vielleicht will ich mich einfach auf dieses mögliche Ergebnis mental einstellen.
Peter: Natürlich drückt sich auch in der Justiz das Klasseninteresse des Staates aus. Aber eben nicht so bruchlos, wie es sich bei Achim anhört. Die Gewaltenteilung ist ja mehr als ein theoretisches Konstrukt. Sie funktioniert und hat auch Vorteile für den bürgerlichen Staat. Als 2016 der Konflikt um die Rigaer Straße 94 und die Räumung mehrerer Räume dort eine große Solidaritätswelle der Nachbarschaft hervorrief, entschied ein Gericht, dass die Räumung rechtswidrig sei. Die Bewohner*innen konnten sie unter großem Jubel der Anwohner*innen wieder in Besitz nehmen. Der rechte CDU-Innensenator war einerseits der Verlierer. Andererseits konnte er sagen, dass hier eben die Justiz entschieden habe. Als Demokrat habe er das zu akzeptieren. Hier wird die Funktion der Justiz gerade nicht als blinder Vollstecker von Klasseninteressen deutlich. Die Justiz hat im bürgerlichen Sinne einen Konflikt entschärft, der von der Politik auf die Spitze getrieben worden war. So kann die Justiz, gerade weil sie nicht einfach Kapitalinteressen oder die Interessen der Politik exekutiert, zum bürgerlichen Gesamtinteresse beitragen. Staaten, wo die Politik direkt in die Justiz hineinregiert, wie beispielhaft aktuell in der Türkei, sind viel instabiler. Solche Fälle wie in der Rigaer Straße gibt es immer wieder. Das bedeutet in unserem Fall, dass es überhaupt keine Prognose gibt, wie das ausgehen wird. Das wäre reine Kaffeesatzleserei. Aber eine verstärkte Solidarität kann mit dazu beitragen, dass wir schlussendlich nicht verurteilt werden.
Detlef Georgia: Ich möchte nochmal kurz auf Achims Punkt eingehen. Dagegen, sich vorsichtshalber auf das Schlimmste einzustellen, will ich gar nichts sagen. Aber daraus ergibt sich ja noch keine Strategie, um zumindest das Schlimmste zu verhindern und vielleicht sogar noch mehr zu erreichen. Du schreibst doch selbst, dass die „politische Justiz, namentlich in Deutschland […] durchaus unterschiedliche Ausprägungsphasen hatte“. Da kommen weitere Fragen auf: Lässt sich das von Linken beeinflussen – oder bedeutet jeder Versuch, dies zu beeinflussen, nur Opportunismus? Bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten, ob die Herrschenden gerade gute Laune haben oder gerade besonders bösartig sind? Bleibt uns nur, darauf zu hoffen, dass eine Revolution lieber früher als später die linken politischen Gefangenen befreit?
Achim: Beeinflussungsversuche sind notwendig. Aber ich kann nicht mehr ignorieren, dass sich die Kräfteverhältnisse in den letzten Jahren zunehmend zu Ungunsten der politischen Linken entwickelt haben. Die Gründe dafür mögen vielfältig und komplex sein. Aber ich sehe derzeit wenig Grund zu Optimismus.
Peter: Trotzdem gibt es, auch unter den insgesamt für Linke ungünstigen Kräfteverhältnissen, immer wieder Urteile, die für die Linke eher positiv ausfallen. Wie eben das oben genannte Beispiel Rigaer Straße 94. Man muss immer auch den Einzelfall sehen. Es gibt ja keine Generalstrategie für die Justiz, die in einem Ministerium ausgeheckt wird. Gerade beim indymedia.linksunten-Verfahren ist festzustellen, dass das Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung über die Klage gegen das Verbot auf die lange Bank geschoben hat. Das kann auch daran liegen, dass das Gericht seine Urteile auch mit dem europäischen Recht abgleichen muss. Da wird das Verfahren ja letztlich enden; das Freiburger und das von uns. Wir müssen also einen langen Atem haben. Gäbe es eine größere Solidaritätsbewegung, zum Beispiel durch Unterschriften unter unseren Aufruf, wäre wahrscheinlich auch unser Verfahren schon längst eingestellt. Dabei denke ich, dass die derzeitige linke Inaktivität in Bezug auf das Verbot von indymedia.linksunten nicht daher rührt, dass nicht an die Beeinflussung der Justiz geglaubt wird, sondern an politischer Schwäche.
