Am 9. Oktober verwirklichte die T\u00fcrkei ihren lange gehegten Wunsch einer umfassenden milit\u00e4rischen Invasion in Nordost-Syrien (Rojava), nachdem ein Telefonat zwischen dem t\u00fcrkischen Pr\u00e4sidenten Recep Tayyip Erdo\u011fan und seinem us-amerikanischen Amtskollegen Donald Trump hierf\u00fcr den Weg ebnete. Trump lie\u00df wenig sp\u00e4ter per Twitternachricht verlauten, dass \u201eer\u201c sich mit sofortiger Wirkung aus der Region heraushalten werde \u2013 \u201etime to [\u2026] bring our soldiers home\u201c. Ein Freifahrtschein f\u00fcr die T\u00fcrkische Armee (TSK) samt Gefolgsleuten.
Unterst\u00fctzt von heftigem Artilleriebeschuss und dem Bombardement durch Kampfjets schickte die T\u00fcrkische Armee (TSK) jihadistische Milizen unter dem pomp\u00f6sen Namen Syrische Nationale Armee (SNA) voran. Die Angaben zu ihrer Zahl schwanken, aber es soll sich bei ihnen um etwa 15.000 K\u00e4mpfer handeln, die in der jetzigen Invasion mobilisiert wurden. Die verschiedenen Teilgruppen der SNA agieren schon lange in Syrien. 21 der insgesamt 37 Gruppen, die in der SNA versammelt sind, wurden in der Vergangenheit von den USA unterst\u00fctzt und viele fanden sich auch schon in der Freien Syrischen Armee (FSA). Sie \u00e4ndern permanent ihre Namen, sind aber im Grunde altbekannte jihadistische Gruppen.
Eine Invasion vom Rei\u00dfbrett
Der Krieg begann mit Artilleriebeschuss und Luftbombardements auf Stellungen der Syrischen Demokratischen Kr\u00e4fte (SDF), einem von der kurdischen YPG angef\u00fchrten multiethnischen Milit\u00e4rverbund, und auch auf die Regionen nahe der Grenze zur T\u00fcrkei. Die SNA konzentrierte ihre Angriffe dabei in erster Linie vor allem auf die St\u00e4dte Gire Sp\u00ee/Tal Abyad und Ser\u00ea Kaniy\u00ea/Ras al-Ayn und das Gebiet zwischen diesen beiden. Sie versuchte, die St\u00e4dte zu isolieren und voneinander, sowie von anderen St\u00e4dten abzuschneiden, um dann die St\u00e4dte selbst einzunehmen. W\u00e4hrend Gire Sp\u00ee /Tal Abyad mittlerweile an SNA und TSK gefallen ist, h\u00e4lt der Widerstand der SDF in Ser\u00ea Kaniy\u00ea/Ras al-Ayn an (Stand 16. Oktober 2019). Trotz kleinerer Scharm\u00fctzel sind die St\u00e4dte Qamishlo und Koban\u00ea/Ayn al-Arab nicht wirklich attackiert worden, Manbidsch, das westlich des Euphrat liegt, hat eine gewisse Sonderstellung und kam erst nach einigen Tagen unter Beschuss. Die Taktik der T\u00fcrkei d\u00fcrfte sein, das Gebiet der Selbstverwaltung von der Mitte her zu zerteilen und Verbindungswege zu kappen, beziehungsweise die St\u00e4dte zu isolieren. Der Plan ist dann in einer zweiten Phase des Krieges ein gr\u00f6\u00dferes Gebiet zu besetzen.
