Der ewige Diego
Wir schreiben das Jahr 1984, genauer den 16. September. Es ist der Tag, an dem Diego Armando Maradona das Gefühl kennenlernt, das in großen Teilen der italienischen Bevölkerung gegenüber Neapel vorherrscht: den Anti-Meridionalismus. Es ist der erste Spieltag der italienischen Meisterschaft 1984/85 und Maradonas Debut in der Serie A. Neapel reist für das Spiel nach Verona, die Stadt Romeos und Julias, die Stadt des italienischen Wirtschaftswunders und nicht zuletzt die Stadt des „small is beautiful“, wo kleine und sehr kleine Betriebe Handwerk und Bruttoinlandprodukt produzieren und so die sozioökonomische Entwicklung vorantreiben.
Diego verstand sogleich, dass es in Neapel um weitaus mehr als nur um Fußball geht: „Sie haben uns mit einem Transparent empfangen, das mir mit einem Schlag zu verstehen gab, dass das Spiel von Neapel über Fußball hinausgeht: 'Willkommen in Italien' stand darauf. Es ging um einen Kampf des Nordens gegen den Süden, der Rassisten gegen die Armen.“
Die Lega Nord, die Partei, die heute von Matteo Salvini angeführt wird, und die sich durch ihren anti-meridionalistischen Rassismus auszeichnet, entsteht zwar erst 1989, nicht aber der Rassismus gegen die Süditaliener*innen. In den Stadien Norditaliens ist es Tradition, Neapel, die wichtigste Mannschaft Süditaliens, und ihre Fans mit Transparenten zu empfangen, die den Vesuv besingen – den Vulkan, dessen Ausbruch Pompei zerstörte – und mit Chören, die die Neapolitaner*innen als „Cholera-Erreger*innen“ betiteln und sie auffordern, sich zu waschen.
Neapel in den 1980er Jahren
Für viele Italiener*innen war Neapel die Stadt der Cholera und der Erdbeben. Tatsächlich hat die Stadt das Stigma der Cholera-Epidemie von 1973 und des Erdbebens von 1980 nie überwunden. Die Cholera hatte zwar nur einige dutzend Tote gefordert, doch das Image der Cholera- und Erdbebenstadt wurde Neapel nicht mehr los.
Noch mehr als das Erdbeben war die Cholera der zur Realität gewordene Alptraum: Im Herzen des florierenden Westens, in einer seiner am dichtesten besiedelten Metropolen, breitete sich eine Krankheit aus, die man hier nur noch als Nachrichten aus den ärmsten und „unterentwickeltsten“ Ecken der Welt kennt. So kamen Widersprüche ans Licht, die von einer alles anderen als homogenen wirtschaftlichen Entwicklung Italiens zeugten. Sie zeigten sich in den Gassen Neapels, in den sogenannten „bassi“, den winzigen Wohnungen im Erdgeschoss, in denen einkommensschwache Familien bis heute dicht an dicht leben, die dann in den 2000er Jahren zur folkloristischen Sehenswürdigkeit für Tourist*innen wurden. Sie zeigten sich aber auch in den miserablen Hygienebedingungen, in denen die popularen Klassen der Stadt zu leben gezwungen waren und teilweise auch heute noch sind. Szenarien, die vielmehr an die „villas miserias“ Argentiniens erinnern als an eine reiche Metropole des Westens. Sie erinnern an Orte wie die Villa Fiorita, wo am 30. Oktober 1960 Diego geboren wurde.
Das Neapel, in das Maradona kam, stand am Beginn einer industriellen Krise der gesamten Region, die noch Jahrzehnte andauernden werden würde. Das Stahlwerk Italsider in Bagnoli, einem Quartier in der westlichen Peripherie, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Betrieb gesetzt und 1991 schon wieder geschloßen, nur wenige Jahre nach dem Abgang der Nummer 10 aus Neapel. Es war das Neapel einer graßierenden Arbeitslosigkeit, des Schmuggels von Zigaretten und eines sich ausbreitenden Heroinkonsums. Es war das Neapel der Camorra-Morde an mutigen Journalist*innen, die die kriminellen Abkommen zwischen Politik, Wirtschaft und Mafia anprangerten; das Neapel der Fehden zwischen den Camorra-Clans und des Blutes auf der Straße. Das Neapel der 1980er Jahre wurde von vielen wie eine hoffnungslose Hölle beschrieben. Zu jener Zeit verließen zehntausende Emigrant*innen jedes Jahr die Stadt, um in den Fabriken des Nordens, in Frankreich oder in Deutschland zu arbeiten.
