Campushexe strikes back
Hatice Göz wurde am 11. September 2018 gemeinsam mit unserem Genossen und Kollegen Max Zirngast, sowie Mithatcan Türetken und Burçin Pekdemir aufgrund des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ inhaftiert. Wir haben darüber beim re:volt magazine berichtet („Campushexen kann man nicht festnehmen“).
Am 24. Dezember 2018 wurde Hatice gemeinsam mit Max und Mithatcan aus der Haft entlassen, aber das absurde Verfahren dauert an. Am 11. April 2019 fand nun der erste Prozesstag statt. Die Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast hat einen ausführlichen Bericht zum ersten Gerichtstermin sowie die Verteidigungsrede von Max öffentlich zugänglich gemacht. Wir veröffentlichen zudem die Verteidigungsrede von Hatice und demnächst auch die von Mithatcan. Freiheit für alle politischen Gefangenen!
Sehr geehrter Herr Richter, sehr geehrte Gerichtskommission,
vor einigen Monaten bin ich beschuldigt worden, Mitglied einer Organisation zu sein, mit der ich überhaupt nichts zu tun habe. Ich war danach für drei Monate in Untersuchungshaft. Wenn Sie erlauben, würde ich jetzt gerne auf diese unbegründeten und absurden Anschuldigungen antworten und mich verteidigen.
Ich habe einen Universitätsabschluss in Psychologie. In meinen Universitätsjahren habe ich mich politisiert. Seitdem verfolge ich politische Entwicklungen und bin dort aktiv, wo ich mich verantwortlich fühle. Dabei nehme ich mein Grundrecht der Meinungsfreiheit im demokratischen Rahmen wahr. Ich bin ein sozialistisches, feministisches und ökologisches Individuum und verteidige universelle Werte.
Wie ich schon bei meiner Aussage bei der Staatsanwaltschaft erläutert habe, bin ich Mitglied in der Toplumsal Özgürlük Parti Girişimi (TÖPG; dt.: „Parteiinitiative Soziale Freiheit“). Seit 2015 bin ich im feministischen Kampf aktiv.
Ich bin der Meinung, dass Frauen vom patriarchalen System unterdrückt, ignoriert und marginalisiert werden. In unserem Land wird jeden Tag eine Frau von einem Mann umgebracht. Im März 2019 wurden 27 Frauen von Männern ermordet. Frauen werden regelmäßig und systematisch belästigt, erfahren Gewalt und werden vergewaltigt. Dagegen kämpfe ich.
Momentan führe ich diesen Kampf mit den Kampüs Cadiları („Kampushexen“). Ich möchte jetzt erklären, was die „Kampushexen“, die in der ganzen Anklageschrift als Frontorganisation einer terroristischen Organisation dargestellt werden, eigentlich sind.
Die „Kampushexen“ sind ein legales, demokratisches Frauensolidaritätsnetzwerk. Sie haben sich 2015 mit einer öffentlichen Konferenz gegründet und beschäftigen sich in erster Linie mit den spezifischen Problemen von Studentinnen als jungen, studierenden Frauen. Sie sind eine feministische Organisation.
Vor nur drei Tagen hat an der Universität Ankara ein Akademiker eine Kollegin vergewaltigt. Vor einigen Monaten wurde die Forschungsassistentin Ceren Damar von einem Studenten ermordet. Die junge Studentin Şule Çet starb letztes Jahr unter verdächtigen Umständen.
Gegen diese sozialen Realitäten verteidigen die „Kampushexen“ das Leben und die Freiheit von Frauen. Sie verteidigen ihre Gleichheit. Sie stellen sich gegen sexistische Sprache und Lehre an den Universitäten. Und sie adressieren alle jungen Frauen und veranstalten mit ihnen gemeinsame Aktivitäten zu ihren gemeinsamen Problemen, die aus ihrem Frausein resultieren. Denn im Großen und Ganzen haben alle Studierenden ähnliche Probleme. Wir können die Lösungen für diese Probleme erst dadurch finden, dass wir zusammenkommen und gemeinsam daran arbeiten.
Die Anklageschrift befindet mich in ihren Feststellungen für schuldig und erklärt mich zur „Verantwortlichen in Zentralantolien“ der genannten Terrororganisation, da ich in andere Städte und Provinzen gefahren bin und mich dort mit Frauen getroffen und verschiedene Workshops und Sitzungen mitgestaltet habe.
