Deutsche Demokratische Republik – kurz: DDR (Teil 2)
Demokratie ohne Parlamentsinszenierug
Im realen Sozialismus der DDR kam es nicht zum, in Anlehnung an Lenincund von vielen westlichen Marxisten als Grundvoraussetzung geforderten, plakativen „Absterben des Staates“. [1] Allein aus dem Grund, weil die sozialistische Übergangsgesellschaft aus dem Kapitalismus kommend sich erst hin zu den gewünschten Idealen entwickeln muss. Davon ausgehend wurden Strukturen etabliert, die mit den Heutigen so wenig zu tun haben, dass es einfach erscheint sie per se als undemokratisch abzutun. Die DDR wollte keine bürgerliche parlamentarische Demokratie sein, sie hätte damit ihren Anspruch, jedem die gleich Teilhabe am Gemeinwesen zu ermöglichen, verfehlt. Entgegen des Vorwurfes der „Einparteien-Herrschaft“ gab es reichlich Parteien, die unterschiedliche Milieus in den Prozess des Aufbaus des Sozialismus einbinden sollten. Und zusätzlich Massenorganisationen, die bestimmte Großgruppen der Bevölkerung vertreten sollten, zum Beispiel Jugend und Frauen, deren Interessen als grundsätzlich gesellschaftlich relevant angesehen wurden, weshalb sie eine eigene Vertretung jenseits parteipolitischer Erwägungen haben sollten. Pseudopolitische Rituale, wie sie in der parlamentarischen Demokratie betrieben werden, die nur der Profilierung der einen oder anderen Partei dienen, Prozesse endlos in die Länge ziehen und im Ergebnis lediglich kosmetische Veränderungen bringen, während sie letztlich die Ungleichheiten zementieren - die Reichen reich, die Armen arm - waren dem Realsozialismus fremd. Ziel des Gemeinwesens war dagegen die materielle Gleichheit.
Geringe Ausschläge nach oben oder unten sollten mit sozialpolitischen Maßnahmen des Staates kompensiert und ausbalanciert werden. Unterstützte man diesen anzustrebenden verfassungsmäßigen Grundsatz, und wer könnte als Humanist*in etwas dagegen haben, war man aufgefordert am Prozess gesellschaftlicher Veränderung teilzunehmen und damit Teil der sozialistischen Zivilgesellschaft. Deren Arbeit sollte in schon bestehenden oder neu zu gründenden staatlich unterstützten Strukturen stattfinden, so zum Beispiel die Seniorenbetreuung in der „Volkssolidarität“ oder in vielerlei gesellschaftlichem Engagement vom Umweltschutz bis zur Interessenvertretung von Homosexuellen unter dem Dach des „Kulturbundes“. Dort musste nichts von oben angeordnet werden, niemand wartete auf irgendwelche „Direktiven“. Gab es dennoch solche Direktiven, die bei den proklamierten gesellschaftspolitischen Zielen nicht ungewöhnlich waren, waren sie hilfreich, sicherten sie doch den Anspruch auf Ressourcen, um die Bedürfnisse der jeweiligen Klientel zu erfüllen. Wollte man unabhängig gesellschaftlich aktiv werden, wurde man argwöhnisch beäugt und unter die Lupe genommen, um zu prüfen, ob neben dem sozialen und kulturellen Engagement nicht auch ein politischer Zweck dahintersteckte. War dies nicht der Fall, wurde man „eindringlich eingeladen“, doch die etablierten Strukturen zu nutzen.
Dieses Vorgehen stieß sicher manchmal auf den Unmut der Beteiligten, hatte aber dann, wenn man staatlich akzeptiert war, seine Vorteile, konnte man doch langfristig finanziell gesichert seine Arbeit nachgehen. Ist das politische Gängelung oder Einflussnahme von oben? Natürlich gab es Funktionär*innen, die in solchen Fragen dogmatisch zu Werke gingen und damit einiges an Initiative von unten kaputtmachten und Engagierte so unter das Dach vor allem der evangelischen Kirche als vermeintlichen Teil der Opposition drängten, welche nicht zwangsläufig staatliche Repressionen nach sich zogen. Aber es gab auch die anderen, die Engagement förderten. Und bei aller Kritik überwog doch das Letztere, wenn die Vielfalt der Arbeit in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Organisationen, Massenorganisationen, betrachtet wird.