Erdo\u011fan verweist seit Langem darauf, dass es das Ziel der Operation sei, eine 30 Kilometer tiefe und \u00fcber 480 Kilometer lange Zone von \u201eterroristischen Elementen zu bereinigen\u201c und bis zu zwei Millionen syrischer Gefl\u00fcchteter, die sich derzeit in der T\u00fcrkei aufhalten, in dieser Zone anzusiedeln. In dieser \u2013 laut Milit\u00e4rstrategen als dritte und letzte Phase der Milit\u00e4rinvasion zu realisierenden \u2013 Zone w\u00e4ren fast alle gr\u00f6\u00dferen St\u00e4dte der Selbstverwaltung an der Grenze zur T\u00fcrkei eingeschlossen. Das Schicksal des Projekts, das mit dem \u201eRojava Aufstand\u201c im Jahr 2011 begann, w\u00e4re damit besiegelt \u2013 wenn denn dieser Plan aufgeht.
Verschiebungen der Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse in Syrien
Im Moment sieht es so aus, als ob die SDF einen kontrollierten und fokussierten Widerstand leisten. Das \u00dcbereinkommen zwischen den SDF und der Syrischen Arabischen Armee (SAA), das am 13. Oktober ausgehandelt wurde und sich seither in der Praxis vollzieht, hat die Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse am Boden und die politischen Konstellationen in Syrien und im Mittleren Osten verschoben. Die Erkl\u00e4rung der Selbstverwaltung Nord- und Ost-Syriens spricht von einer Koordination der SAA mit der Selbstverwaltung zur Abwehr der Angriffe der T\u00fcrkei und zur Befreiung der besetzten St\u00e4dte wie Afr\u00een. Gleichzeitig ziehen sich verbleibende US-Truppen vollst\u00e4ndig aus der Region zur\u00fcck.
Die Zahlen der verlorenen Menschenleben seit Kriegsbeginn sind jetzt schon ersch\u00fctternd. Die SDF leistet einerseits starken Widerstand, andererseits sind Artilleriebeschuss und Luftbombardements der T\u00fcrkei teilweise scheinbar willk\u00fcrlich gegen St\u00e4dte mit Zivilbev\u00f6lkerung und auch zivile Konvois gerichtet. Dementsprechend gibt es auch sehr viele Berichte \u00fcber ermordete Zivilist*innen, zerst\u00f6rte zivile Infrastruktur, zerst\u00f6rte oder gestohlene Rettungsfahrzeuge, Beschuss und R\u00e4umung von Krankenh\u00e4usern und dergleichen mehr. Schreckliche Bilder und Videos von Gr\u00e4ueltaten der t\u00fcrkischen Armee und insbesondere von den mit ihr verb\u00fcndeten jihadistischen Gruppierungen kursieren in den Sozialen Medien. Mindestens 130.000 Zivilist*innen mussten fliehen und eine humanit\u00e4re Katastrophe entfaltet sich vor unseren Augen.
Dar\u00fcber hinaus gibt es Berichte zur gezielten Bombardierung von Gef\u00e4ngnissen, in denen bislang insgesamt etwa 15.000 der IS-Mitgliedschaft verd\u00e4chtigte Menschen festgehalten wurden. Zumindest einige hundert IS-Verd\u00e4chtige konnten fliehen. Es ist durchaus m\u00f6glich, dass es zu einer teilweisen Wiederbelebung der fast schon eliminierten IS-Strukturen kommt \u2013 oder dass sich die IS-Jihadisten den t\u00fcrkeinahen S\u00f6ldnertruppen anschlie\u00dfen.