Können Sie mir erklären, welche Form von Schuld, oder welche Form von Gewalt es darstellt, wenn man sich in verschiedenen Städten mit jungen Frauen trifft, Gespräche führt, Bücher liest und Panels organisiert? Während in diesem Land, in dem Männer jeden Tag Frauen ermorden, nicht gefragt wird, „ob diese Männer etwas mit einer Terrororganisation“ zu tun haben, werden Frauen, die gegen diese Männergewalt zusammen kommen und sich gegenseitig unterstützen, mit einer Terrororganisation in Verbindung gebracht. Das ist schlichtweg sexistisch.
Die „Kampushexen“ veranstalten Workshops, in denen Frauen zusammen kommen, diskutieren, gemeinsam beratschlagen, ihre Befreiung anvisieren und sich in der Gesellschaft als Subjekt verwirklichen können. Um nur einige Beispiele von diesen Workshops zu geben: Flirtgewalt, Tanz, kreatives Drama, oder Chorgesang. Gleichzeitig organisieren sie auch Panels und Diskussionen mit Expertinnen, Aktivistinnen, Akademikerinnen oder Schriftstellerinnen. Sie kündigen diese Veranstaltungen an und machen offene Aufrufe an alle Frauen, an diesen Veranstaltungen teil zu nehmen.
Um ein weiteres Beispiel unserer Aktivitäten zu geben: Wir organisieren Selbstverteidigungskurse für Frauen, die angesichts der täglichen Gewalt einfache Techniken lernen, um sich zu verteidigen, um am Leben bleiben zu können. In diesen Kursen lehren uns ausgebildete Kampfsportexpert_innen und es geht uns dabei nicht, um die Heiligung von Gewalt, sondern um die Verteidigung des Rechts auf Leben. Kurse dieser Art veranstalten wir im Übrigen teilweise auch in Zusammenarbeit mit Gemeinden.
Jeden Sommer veranstalten die „Kampushexen“ Camps mit großer Teilnehmerinnenzahl. Hunderte Frauen aus vielen Städten der Türkei finden sich zusammen bei Filmvorführungen und -diskussionen, Panels, Diskussionen, Konzerten und verschiedensten Aktivitäten. Unser Ziel dabei ist, Frauen zusammenzubringen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich miteinander zu solidarisieren und sich gegenseitig zu stärken.
Das letzte, sich auch in der Anklageschrift findende Sommercamp haben die Kampushexen mit Mor Dayanışma („Violette Solidarität“) gemeinsam organisiert. Mor Dayanışma ist eine Frauenorganisation, mit der wir uns solidarisieren, und die sich in Vierteln, Häusern und an den Arbeitsplätzen mit den Problemen von Frauen auseinandersetzt.
Die „Kampushexen“ veröffentlichen eine dreimonatige Zeitschrift mit dem Namen Feminerva. Feminerva bearbeitet zum einen die Tagesordnung und die aktuellen Probleme von Frauen, andererseits gibt es in der Zeitschrift Diskussionen zum feministischen Kampf. Die Zeitschrift ist eine legale Publikation mit Impressum und ist an alle Frauen adressiert. Die Publikationskosten werden einerseits von der Solidarität der Frauen, andererseits von Vereinen, die Publikationen dieser Art unterstützen, und auch vom Verkauf der Zeitschrift gestemmt. Den Inhalt der Zeitschrift bestimmen allerdings die feministische Tagesordnung und die Redakteurinnen. Ich beteilige mich an der Redaktion der Zeitung, demnächst wird unsere sechste Ausgabe erscheinen. Wenn Sie erlauben, möchte ich ihnen ein paar Exemplare unserer Zeitschrift geben.
Sehr geehrter Herr Richter,
die „Kampushexen“ sind gegen das Patriarchat. In dieser Hinsicht stellen sie sich gegen die Politik und Rhetorik jeder Institution, sei diese ein Mann oder ein Staat, eine Regierung oder jedwede andere Institution, die Frauen unterdrückt und frauenfeindliche Politik betreibt. Die „Kampushexen“ bauen ihre Rhetorik und ihre Aktivitäten auf dem Kampf gegen das Patriarchat undder Befreiung der Frauen auf. Wer immer gegen Frauen ist, gegen den werden sich die „Kampushexen“ stellen. Und das werden sie auch weiterhin tun.
Sehr geehrter Herr Richter,
das sind wir. Das sind die „Kampushexen“. Ich bin eine Feministin und eine Hexe. Und ich kann einzig dafür beschuldigt werden, eine Hexe zu sein. Aber ich möchte davor warnen. Denn die Beschuldigung und Verurteilung wegen Hexerei ist dem Mittelalter zugehörig, ist eine mittelalterliche Geisteshaltung.