Detlef Georgia: Ich sehe tatsächlich auch „wenig Grund zu Optimismus“. Es ist doch aber eine ganze andere Kritikebene, ob du – wie Achim – sagst: „Ich halte für unwahrscheinlich, dass du das Landgericht von deiner Rechtsauffassung überzeugen wirst“. Dieser These würde ich sofort zustimmen. Oder aber ob du sagst: „Deine Argumentation, dem bürgerlichen Staat seine ‚eigenen‘ liberalen Rechtsgrundlagen entgegen zu halten, ist letztlich falsch und gefährlich, weil es Illusionen verbreitet“. Letzterer These stimme ich nicht zu, sondern antworte darauf: Illusionen würde ich verbreiten, wenn ich mit großen Erfolgsversprechen hausieren gehen würde. Das mache ich aber nicht. Vielmehr steht in dem diskussionsauslösenden Text (zum StGB-Paragraphen über „Verfassungsfeindliche Einwirkung auf Bundeswehr“), dass das Bundesverfassungsgericht in bestimmten Fällen Gesinnungsstrafrecht für verfassungsgemäß hält, was das BVerfG allerdings logischerweise so nicht ausdrückt. Das ist doch wohl kein Anlass, um in optimistische Stimmung zu verfallen.
Unzutreffend wäre meine Argumentation nur dann, wenn sich Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht offensiv zum Gesinnungsstrafrecht bekennen würden. Um ein Beispiel zu geben: Vom NS-Staat ein liberales Strafrecht zu fordern, wäre genauso Unsinn gewesen, wie es Unsinn ist, von bürgerlichen Staaten den Kommunismus zu fordern. Aber der BRD-Fall liegt ja nun doch ein ganzes Stück anders, als der NS-Fall. Durch die so genannte Reichstagsbrandverordnung Hindenburgs vom Februar 1933 wurde unter anderem die Meinungsfreiheit „bis auf weiteres außer Kraft“ gesetzt. Dagegen lautet Artikel 5 Grundgesetz ziemlich ähnlich wie der Artikel 118 der Weimarer Verfassung, der dadurch außer Kraft gesetzt wurde. Das ist doch wohl ein Unterschied, auf den sich bezogen werden kann, ohne opportunistisch zu sein, oder nicht?
Achim: Ich habe nichts gegen die Verteidigung liberaler Rechtsprinzipien. Ich habe nur nicht viel Vertrauen darin, dass sich die Realität von Klassenkämpfen, wozu auch der ideologische Kampf gehört, an moralische und rechtliche Prinzipien hält. Auch wenn mich diese Erkenntnis nicht gerade erfreut. Ich bin in dieser Hinsicht eher ein „naiver“ und recht wohl behütet aufgewachsener Mensch, der auch nicht gerne Illusionen aufgibt zugunsten der „harten Wirklichkeit“.
Detlef Georgia: Sind denn liberale Rechtsprinzipien einfach nur „moralisch“ beziehungsweise eine zeitweilig gespendete Großzügigkeit? Stehen denn nicht auch die liberalen Rechtsprinzipien in einem, wenn auch gewiss nicht geradlinigen, Verhältnis zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen? Ich meine ohne, dass liberale Rechtsprinzipien, solange es überhaupt Recht gibt, deshalb zu verwerfen wären?