Erzwungene Teilliberalisierung
Was aber sind die innenpolitischen und wirtschaftlichen Dynamiken in der T\u00fcrkei, die diese Milit\u00e4rinvasion motivieren? Der erste Grund ist offensichtlich: Die T\u00fcrkei steht den Selbstverwaltungsbestrebungen in Rojava seit ihren Anf\u00e4ngen im Jahr 2011 feindlich gegen\u00fcber. Diese Feindschaft inkludierte zun\u00e4chst eine (in)direkte Akzeptanz und sogar Unterst\u00fctzung der IS-Strukturen und anderer jihadistischer Gruppen, die gegen die Selbstverwaltung k\u00e4mpften. Nachdem dies nicht funktionierte, intervenierte die T\u00fcrkei direkt milit\u00e4risch, zun\u00e4chst 2016 mit dem Einmarsch in vom IS besetztes Gebiet zwischen den Kantonen Afr\u00een und Koban\u00ea (Jarablus und al-Bab) und dann nochmal 2018, als direkt die Kr\u00e4fte der Selbstverwaltung attackiert wurden (Afr\u00een). Aus Sicht der herrschenden Kr\u00e4fte in der T\u00fcrkei stellt die schiere Existenz von Rojava eine Gefahr dar, da dadurch auch die kurdischen und demokratischen Strukturen in der T\u00fcrkei gest\u00e4rkt werden. Gleichzeitig erscheint Rojava den herrschenden Kr\u00e4ften in der T\u00fcrkei als ein Organisationsmodell von Staat und Gesellschaft, das im Widerspruch zum t\u00fcrkischen Modell des autokratischen Neoliberalismus steht. Rojava konstituiert daher eine Bedrohung des Wesens der Gesellschaftsformation der T\u00fcrkei. Der \u201eKrieg gegen die Kurd*innen\u201c ist au\u00dferdem der wichtigste gemeinsame Nenner, der die AKP nach den Wahlen im Juni 2015 mit ehemals verfeindeten nationalistischen Staatsfraktionen zur \u201eWahrung der Existenz des Staates\u201c in einer neuen \u201eStaatskoalition\u201c zusammenbrachte.
Diese allgemeinere Ebene ist, zweitens, direkt mit den derzeitigen Umst\u00e4nden in der T\u00fcrkei verbunden, n\u00e4mlich der akuten Hegemoniekrise des Regimes in der Folge der Lokalwahlen im M\u00e4rz und Juni 2019. Wie wir schon zuvor en detail analysiert haben, dr\u00fcckte sich in den Wahlen die gro\u00dfe und weit verbreitete Unzufriedenheit angesichts der aktuellen \u00f6konomischen und politischen Lage in der T\u00fcrkei aus. Besonders die Wiederholung der Wahl in Istanbul zeigte, dass die AKP und ihre Verb\u00fcndeten ihren Willen nicht l\u00e4nger beliebig mit Gewalt und Betrug durchsetzen konnten.
Vor dem Hintergrund einer schon lange andauernden und sich versch\u00e4rfenden Hegemoniekrise und brodelnder Unzufriedenheit und Instabilit\u00e4t zogen sich nach den Wahlen Risse durch das ganze System.
Der Verfassungsgerichtshof (AYM) entschied beispielsweise mit einer sehr knappen Mehrheit von nur einer Stimme, dass die Prozesse gegen die Friedensakademiker*innen einen Bruch des Rechtes auf freie Meinungs\u00e4u\u00dferung darstellten. Nach dieser AYM-Entscheidung wurden Dutzende Friedensakademiker*innen freigesprochen.
Auch im Fall des fr\u00fcheren HDP-Abgeordneten und bekannten Regisseurs S\u0131rr\u0131 S\u00fcreyya \u00d6nder, der \u00fcber zehn Monate im Gef\u00e4ngnis gewesen war, entschied der AYM \u2013 diesmal einstimmig \u2013, dass die Aussagen, f\u00fcr die er verurteilt worden war, durch das Recht auf freie Meinungs\u00e4u\u00dferung gedeckt seien und dass \u00d6nder eine sehr wichtige Rolle im Friedensprozess zwischen dem t\u00fcrkischen Staat und der PKK gespielt habe (!). Am darauffolgenden Tag entschied das Gericht seine Entlassung aus dem Gef\u00e4ngnis. Es ist bezeichnend, dass diejenigen Richter*innen am AYM, die im Sinne der Friedensakademiker*innen stimmten, noch von Erdo\u011fans Vorg\u00e4nger und mittlerweile Rivalen Abdullah G\u00fcl bestellt worden waren. Abdullah G\u00fcl, einer der Gr\u00fcnder der AKP, unterst\u00fctzt mittlerweile die Bestrebungen des ehemaligen AKP-Wirtschaftsministers Ali Babacan, eine neue Partei zu gr\u00fcnden, die als Alternative zur AKP erscheinen soll.