Diego als Erlöser
Und ausgerechnet in Deutschland wird Neapel den ersten internationalen Erfolg seiner Geschichte feiern. Am 17. Mai 1989 wird in Stuttgart das Rückspiel des Uefa-Cup-Finals gespielt. Das Hinspiel im Stadion San Paolo in Neapel endete 2:1 für die „azzurri“ (die himmelblauen Trikots) mit Toren von Maradona und dem Brasilianer Careca. Für Stuttgart hatte der Deutsche Maurizio Gaudino getroffen, Sohn von kampanischen Emigrant*innen (der Vater aus Caserta, die Mutter aus Neapel), die im Nachkriegsboom nach West-Deutschland (Brühl) emigrierten. Im Neckarstadion drängten sich 67.000 Zuschauer*innen, 30.000 davon Italiener*innen – ein Großteil aus Süditalien, genau wie die Eltern von Gaudino: Arbeiter*innen bei Porsche, Daimler, Bosch oder IBM; Blaukragen, die von der Misere und den fehlenden Zukunftsaussichten aus Süditalien geflohen waren und auf der Suche nach einer würdigeren Existenz eine regelrechte „Reise der Hoffnung“ angetreten hatten. An jenem Abend unterstützten wohl nur zwei dieser Emigrant*innen den VfB Stuttgart, alle anderen feierten nach dem Schlußpfiff das Endresultat von 3:3 und somit den Pokalsieg Neapels. Für sie alle war das mehr als nur ein Sieg und eine Fußball-Trophäe. Es war eine Selbstbehauptung angesichts erlittener Ausbeutung und Demütigung; es war der Stolz und das Wissen, am nächsten Tag mit erhobenem Haupt in die Fabrik eintreten zu können.
Und dieser Stolz wurde von einem Gefühl der Befreiung begleitet: Unter jenen, die heute um Diego trauern, ist „riscatto“ (Befreiung, Erlösung) das meistbenutzte Wort zur Beschreibung dieses Sieges und der Bedeutung Maradonas für sie selbst. „Riscatto“ bedeutet im Italienischen soviel wie „er hat uns die Ohrfeigen vom Gesicht genommen“ – „ci ha levato gli schiaffi da faccia“. Dieser neapolitanische Ausdruck beschreibt in einem Sprachbild eine praktisch unmögliche Handlung der Vergeltung eines erlittenen Angriffs oder einer erlittenen Beleidigung. „Sich die Ohrfeigen vom Gesicht nehmen“: Befreiung und Revanche.
Es gibt keine größere Herausforderung als ein Spiel gegen Juventus Turin. Umso stärker das Gefühl, sich „die Ohrfeigen vom Gesicht zu nehmen“ bei einem Sieg gegen Juventus. Denn Juventus ist der Gewinner-Club par excellence und besitzt das reichste Palmares. Der Fußball-Club gehört der Familie Agnelli, einer der wichtigsten Familie des norditalienischen Kapitals, Besitzerin der FIAT (heute FCA, Fiat Chrysler Automobiles) von Turin, in deren Betrieb in Mirafiori ab den 1950er Jahren tausende und abertausende aus dem Süden (Calabres*innen, Sizilianer*innen, Neapolitaner*innen) gearbeitet haben.