Achim: Ich denke, die „Liberalität“ ist einerseits abhängig von den politischen Kräfteverhältnissen, aber andererseits auch von der Funktionsweise der Ökonomie. Rein von der Kapitallogik ist „Freiheit“ immer besser als Zwang und Regulation. Aber politisch ist ein gehöriges Maß an Regulation erforderlich. Nicht nur auf Grund des Auftretens von sozialer Oppositionsbewegungen, sondern auch, weil das gesellschaftliche, arbeitsteilige Zusammenwirken niemals komplett selbstgesteuert funktionieren kann. Dieses Problem würde natürlich auch für post-kapitalistische Gesellschaften zutreffen. Grundsätzlich denke ich, dass es immer einen Kampf oder Interessenskonflikt zwischen liberalen und eher regulativen Tendenzen im Staatsapparat geben wird.
Peter: Ich würde den Begriff des Liberalismus von seiner moralischen Aufladung trennen und bin tatsächlich der Auffassung, dass er ganz genau zum Kapitalismus passt und nicht nur Ideologie ist.
Sozialdemokratie – rechtsfetischistisch oder mordlustig?
Detlef Georgia: Ich möchte noch auf einen Punkt aus Achims Kritik-Artikel zurückkommen. Du hältst dort meiner These, „Soweit das geltende Recht einen reformerisch richtigen Inhalt hat, ist es unbedingt richtig und notwendig, den bestehenden Staat beim Wort zu nehmen“, folgende Anti-These entgegen: „Die Kritik des Illusionären besteht genau darin, zu denken, dass der ‚reformerisch richtige Inhalt’ in Stein gemeißelt sei. Denn das ist nichts weiter als ‚Rechtsfetischismus’ (als [unkritische] ‚Ergänzung’ zum ‚Wertfetisch’). Die sozialdemokratischen Parlamentarier in Hitlers Gefängnissen und Konzentrationslagern hätte davon sicherlich ein Lied singen können.“
Darauf möchte ich wie folgt antworten: Dass der ‚reformerisch richtige Inhalt’ in Stein gemeißelt sei, sagen ja nun weder ich noch meine drei Referenzautoren. Auch den meisten Sozialdemokrat*innen dürfte damals wie heute bewusst sein, dass Gesetze geändert werden können. Also abgesehen davon, dass schon seit Beginn der Präsidialdikaturen Parlamentarismus und „civil rights and liberties“ in der sterbenden Weimarer Republik einen schweren Stand hatten, gab es ab Februar 1933 – anders als heute – keine politischen Freiheitsrechte mehr, auf die sich hätte berufen werden können. Und ab Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes Ende März 1933 gab es, jedenfalls de facto, auch kein parlamentarisches Gesetzgebungssystem mehr. Und angesichts der faktischen Verhältnisse und der bereits umfassend suspendierten Grundrechte bedürfte es schon eines sehr großzügigen Begriffs von „frei“, um auch nur die Reichstagswahl von Anfang März 1933 noch als „frei“ zu bezeichnen. [6]
Achim: Trotzdem denke ich, dass die sozialdemokratische Bürokratie und nicht unbedingt die proletarische Basis, die gewiss, zumindest in Teilen, kampfbereit gewesen wäre, damals weiterhin am bürgerlich-demokratischen „Rechtsfetischismus“ festhielt. Selbst dann noch, als schon de facto der Übergang zur NS-Diktatur vollzogen war.
Peter: Die zentrale Kritik an der Sozialdemokratie ist aber doch nicht ihr „Rechtsfetischismus“, sondern die von ihrer Spitze vorangetriebene Bewaffnung der Konterrevolution in den Jahren 1918/1921. Und die von dieser verübten Morde an tausenden Arbeiter*innen, beispielsweise im Januar 1919 und März 1919 in Berlin, im Mai 1919 in München und so weiter. Da war von „Rechtsfetischismus“ nicht viel zu sehen.