Die Bewegung, die 1989 den Sozialismus schließlich besser machen wollte und heute im Westen gerne zu einer bürgerlichen Demokratiebewegung umgedeutet wird, war nicht nur von ein paar randständigen Dissident*innen getragen. Es waren Menschen, die auch schon vorher im Beruf oder darüber hinaus Verantwortung getragen hatten. Objektiv gesehen waren die Bedingungen, unter denen Bürger*innen realsozialistischer Gesellschaften Reformen hätten verwirklichen können, vorhanden. Die Knappheit materieller Ressourcen ließ aber Vieles, was als wünschenswert gefordert wurde, nicht zu. Die Defizite lagen dabei weniger in den daraus folgenden Prioritätensetzungen, sondern vielmehr in der Unfähigkeit, die in Expertengremien manchmal schmerzlich getroffenen Notwendigkeiten, demokratisch breit zu kommunizieren. Dieses Manko offenbarte die mit der Zeit eintretende Distanz von Verwaltungsstrukturen und Betroffenen. Hätte man an den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln etwas Grundsätzliches ändern wollen, hätte man unter den gegebenen Bedingungen, die Staatsräson, die soziale Gleichheit, in Frage stellen müssen. Dass dies ein Kernanliegen der Reformbewegung von 1989 gewesen sein soll, bleibt eine phantastische Erzählung der Leitmedien.
Tatsächlich verfuhr der realsozialistische Staat selbst ab den 80er Jahren schon sehr flexibel mit diesem Ideal. Ein Beispiel war die Befriedigung der Wünsche nach größeren Konsummöglichkeiten mit Hilfe der „Exquisit-Läden“, in denen dann aber auch teilweise Waren des täglichen Bedarfs zu deutlich höheren Preisen zu finden waren. Das waren Maßnahmen, die kurzfristig Probleme angehen sollten, gleichzeitig aber wieder Unzufriedenheit auslösten, da sie Ungleichheiten produzierten. Die von der Bevölkerung nie in Frage gestellte, selbstverständliche Gleichheit Aller - für sie Gradmesser des Sozialismus - begann somit von innen heraus ausgehöhlt zu werden.
Fehlerdiskussion im sozialistischen Aufbau
Die, die in der DDR gelebt haben, sind wahrscheinlich die Einzigen, die einschätzen können, ob man dort seine Meinung sagen konnte oder eher nicht. Man konnte es, solange man den Sozialismus und seine Grundlagen öffentlich nicht in Frage stellte. Kritik war sogar gewollt, wusste man doch um ihr Potenzial, Verbesserungen anzuregen. Doch traf diese Kritik, berechtigt oder nicht, natürlich nicht immer nur auf Zustimmung der Entscheidungsträger*innen. Grundsätzlich ist Kritik immer unbequem und beide Seiten müssen in der Lage sein konstruktiv mit ihr umzugehen. Das war von offizieller Seite, wenn es um die größeren Fragen ging, selten der Fall. Vielmehr versuchte man, vor allem für den Westen, ein Bild allseitiger Harmonie zu zelebrieren, das unrealistisch und für eine lebendige Gesellschaft auch nicht erstrebenswert ist. Eine „offene Fehlerdiskussion“ hätte viel mehr Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung erzeugt und auch weniger „Munition für den Klassenfeind“ hergegeben.
