Demokratischer Massenaufstand in Katalonien
Dazu kommt, dass die katalanische politische Arena im Prinzip seit 1980 von neoliberal-konservativen Elementen, ab 2003 von einer neoliberalen Sozialdemokratie beherrscht wurde, die beide die Forderung nach Unabhängigkeit lange Zeit entweder gar nicht, oder später mehr rhetorisch und zum Zwecke der Erpressung der spanischen Zentralregierung in Madrid für ökonomische Zugeständnisse nutzte. Diese politischen Kräfte, die sich im konservativ-neoliberalen Wahlbündnis Convergència i Unió (CiU) auf der einen und in der sozialdemokratisch-neoliberalen Partit dels Socialistes de Catalunya (PSC), die katalanische Schwesterpartei der spanischen PSOE auf der anderen, sammelten, ging es vor allem darum, davon abzulenken, dass sie selbst, als Vertreterin des spanischen Kapitals und der katalanischen Elite zahlreiche der unpopulären Sozialkürzungsmaßnahmen in Katalonien umsetzten. Denn Spanien befindet sich seit 2008, ebenso wie mehrere andere Länder des europäischen Südens, in einer schweren ökonomischen Krise. Insbesondere der unter Ägide der CiU dominierende Wohlstandschauvinismus, der mit dem lange Zeit rein rhetorischen Autonomiegepoche einherging, hat die katalanische Frage international in der Linken nicht gerade populär gemacht.
Was hat sich also nun geändert? Durch die radikal-neoliberale Kürzungspolitik der spanischen Zentralregierung in der Krise ist eine Gegenbewegung auf der Straße entstanden, die gegen die Sozialkürzungen, aber auch gegen das repressive Vorgehen des spanischen Zentralstaats mobilisierte und historisch an den Katalanismus anknüpfte. Seit 2009 werden durch den spanischen Zentralstaat massive Sozialkürzungspolitiken forciert, die durch die Regionalparteien CiU und PSC mitgetragen wurden. Die Region Katalonien ist von einer Kürzung von fünf Milliarden Euro in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung und anderen Sozialleistungen zwischen 2009 und 2016 betroffen. Schließlich konstituierte sich eine Bewegung, in der außerparlamentarische wie parlamentarische links-liberale bis radikal linke Akteure über die Jahre Fuß fassen und den Diskurs nach links und Richtung Unabhängigkeit verschieben konnten. Dieser Bewegungs-Prozess begann bereits am 10. Juli 2010: Eine Million KatalanInnen gingen auf die Straße, um gegen den Beschluss des spanischen Verfassungsgerichts zur Annullierung des neuen Autonomiestatuts von 2006, das seinerzeit von der PSOE-Schwesterpartei PSC in Madrid eingereicht wurde und ohnehin zahnlos war, zu demonstrieren. Das Motto der Demonstrationen war „Som una nació – nosaltres decidim” („Wir sind eine Nation – wir entscheiden“) und bezog Stellung für eine regionale Souveränität über Fragen der Autonomie.
Durch den Druck der neuen Bewegung auf der Straße, die dann auch 2012 die explizit radikal linke, antikapitalistische Basisorganisation Candidatura d’Unitat Popular (CUP) mit drei Prozent und 2015 mit acht Prozent ins katalanische Parlament wählte, gleichzeitig aber auch durch die kompromisslose bis offen repressive, antidemokratische Haltung des spanischen Zentralstaats, verschiebt sich der Diskurs immer weiter in Richtung Unabhängigkeit. Als Motor erwies sich hier auch die Unabhängigkeitsplattform Assemblea Nacional Catalana (ANC), die immer wieder Demonstrationen mit hunderttausenden TeilnehmerInnen organisierte und Druck auf die nicht-radikalen katalanistischen Parteien ausübte. 2014 wurde das erste Referendum abgehalten, Madrid erklärte es für illegal. Es findet dennoch statt – wohl weil Madrid der CiU die Umsetzung im Falle eines Erfolgs nicht zutraut. 80 Prozent der WählerInnen stimmen für die Unabhängigkeit bei 40 Prozent Wahlbeteiligung. Die CiU zerbricht schließlich 2015 an der Unabhängigkeitsfrage aufgrund der verschiedenen Interessen der sie stützenden Eliten. Der konservative Flügel tritt aus. Ihr langjähriger liberaler Führer Arturo Mas gründet daraufhin mit den LinksnationalistInnen der Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) das Pro-Unabhängigkeits-Wahlbündnis Junts pel Si, das derzeit unter Tolerierung der CUP den Ministerpräsidenten stellt und einen inklusiven, sozialliberalen Katalanismus vertritt. Das Pro-Referendums-Lager, das aus den Wahlen 2015 mit dieser Mehrheit hervorging, hat nun auch das Referendum dieses Wochenende anberaumt.
