Den Ersten Mai politisieren
Ursprünglich war der Erste Mai kein symbolischer Feiertag, sondern ein Tag des Kampfes. 1886 riefen US-amerikanische Gewerkschaften an diesem Datum zum Generalstreik auf und forderten die Einführung des 8-Stunden-Tags. Zu dieser Zeit war es noch üblich, mehr als die Hälfte des Tages in der Fabrik zu arbeiten. Auch die Arbeiter*innen einer Chicagoer Fabrik beteiligten sich an den Protesten, bei denen es zu gewaltsamen Ausschreitungen kam. Durch eine Bombe, die auf dem dortigen Haymarket detonierte, starben zwei Demonstranten und mehrere Polizisten. Vier der für den Anschlag verantwortlich gemachten Anarchisten wurden zum Tode verurteilt. Unter ihnen war der Herausgeber der Arbeiter-Zeitung, August Spies. Er verteidigte seine Tat vor Gericht, indem er sagte, nicht der Anarchismus bedeute Blutvergießen, Räuberei und Brandstiftung, sondern dies seien die charakteristischen Züge des Kapitalismus: „Anarchismus und Sozialismus bedeuten Friede und Ruhe für alle. Anarchismus und Sozialismus bedeuten die Reorganisation der Gesellschaft auf wissenschaftlichen Prinzipien und die Abschaffung der Ursachen, die Laster und Verbrechen erzeugen. Der Kapitalismus produziert erst diese sozialen Krankheiten und sucht sie danach mit Strafen zu kurieren.“
Spies sprach in diesem Moment für seine Zeit und ahnte vermutlich nicht, dass er auch über 130 Jahre später Recht behalten würde. Dass der Kapitalismus soziale Probleme verursacht und die Entstehung von Krankheiten unter profitorientierten Produktionsverhältnissen zu großen Krisen führt, sehen wir heute klarer denn je.
Eine Tradition entwickelt sich
Kurz nach den Haymarket Riots wurde der Erste Mai auch in Europa zum Tag des Gedenkens und des Protests erklärt, nämlich auf dem Gründungskongress der Zweiten Sozialistischen Internationale. Seitdem sind die Mai-Demonstrationen am Tag der Arbeiter*innenklasse eine feste Tradition in über 100 Ländern geworden. Und seitdem wird darüber diskutiert, ob es sich um einen Kampf- oder einen Feiertag handelt. Die österreichische und deutsche Sozialdemokratie waren um einen friedlichen Ablauf des Tages bemüht, in Großbritannien wurde der Erste Mai auf den Sonntag verlegt, falls der tatsächliche Tag auf einen Wochen-, also einen Arbeitstag fiel. Die Argumente der Sozialdemokratie für einen friedlichen Feiertag waren einerseits das Recht der Arbeiter*innen, den Frühling einmal genau so unbeschwert genießen zu dürfen, wie es die Kapitalist*innen durften, andererseits waren in Deutschland gerade erst die Sozialistengesetze abgeschafft worden und man wollte Repressionen wegen radikalem Auftreten vermeiden. Mit der Einführung eines staatlichen Feiertages wurde diese Debatte beendet. In Ländern wie Spanien oder Italien, in denen die anarchistische Bewegung einen vergleichsweise starken Einfluss hatte, stand das Märtyrertum der Haymarket Riots im Vordergrund. In Frankreich lehnte die damals noch anarcho-syndikalistische Gewerkschaft CGT (Confederation Generale du Travail) bis zum Ersten Weltkrieg die Teilnahme am 1. Mai ab, da sie in ihm kein unmittelbares Revolutionspotential sah. Heute äußert sich der Konflikt mancherorts in einer räumlichen Trennung der politischen Fraktion, wie in Berlin, wo üblicherweise morgens die Gewerkschafts- und abends die Revolutionäre 1. Mai Demonstration stattfindet.
In den Ländern, in denen die Industrialisierung und damit auch die Arbeiter*innenbewegung zunächst geringer vorhanden war, wurde zwar ein Tag im Mai gefeiert, jedoch wurde ihm die politische Bedeutung genommen. In der Türkei beispielsweise, wo es in den 1920er Jahren noch den Tag der Arbeiter*innenklasse gab, wurde dieser kurz darauf verboten und von 1935 bis 1976 als Bahar ve Çiçek Bayramı – „Frühlings- und Blumen-Feiertag“ – betitelt. Erst eine starke Gewerkschaftsbewegung, die über die Jahre an Stärke und Klassenbewusstsein gewonnen hatte, machte ihn wieder zum Tag der Arbeiter*innen. In Deutschland erklärten die Faschisten ab 1933 den 1. Mai zum „Tag der Nationalen Arbeit“, einen Tag darauf wurden die Gewerkschaften zerschlagen und ihre Häuser von der SA, SS und der Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation besetzt.
Nach 1945 wurde der 1. Mai in Ost- und West-Deutschland unterschiedlich gefeiert. Während er in der DDR offiziell von der Regierung mit Paraden als „Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus“ begangen wurde, organisierten in der BRD die Gewerkschaften und Parteien der Arbeiter*innenklasse den Tag. Ab den 1970er Jahren waren an den Mai-Demonstrationen in der BRD auch radikalere linke Gruppen beteiligt, die den sozialdemokratischen Kurs kritisierten. Bis heute sind die Straßenkämpfe in Berlin-Kreuzberg aus dieser und der folgenden Zeit legendär. Vor allem war der 1. Mai jedoch auch ein internationalistischer Protesttag: Bundesweit beteiligten sich zunehmend migrantische Organisationen und thematisierten etwa die Militärdiktaturen in Chile, Spanien oder der Türkei.