Debattenkultur und Zensur
Presse, Rundfunk und Fernsehen, und alle anderen Publikationen unterlagen einer Zensur. Wieder war der Grund, zu verhindern, dass der Sozialismus und seine Grundlagen öffentlich in Frage gestellt werden. Es gab keine vom Staat unabhängigen Medien, weil alles, was ein bestimmtes Maß an Öffentlichkeit produzierte, und damit über das Private hinausging, allen nützlich sein sollte. Das schloss Einzelinteressen in Konkurrenz zu anderen aus, denn man war in einer Gesellschaft der Gleichberechtigten ja auf Ausgleich und Kooperation angewiesen. Um die Publikation solcher Inhalte wirksam auszuschließen, wurden Veröffentlichungen vorher geprüft. Das war sicher kein Vertrauensbeweis der SED gegenüber dem Rest der Bevölkerung und unterminierte das Gleichheitsideal in diesem Verhältnis. Die DDR-Führung folgte damit dem, was schon der Praktiker Lenin fand: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Im heutigen real existierenden Kapitalismus sind es die Chefredaktionen und Eigentümer*innen, die in ihrem privatkapitalistischen und marktwirtschaftlichen Interesse die politische Linie in den „Qualitätsmedien“ festlegen. Zum ganzen Bild gehört auch, dass die zensierende, führende Staats- und Regierungspartei im Jahr 1987 über 2 Millionen Mitglieder hatte und damit über 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Auch alle anderen Parteien und Massenorganisationen und damit ihre insgesamt hunderttausenden Mitglieder, hatten sich entsprechend ihrer Satzungen dem Sozialismus verpflichtet.
Reisen entlang der Systemkonkurrenz
Die DDR war nicht eingemauert, der Weg nach Osten stand offen und das zu den damals weltweit üblichen Bedingungen. Es gab Länder mit und ohne Visa-Freiheit. Dies galt zunächst nicht in Richtung Westen. In den 80er Jahren, vor der Maueröffnung, wurde es jedoch zunehmend auch für Personen im Erwerbsalter, allerdings nur in Verwandtschaftsangelegenheiten und auf Antrag, möglich dorthin zu reisen. Neben dem nicht zu unterschätzenden Fakt der Systemkonkurrenz und seinen unangenehmen Begleiterscheinungen, war der Grund natürlich, die Abwanderung von Fachkräften bei vorheriger Finanzierung ihrer Ausbildung. In den 1950er Jahren, vor dem Mauerbau, sollen es ein Drittel der Akademiker gewesen sein. Als nach dem 2.Weltkrieg ein gemeinsamer deutscher Staat aufgrund der rigorosen Ablehnung des Westens immer unrealistischer wurde, sah man sich gezwungen die letzte Option zu ziehen und die Grenze zu schließen, um die Realisierbarkeit des humanistischen Ideals Sozialismus weiterhin zu gewährleisten.
Jenseits aller Psychologisierungen ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit für die Bürger*innen der DDR durch die Entscheidungsträger*innen bestimmt nicht leicht gefallen. Der gelungene Coup, den Westen vollkommen überrascht zu haben, löste wahrscheinlich schon Genugtuung aus. In den 80er Jahren gewann die Ausreisebewegung in bestimmten kulturellen Milieus an Bedeutung, spielte aber im Alltag der Arbeiter*innenschaft weiterhin eine sehr marginale Rolle. Der Mangel an Devisen tat auch in der Reise-Frage sein Übriges. Da die Währung der DDR international nicht konvertibel war, um Währungsspekulationen und damit den Einfluss von außen auf die Volkswirtschaft zu verhindern, musste der Staat jedem*r Bürger*in mit einem Mindestmaß an Reisezahlungsmitteln ausstatten, wollte er seinem Anspruch, die Alternative zum Kapitalismus zu sein, gerecht werden.