Mit was haben wir es also zu tun? Die derzeitige Pro-Referendums-Bewegung auf der Straße ist eine klassenübergreifende Volksbewegung im Wortsinn mit tendenziell linkem, liberalem Zuschnitt. In ihr sammeln sich Kräfte von der radikalen Linken bis hin zu links-liberalen Kräften, während sich konservative bis faschistische Gruppen und Parteien ebenso wie die Parteien, die mit den spanischen Zentralparteien verbunden sind, und ihr jeweiliger Anhang gegen das Referendum stellen. Im Vorfeld des Referendums kam es zu mehreren massenhaften Aktionen, Streiks und Blockaden – insbesondere gegen zentralspanische Repressionsandrohungen, das Referendum mit Gewalt zu verhindern. Die Bewegung ist inhaltlich diffus mit widerstreitenden Interessen und es ist nicht ausgemacht, wohin sich das Ganze entwickeln wird, gerade nach den Geschehnissen am Tag des Referendums: Durch Polizeigewalt wurden bis zum Abend über 500 Menschen verletzt. Fakt ist jedoch, dass die konservativen Kräfte im Katalanismus, die in der Vergangenheit eine wohlstandschauvinistische Haltung beförderten, derzeit nachhaltig geschwächt scheinen.
Warum sollten wir die nationale Bewegung trotz Zweifeln unterstützen? Der völkische Nationalismus mit seinem Einheitsgedanken ist traditionell in Spanien ein Konzept des spanischen Zentralstaats, mit dem unter anderem der spanische Faschismus Francos und die Unterdrückung nationaler Minderheiten legitimiert wurde. Die Minderheitenbewegungen Spaniens im Baskenland, Katalonien oder Galizien standen deshalb immer zwangsläufig auf der liberalen oder sogar linken Seite – etwa im spanischen Bürgerkrieg 1936-1939 – und vertraten gegen die Monarchie ein republikanisches Konzept. Diese Konstellation ist im Prinzip bis heute erhalten geblieben. Der brutale Einsatz der ehemaligen faschistischen Folterpolizei und der heutigen paramilitärischen Polizeieinheit Guardia Civil gegen das Referendum zeigt: Der Franquismus lebt im Staat und im Selbstverständnis seines Personals fort und eine ,,Entnazifizierung“ hat es im Staatsverständnis Spaniens nie gegeben. Das wird auch sichtbar an den Versuchen der spanischen Eliten, bis heute gedenk- und aufarbeitungspolitische Ansätze für die Opfer des Faschismus zu sabotieren. Genau für einen Bruch mit diesem spanischen, franquistischen Staatsverständnis stehen aber mitunter die nationalen Minderheitenbewegungen in Spanien, die daneben noch die nach wie vor bestehende ehemalige Stütze des Franquismus – die spanische Krone – angreifen. Es geht also um mehr in Katalonien. Nationale, demokratische und soziale Frage fließen dort gerade zusammen. Insbesondere zur sozialen und demokratischen Frage sollten wir uns als internationale Linke verhalten, auch wenn wir dem nationalen Teil der Agenda, dem Separatismus und einigen Strömungen in der katalanischen Bewegung kritisch gegenüberstehen. Solidarisch gegen die post-franquistische Repression ist das mindeste, was zur Zeit geboten wäre.