Ich möchte desweiteren auch auf einige andere Behauptungen der Anklageschrift eingehen. Ich bin Öko-Aktivistin. In meinen Augen gibt es keinen Unterschied zwischen Mensch oder Vogel, Baum oder Erde. Ich bin gegen die Plünderung, den Raubbau an der Natur durch Konzerne und gegen die Ausbeutung von Tieren. Aus diesem Grund habe ich mich auch in der ökologischen Organisation Doğanın Çocukları („Kinder der Natur“) engagiert. Alle Aktivitäten in diesem Zusammenhang waren gegen Naturzerstörung, für die Verteidigung der Zukunft des Planeten gerichtet und sie waren eine Einladung an alle Menschen, verantwortlich zu handeln. Im Zuge dieser Aktivitäten gab es keine Form von Provokation oder Gewalt. Das lässt sich auch sehr leicht erkennen, wenn man sich die Aktivitäten genauer ansieht.
Wir Sozialist_innen sind auf der Suche nach der Möglichkeit einer anderen Zukunft. In diesem Sinne wollen wir eine Welt, die für die Kinder der Zukunft auch lebbar sein wird. Wir verteidigen kritische, freie, wissenschaftliche und muttersprachliche Bildung. Jeden Sommer veranstalten wir in den Vierteln, in denen wir leben, mit den Kindern der Gegend Workshops und Veranstaltungen unter dem Titel Her Yer Çocuk („Überall sind Kinder“). Bei diesen Aktivitäten wollen wir den Kindern nicht irgendwelche Kenntnisse „beibringen“, sondern ihre Kreativität und ihr kritisches Denken mit Workshops zu Philosophie, kreativem Drama, Musik und Yoga zur Entfaltung bringen. Für die Gestaltung der Workshops fragen wir Studierende an, die das dann ehrenamtlich machen. Damit bringen wir freiheitlich gesinnte, aufgeklärte Studierende in Kontakt mit Kindern. Wir glauben daran, dass in unserem Land, wo Kinder tagtäglich missbraucht werden, jede und jeder für das Leben der Kinder verantwortlich ist. Auch ich beteilige mich als Psychologin in meinem Viertel an der Organisation solcher Workshops. Ich lehne entschieden den Vorwurf [der Anklageschrift - Anm. d. Übers.] ab, dass wir unter dem Deckmantel dieser Workshops eigentlich Kinder für eine terroristische Organisation rekrutieren, und somit illegal handeln würden. Wer wissen will, was wir in diesen Workshops tun, der kann sich die betreffenden Fotos und Videos anschauen, oder einfach die Familien der Kinder fragen.
Seit meinen Universitätsjahren beschäftige ich mich mit Kunst, Kultur und Literatur. In diesem Rahmen bin ich ebenfalls aktiv im Serüven Kültür, einem legalen Verein, der freiheitlich und solidarisch ausgerichtet ist. Ich war sehr aktiv im Serüven Kültür-Verein in Ankara. Von Philosophie-Workshops bis hin zu Tanz-Workshops habe ich die unterschiedlichsten Aktivitäten im Serüven Kültür beworben oder habe selbst an ihnen teilgenommen. Die Beteiligung an kulturellen und künstlerischen Aktivitäten stellt keine Straftat dar. Ich lehne den Vorwurf [der Anklageschrift -Anm. d. Übers.] ab, dass im Serüven Kültür illegale Aktivitäten betrieben werden.
Um es zusammen zu fassen, Herr Richter,
ich weise alle Vorwürfe und Anschuldigungen gegen mich zurück und erachte diese als Versuch, uns und unsere Arbeit zu kriminalisieren. Ich finde es absurd, dass ich noch immer der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt werde, wo doch alle meine Aktivitäten offen und bekannt sind, die Existenz der in Frage stehenden Organisation nicht bewiesen ist und keine einzige konkrete Straftat vorgelegt wurde. Ich möchte noch einmal in aller Deutlichkeit hervorheben, dass ich als Frau nicht vom feministischen Kampf ablassen werde und in einer Zeit, in der die Angriffe gegen die Frauenbewegung so sehr zunehmen, sicher nicht klein bei geben werde.
Ich akzeptiere die Anschuldigungen gegen mich nicht und fordere meine Freisprechung.
Aus dem Türkischen übersetzt von Max Zirngast.