Am 3. November 1985 kommt Juventus ins Stadion San Paolo nach Neapel. Dann der indirekte Freistoß im Strafraum, die Mauer von Juventus nur fünf Meter vom Ball entfernt. Vergebens erinnern die Neapel-Spieler den Schiedsrichter an die gemäß Reglement vorgesehene Distanz von neun Metern. Dann flüstert Maradona einem anderen Spieler selbstbewußt zu: „Ich schieße trotzdem, treffen werde ich ohnehin“. Und so war es. In den folgenden Jahren mit Diego im Team gewann Neapel mehrmals gegen Juventus. Im bekannten Doku-Film von Emir Kusturica erklärte er selbst, was damals die Siege gegen Juve für ihn, für die Fans und für den ganzen Süden bedeutet haben: „Es herrschte die allgemeine Annahme, dass der Süden nie gegen den Norden gewinnen kann. Wir spielten gegen Juventus in Turin und schossen sechs Tore. Du kannst dir vorstellen, was es bedeutet, wenn eine Mannschaft des Südens sechs Tore gegen die Familie Agnelli schießt?“
Für viele Neapolitaner*innen und für viele Süditaliener*innen bedeutete ein Sieg gegen Juve den lang ersehnten Sieg gegen den Norden und gegen die Reichen. Das Gleiche wiederholte sich im Sommer 1990, als Neapel zum zweiten Mal den italienischen Meistertitel holte und den AC Mailand von Silvio Berlusconi, dem aufsteigenden Stern des italienischen Kapitalismus, auf Platz zwei verwies. Und in Neapel hängten Leute das emblematische Transpartent auf: „Berlusconi, auch die Reichen weinen.“
Wer aber allein die Zahl der geschossenen Tore und der erlangten Titel heranzieht, um das Verhältnis der Neapolitaner*innen und Diego zu verstehen, erweist sich zwar als guter Buchhalter, hat aber wenig vom sozialen Charakter dieser Beziehung verstanden. Corrado Ferlaino, Präsident des SSC Neapel in der Maradona-Ära, war ein ebensolcher Buchalter und interessierte sich ausschließlich für den „return of investment“. Als ihn eines Tages Diego um ein Benefiz-Spiel für ein krankes Kind bat, blockte er ab. Die Eltern des Kindes hatten kein Geld, um die lebensnotwendige Operation zu bezahlten. Diego widersetzte sich, bezahlte die 12 Millionen für die Unfallversicherung aus der eigenen Tasche und überzeugte seine Mitspieler, das Spiel auch so zu spielen. Maradona hatte bereits bei seiner Ankunft im Juli 1984 erklärt: „Ich will ein Idol der armen Jungs von Neapel werden, weil ich in Buenos Aires lebte wie sie.“ Das Spiel wurde auf einem schlammbedeckten Feld in der Peripherie von Neapel ausgetragen. Die Spieler wärmten sich auf einem Parkplatz zwischen Autos und „motorini“ ein. Am Ende kamen 20 Millionen Lire zusammen und das Kind wurde erfolgreich operiert.
Es handelte sich um eine kleine Episode im Leben des Fußballers Maradona, aber um eine große im Leben des Menschen Diego. So ist für Neapel die „cebollita“, die Zwiebel von Villa Fiorita, wie Diego zu Hause genannt wird, nicht nur ein Fußballgott, sondern auch ein fragiler, stets lächelnder, temperamentvoller, altruistischer Mann, der Kokain konsumierte und seine machoide Seite gegenüber Frauen zu oft nicht im Griff hatte.
„Diego es pueblo“ – Diego ist das Volk
Die neapolitanische Bevölkerung hat sich mit Diego Armando Maradona als Fußballer und Mensch, als fleischgewordene Dialektik zwischen Mensch und Mythos identifiziert wie mit niemandem zuvor. Es gibt keine Persönlichkeit aus dem Showbusiness oder der Politik, die fähig war, eine solche Verbindung zu „ihrem Volk“ aufzubauen, wie Diego es konnte. Denn es war eine Verbindung, die nicht an seine Spielzeit in Neapel gebunden blieb. Auch für die nach 1991 – dem Jahr der Antidoping-Kontrollen, des Koks im Urin und seiner Flucht aus Neapel – Geborenen, die Maradona also nie live haben spielen sehen, ist er eine Identifikationsfigur. Sie haben seine Meisterstücke erst auf VHS Kassetten und dann im Internet nachgeschaut. Aber sogar wer gar nie ein Fußballspiel von Maradona gesehen, keine seiner Aktionen auf dem Feld, die „mano de Dios“ oder „das schönste Tor des Jahrhunderts“ erlebt hat, ja sogar wer nichts von Fußball hält: auch für sie ist Diego ein Symbol, er ist einer von ihnen. Sie weinen heute zusammen mit den Fußball Freaks, mit den Ultras, mit den leidenschaftlichen Fans.