Achim: 1918 war aber auch eine andere Zeit als 1933! 1918 stand die bürgerliche Gesellschaft in Gefahr von einer proletarischen Revolution überwunden zu werden. Allerdings stimmt es, dass die Politik der SPD in den Wirren der Novemberrevolution schlussendlich 1933 mit vorbereitet hat. Aber das ist ja auch keine ganz neue Erkenntnis, dass „Demokrat*innen“ auch ganz schnell zu „Militarist*innen“ mutieren können, wenn es um den Bestand des Kapitalismus geht – also ums Eingemachte! Unter psychologischen Aspekten würde ich sagen, dass die konterrevolutionäre Gewalt eine größere Legitimität vor dem eigenen Gewissen hat, als die revolutionäre. Insbesondere dann, wenn Teile des Parteiapparates „verbürgerlichen“ oder sich „bürokratisieren“ („Ich hasse die Revolution wie die Sünde“ [sic!!] [Ebert]). Der Witz, dass die Deutschen vor dem Revolution machen noch eine Bahnsteigkarte kaufen, spricht da schon eine tiefe Wahrheit aus. Eine tiefere, als vielleicht immer erkannt wird.
Anmerkungen und Quellen
[1] Ausgangspunkte sind je ein Blog-Artikel von Detlef Georgia und Achim, auf die im Folgenden an einigen Stellen des Streitgesprächs Bezug genommen wird. Es handelt sich dabei um diese Veröffentlichungen:
- Nicht (nur) „linksunten“ – einige Beispiele, in denen es sich DEFINITIV um Vereine handelt (im hier aufgeführten Streitgespräch auch: Text „im Zusammenhang mit einer Presseerklärung“ / „diskussionsauslösende[r] Text“ genannt) sowie
- Kann es Meinungsfreiheit im Kapitalismus geben? (im Text auch „Achims Kritik-Artikel“ genannt).
[2] Vergleiche die Fassung bis 1941, ab 1941 und die heutige Fassung im Strafgesetzbuch.
[3] Dabei liegt das Antiliberale der Nazi-Konzeption nicht einmal in einer Ausweitung des Mordbegriffs. Die ursprüngliche Gesetzesformulierung von 1871 „mit Überlegung“ dürfte weiter als die Summe der heutigen beziehungsweise NS-Mordmerkmale gewesen sein, die in der NS-Konzeption allerdings als bloße Regelbeispiele galten, also durch die Rechtsprechung im Einzelfall erweiterbar waren. Das illiberale Moment liegt im Wechsel von einer von einer tatstrafrechtlichen („wegen Mordes [… wird] bestraft“) zu einer täterstrafrechtlichen („Der Mörder wird […] bestraft“) Konzeption (siehe den Wikipedia-Artikel als Einstieg).
[4] Achim hatte schon in seinem Kritik-Artikel aus einem älteren Papier von Detlef Georgia zitiert: „Rechtsfragen lösen sich nicht vollständig in Machtfragen auf; das Recht kann [im Großen und Ganzen] nur herrschaftsstabilisierend wirken, wenn nicht in jedem Einzelfall schon vorab feststeht, daß sich ‚die Macht’ durchsetzt. Das Recht kann [auch im Sinne der Herrschenden] nur funktionieren, wenn seine eigene ‚Rationalität’ [der Argumentation] / Funktionsweise nicht [vollständig] von einem Opportunismus der Macht untergraben wird.“
[5] „Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist.“ (MEW 20, 260)
[6] Das Obenstehende gilt unabhängig davon, ob der nationalsozialistische Regierungstritt für (weitgehend oder irgendwie) legal gehalten wird (wie die herrschenden Lehre sagt), oder, ob er in vielen Schritten und auch dem letzten Akt – dem Ermächtigungsgesetz – für illegal gehalten wird (wie die Analysen besagen, die mich (Detlef Georgia, Anm. Red.) überzeugen [*]). Denn auch auf der Grundlage letzterer Auffassung kann ja nicht bestritten werden, dass die „nationale Revolution“ der Nazis erfolgreich (wenn auch illegal) war und eine neue Legalordnung etablierte. Das heißt, dass etwaige Leute, die meinten, sich ab April 1933 (wenn nicht schon deutlich früher) noch auf Grundrechte und bürgerliche Demokratie berufen zu können, nicht die falsche Rechtstheorie, sondern einfach die Zeitung nicht aufmerksam gelesen hatten.