Kämpfen in Zeiten von Corona
Dieses Jahr hält eine neue Herausforderung für uns bereit. Die globale Verbreitung des Corona-Virus verlangt, dass wir Abstand zueinander halten, um uns und unsere Mitmenschen zu schützen. Jede*r Vernünftige sieht ein, dass gewisse Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wichtig sind. Doch bedeutet das auch, dass sämtliche politische Entscheidungen protestlos akzeptiert werden müssen?
Während mit der schrittweisen Öffnung von Geschäften und Schulen begonnen wird, scheint jedoch klar zu sein, dass am 1. Mai keine Demonstrationen und Kundgebungen statfinden sollen. Der DGB hat ein weitestgehend virtuelles Programm angekündigt, online kann man sich Reden und Konzerte anschauen. Dagegen argumentiert die „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften“. In ihrem Aufruf schreiben sie, es sei notwendig, am 1. Mai – unter Berücksichtigung des Gesundheitsschutzes und gebotenen Abstandes – auf die Straße zu gehen. Die Expertise der Kolleg*innen aus dem medizinischen Bereich könne genutzt werden, um ein Konzept für die Durchführung der Veranstaltungen mit einem entsprechenden Ordner*innendienst zu erarbeiten.
Damals, im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde für den 8-Stunden-Tag demonstriert. Diese Forderung ist auch heute wieder aktuell, nachdem nun das SPD-geführte Arbeitsministerium eine Verkürzung der Ruhezeit für Arbeiter*innen im Gesundheitsbereich auf neun Stunden und die Ausdehnung von Arbeitszeiten auf bis zu 12 Stunden beschlossen hat. Und das auch noch im Widerspruch zu den Erfahrungen, die in China gemacht wurden, wonach eine Verkürzung der Schichten auf sechs Stunden nachweislich die Ansteckungs- und Sterberate senken konnte.
Es folgt der Logik des Kapitalismus, dass in Produktionszweigen wie der Waffenindustrie ungehindert weiterarbeitet wird, während die Menschen auf der ganzen Welt um ihr Leben besorgt sind, weil nicht genügend Schutzausrüstung oder medizinisches Gerät zur Verfügung steht. Dass es dagegen keinen öffentlichen Protest gibt, ist nicht nur am Ersten Mai ein Problem. Wenn der Unmut nicht von links thematisiert und progressiv organisiert wird, haben es Rechte und Verschwörungstheoretiker*innen leichter, gegen „die da oben“, wahlweise „Merkel“ oder „Bill Gates“ oder auch unter dem neurechten Motto „Wir sind das Volk“ zu mobilisieren. Das sehen wir aktuell: Die Gruppe Widerstand2020 hat innerhalb einer Woche 55.000 zahlende Mitglieder akquiriert, fast doppelt so viele wie die AfD in den letzten Jahren. Auf ihrer Internetseite fordern sie eine Veränderung des Grundgesetzes, wonach „Freiheit über allem“ und „Moral vor Politik“ stehen müsse und Entscheidungen transparent gemacht werden sollen. Gegründet wurde dieses Parteiprojekt von dem Rechtsanwalt Ralf Ludwig, Victoria Hamm, die sich als „nur ein Mensch“ vorstellt, und Dr. Bodo Schiffmann, Leiter der Schwindelambulanz Sinsheim. Schiffmann betreibt einen youtube-Kanal, in dem er Beiträge von Ken Jebsen lobt, vor der Gefahr einer Impfpflicht warnt und Politiker*innen aufruft, Teil von Widerstand2020 zu werden, um das System von innen zu verändern. [1]
Während also Millionen Menschen von Kurzarbeit oder Arbeitslosengeld ihren Unterhalt bestreiten müssen und mit existientiellen Nöten konfrontiert sind, wächst eine Bewegung, die scheinbar einfache Lösungen anbietet. Gerade dagegen ist es wichtig, die Errungenschaften der internationalistischen Arbeiter*innenbewegung zu verteidigen. Es ist die organisierte Arbeiter*innenklasse, die für eine klare Reduzierung der Arbeitszeit, höhere Löhne für Pflegeberufe und Sicherheit am Arbeitsplatz kämpft. Dass eines ihrer wichtigsten Organe, der Gewerkschaftsbund, sich schon jetzt aus der Kampfarena zurückzieht, ist kein Zeichen der Motivation.
Der Erste Mai bietet die Möglichkeit, soziale Kämpfe zu verbinden. Nicht nur das gemeinsame Demonstrieren, sondern auch durch die vorbereitende Bündnisarbeit, die Mobilisierung zur Aktion und die Diskussionen über thematische Schwerpunkte, Demonstrationsrouten und Slogans bringen lokale und internationale Aktivist*innen zusammen. Mit Online-Aktivismus ist das nicht zu ersetzen, wenn die Mai-Demonstration kein Selbstzweck sein soll. Der kürzlich verstorbene britische Marxist und Historiker Eric Hobsbawm brachte in einem Artikel die Besonderheit des Ersten Mai auf den Punkt: „Es war ein Tag, an dem diejenigen, die sonst unsichtbar waren, in die Öffentlichkeit getreten sind und, zumindest für einen Tag, den offiziellen Raum der Herrschenden und der Gesellschaft, vereinnahmt haben.“
Anmerkung der Redaktion
[1] Es gibt bislang noch kaum Analysen zu der neuen rechten Mobilisierung, die sich unter dem Namen Widerstand2020 formiert, deshalb sind die Informationen nicht mit Links belegt. Wir verlinken aber auch grundsätzlich nicht auf rechte Seiten und Portale; einen Überblick über das aktuelle Treiben der Formierung lässt sich etwa bei Twitter unter demselben Hashtag verfolgen.