Für Osteuropa war das kein Problem, war man doch politisch wie wirtschaftlich verbunden. Aber anstatt die mühsam im Export mit dem Westen erwirtschafteten Geldmittel individuell-touristischen Zwecken zur Verfügung zu stellen, entschied man sich, sie in die planmäßig zu entwickelnde Gesellschaft der Gleichberechtigten zu stecken. Das ist ein weiteres Beispiel von vielen für die Bevorzugung des Gemeinwohls gegenüber dem Interesse Einzelner. Der Grund für diese Prioritätensetzung war, dass bestimmte Güter nur auf dem Weltmarkt für harte Dollar oder D-Mark gekauft werden mussten, da der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) seine Aufgabe, Arbeitsteilung unter den realsozialistischen Ländern zu organisieren, wegen falsch verstandener Eigenständigkeit einiger seiner Mitgliedsstaaten, nicht vollumfänglich realisieren konnte. [2] Trotzdem hätte man in Reise- und Ausreisefragen mit der Zeit Lösungen finden müssen, um Unzufriedenheiten abzubauen. Das wäre durch eine frühzeitigere, also nicht erst im Rentenalter und/oder periodische Möglichkeit der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR umzusetzen gewesen oder durch mehr kollektiven Reisen in den Kapitalismus, mit Abstechern auch in die Arbeiter:innen-Milieus, oder über die FDJ-Freundschaftsbrigaden hinausgehende Solidaritätsaufenthalte in die Länder des globalen Südens, bei denen neben personellen Ressourcen auch Sicherheitsfragen der eingesetzten Fachkräfte eine Rolle spielten.
Selbstbewusst in die Diskussion
Das alles und noch viel mehr war die Deutsche Demokratische Republik – kurz: DDR. Um sich als gesellschaftliche Linke den heute drängenden sozialen und sich daraus ergebenen politischen Fragen in Ostdeutschland zu widmen, muss ein ein kritischer aber gleichfalls solidarischer Blick auf die konkreten historischen Antworten eines realen, nicht theoretischen, Sozialismus gelenkt werden. Die Versuche ernsthafte soziale und wirtschaftliche Lösungen als Alternative zum Kapitalismus zu finden, sind in einer Fülle von wissenschaftlich Studien, mit mehr oder weniger ideologischer Interpretation und unterschiedlichster politischer Couleur dokumentiert. Zusätzlich kann jeder, der aus dem Osten kommt oder jemanden dort kennt, versuchen, sich über Biografien „gelernter DDR-Bürger“ auch ein subjektiv geprägtes Bild zu verschaffen.
Im Zentrum einer Diskussion um eine eigenständige ostdeutsche Linke sollten keine allseits bekannten Debatten und Auseinandersetzungen um theoretische Fragen realsozialistischer Bewegungen und Projekte stehen, spiegeln diese doch nur die unterschiedlichen Vorstellungen der jeweiligen Protagonist*innen über eine postkapitalistische Gesellschaft wieder, die man auch mit dem „besseren Argument“ nicht endgültig klären kann. Ostdeutsche sollten selbstbestimmt, ohne Rechtfertigungszwang und vor allem selbstbewusst ihre Themen setzen, die sich aus ihrer eigenen Geschichte ergeben.
Nicht nur, aber vielleicht auch gerade wegen der gut gemeinten, gönnerhaft wirkenden Erzählung eines „deformierten Arbeiter- und Bauernstaates“ aus den unterschiedlichsten Lagern der westdeutschen Linken, halten wir mit Vehemenz an der konkreten gesellschaftlichen Erfahrung der DDR fest: Sie war ein Land, das dem Ideal der sozialen Gleichheit seiner Bürger*innen sehr nahe kam, weil diejenigen, die das gesellschaftliche Mehrprodukt erwirtschafteten, auch die Verfügungsgewalt darüber hatten. Und das bei allen existierenden Defiziten.
Im dritten und letzten Text der inzwischen dreiteiligen Artikelserie „Warum eine ostdeutsche Linke?“ sollen deren politische Bewegungsform, das anzusprechende Milieu und die grundsätzliche inhaltliche Ausrichtung, beschrieben anhand ausgewählter Politikfelder, andiskutiert werden.
Quellen:
[1] Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution, Wladimir Iljitsch Lenin Werke, Band 25, Berlin/DDR, S.393-507, 1972.
[2] Roesler, Jörg: 1962.1971 - Schicksalsjahre des RGW, Reihe "Pankower Vorträge", Heft 215, 2017.