[*] Siehe zum weiteren Verständnis etwa:
- Friedhelm Hase / Karl-Heinz Ladeur / Helmut Ridder, Nochmals: Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, in: Juristische Schulung 1981, 794 - 798 (797): „Bekanntlich ist das Ermächtigungsgesetz, mit dem die Weimarer Verfassung formal weitgehend außer Kraft gesetzt wurde (wie es um ihre ‚Geltung‘ in den Jahren ab 1930 gestanden hatte, wollen wir hier mal ganz außer Betracht lassen), unter erheblichen Druck von SA und NS-kontrollierter Polizei zustande gekommen (die KPD-Abgeordneten waren bereits verhaftet […]). Ein auf die Verfahrensrationalität rekurrierendes politisch informiertes Konzept von formaler und gesellschaftlicher Demokratie kann ein solches Verfahren […] nicht als verfassungsgemäß anerkennen“, da es die freie parlamentarische Debatte und Entscheidungsfindung aufhebt. „Man stelle sich im übrigen die ‚Machtergreifung‘ einmal mit vertauschten Rollen vor, daß also Kommunisten das Ermächtigungsgesetz unter gleichen Bedingungen durchgesetzt hätten. Ob die h. M. [herrschende Meinung] auch dann behaupten würde, formal sei ja alles in Ordnung gewesen?“ (Hv. i.O.)
- A.W. (= H[ans] Nawiasky), War die nationalsozialistische Revolution legal?, in: Schweizerische Rundschau 1933/34 (Jan.-Heft 1934), 891 - 902 (Entschlüsselung des pseudonymen Autorkürzels gemäß Horst Dreier, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Band 60, 2001, 9 - 72 [21, FN 57]). Nawiasky schreibt auf S. 893 in Bezug auf die Reichstagswahl vom 5. März 1933 (nach Ernennung Hitlers zum Reichskanzler ohne parlamentarische Mehrheit und vor Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes): „Es wird schwer sein, zu behaupten, daß dem Wortlaut dieser Vorschrift [der Weimarer Reichsverfassung über die Wahlfreiheit] entsprochen worden sei.“ Und auf S. 896 über die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz: „verfassungsrechtlich nicht vorgesehene Fernhaltung“ der kommunistischen Abgeordneten = „schwerer Mangel des Verfahrens“.
- Dreier, a.a.O. argumentiert in o.g. Fußnote ähnlich wie die vorstehend zitierten Autoren, gibt weitere Literaturhinweise und weist außerdem auf Folgendes hin: „Als entscheidend erweist sich die fehlerhaft Zusammensetzung des Reichsrates, da entgegen Art. 63 I WRV und dem Urteil des Staatsgerichtshofes im Prozeß um den ‚Preußenschlag‘ 34 der 66 Stimmen von Reichskommissaren ausgeübt wurden […].“ (Links im Zitat hinzugefügt)
- Weitere Analysen von Detlef Georgia Schulze zur Thematik:
Rechtsstaat versus Demokratie. Ein diskursanalytischer Angriff auf das Heiligste der Deutschen Staatsrechtslehre, in: Detlef Georgia Schulze / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf (Hg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne, Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010, 553 - 628 (569 - 571) und Der Rechtsstaat in Deutschland und Spanien unter Refubium FU Berlin, S. 56-58.
Das Titelbild zeigt das Kriminalgericht Moabit, Sitz der Strafsenate des Berliner Kammergerichts (analog: Oberlandesgericht in anderen Bundesländern) und der Strafkammern des Berliner Landgerichts. Unter der Creative Commons Lizenz von Fridolin freudenfett [Peter Kuley]. Modifiziert und dem Artikel angepasst vom re:volt magazine.