Wer den „Populismus“ begreifen will, sollte weniger Laclau lesen als vielmehr versuchen, das gesellschaftliche und politische Phänomen Maradona zu verstehen. Diego verstand sich nie als VERTRETER „seines Volkes“, das wollte er auch gar nicht. Diego WAR das Volk, nicht nur in Neapel. Als lebendiger Mensch mit all seinen Fehlern, seiner rauen und unkonventionellen Art verkörperte er genau das: das widersprüchliche Leben des Volkes.
Dabei legt Diego seinen nationalen und argentinischen Charakter ab und wird als Maradona zu einem universellen Charakter. Das hatten wir bereits bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 erlebt. Das Halbfinale zwischen Italien und Argentinien wurde – welche Ironie des Schicksals! – im Stadion San Paolo in Neapel gespielt, just in „seinem“ Zuhause, vor „seinen“ Leuten. Tausende Neapolitaner*innen erlebten dieses Spielt extrem gespalten: Für welche „Heimat“ sollten sie nun fanen? Für ihre offizielle Heimat oder für die „Heimat Maradona“? Die Mehrheit wählte schließlich die Heimat ihres Passes. Andere – teils leise, teils laut – hatten Diego gewählt. Dabei sind sie seinem Rat gefolgt: „Ich finde es geschmackslos, von den Neapolitaner*innen zu verlangen, für einen Abend Italiener*innen zu sein, während sie die restlichen 364 Tage im Jahr als 'terroni' beschimpft werden.“ „Terroni“ – Erdfresser, wie die Süditaliener*innen im Norden abwertend genannt werden. So setzte sich die Liebe zum Argentinier durch, der den Neapolitaner*innen im Schatten des Vesuvs Würde, Stolz und Erfolg zurückgebracht hatte.
Das Volk der “Patria Grande”, von Lateinamerika also, das er fußballspielend stets verteidigt und gewürdigt hat, weint heute um ihn. Aber auch die restliche Welt. 48 Stunden nach seinem Tod erschien sogar in den Ruinen von Idlib, im kriegszerrütteten Nordsyrien, ein Wandgemälde, das ihn darstellt. Überall erzählen Menschen, dass Maradona ein Symbol war, über das sie sich und ihr Leben verständlich machen konnten. Diego als Befreier. Diego als Volk. Und Maradonas Fußball als eine offene Sprache, die in ihrem Geist der Rebellion, in ihrer Ehrlichkeit Journalist*innen und den Mächtigen gegenüber, wie es sich alle Unterdrückten wünschen, überall und für alle verständlich ist.
Die vielen Tränen der letzten Tage bergen aber auch eine Gefahr. Es gibt Tendenzen, Diego „reinzuwaschen“. Maradona wird heute von (fast) allen mit Lorbeeren überhäuft, sogar von seinen ehemaligen Feinden. Hinter dem sogenannten „Respekt“ für den Tod eines Menschen versteckt sich damit aber auch der Versuch, seine Figur zu normalisieren und sie von all den Aspekten zu befreien, die im Sinne einer bürgerlichen Moral als verdorben gelten und nun stigmatisiert und marginalisiert werden. Damit wird gerade der volksnahe Diego und die Dialektik, die er verkörpert, aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht. Wenn das gelingt, könnte er zu einem konsumierbaren und kommerzialisierbaren Heiligen ohne Ecken und Kanten werden. Doch genau dieses Image hat er seit Beginn seiner Karriere bekämpft, wie er es im wunderschönen Interview mit dem Journalisten, Genossen und Freund Gianni Minà auf den Punkt brachte. Es würde die Seele seiner Person zerstören, die zutiefst popular ist, wie es im Grunde auch die Götter des antiken Griechenlands waren: Mächtig, aber fehlbar, großzügig, aber skurril. Wie die Religion als Sublimierung des Volkes, um es mit dem Soziologen Émil Durkheim zu sagte.
Wenn Diego einfach zu einer weiteren Statue gemacht wird, wird er ein ausgestopfter Körper und ein einbalsamiertes Konzept. Wenn wir jedoch die Dialektik, die er verkörperte, in Erinnerung behalten, werden wir seine Menschlichkeit und seine rebellische Lebendigkeit bewahren.
Übersetzung aus dem Italienischen: Maurizio Coppola und Maja Tschumi