Babacan und sein Umfeld kritisieren die AKP daf\u00fcr, vom rechten Weg abgekommen zu sein und konzentrieren ihre eigene Arbeit auf die Wiederbelebung des konservativen Neoliberalismus der Fr\u00fchphase der AKP. Neben Babacan brach noch ein weiterer f\u00fchrender AKP-Politiker offen mit Erdo\u011fan, n\u00e4mlich der fr\u00fchere Au\u00dfenminister und Premierminister Ahmet Davuto\u011flu. W\u00e4hrend Babacan eher den konservativ-wirtschaftsliberalen Fl\u00fcgel der Partei und die entsprechenden Teile der Gesellschaft anzusprechen versucht, adressiert Davuto\u011flu den eher islamisch-konservativen Teil, der sich eventuell von der AKP abwenden k\u00f6nnte. Gemeinhin wird erwartet, dass die beiden neuen Parteien am Ende dieses beziehungsweise am Anfang des n\u00e4chsten Jahres gegr\u00fcndet werden. Es gibt keine Garantie daf\u00fcr, dass diese beiden Parteien gro\u00dfen Erfolg haben werden, aber die hart umk\u00e4mpfte AKP ist anf\u00e4llig f\u00fcr eine tiefe Krise, wenn ihr auch nur ein Teil ihrer Basis wegbricht. Es ist kein Zufall, dass Babacan und Davuto\u011flu ihre Parteigr\u00fcndungsprozesse nach den Lokalwahlen beschleunigten.
Die Entscheidungen im Fall der Friedensakademiker*innen oder im Fall von \u00d6nder sind keine Einzelf\u00e4lle. In vielen Prozessen dieser Art erfolgen mittlerweile Entlassungen oder Freispr\u00fcchen. So zum Beispiel auch im Fall von Max Zirngast, Teil unseres Autorenkollektivs, der am 11. September 2019, genau ein Jahr nach seiner Festnahme (mit anschlie\u00dfender dreimonatiger Untersuchungshaft) relativ \u00fcberraschend \u2013 wie auch alle seine Mitangeklagten \u2013 vom Vorwurf der \u201eMitgliedschaft in einer terroristischen Organisation\u201c freigesprochen wurde. Diese Entscheidungen sind aber eben kein Ausdruck einer \u201eR\u00fcckkehr zum Rechtssaat\u201c oder dergleichen, sondern Zeichen einer erzwungenen Teilliberalisierung, die den sich ver\u00e4ndernden Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnissen geschuldet ist.
Gleichzeitig gibt es n\u00e4mlich auch gegenteilige Tendenzen, zum Beispiel die Absetzung der HDP Ko-B\u00fcrgermeister*innen in den mehrheitlich kurdischen Gro\u00dfst\u00e4dten Diyarbak\u0131r, Van und Mardin aufgrund von laufenden \u201eTerrorprozessen\u201c oder die Verurteilung der Istanbul-Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP), Canan Kaftancio\u011flu, zu fast zehn Jahren Haft aufgrund von absurden Vorw\u00fcrfen zu Tweets von vor sechs Jahren. Eine Strafe, die sie (bislang) nicht antreten musste und gegen die Widerspruch eingelegt wurde, die aber gleichzeitig wie ein Damoklesschwert \u00fcber ihrem Haupt schwebt und bei ver\u00e4nderten Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnissen jederzeit Realit\u00e4t werden kann. Dar\u00fcber hinaus bleibt der liberale M\u00e4zen Osman Kavala nach \u00fcber zwei Jahren in Untersuchungshaft weiterhin im Gef\u00e4ngnis. Er wird absurderweise beschuldigt, einer der Drahtzieher und Financiers hinter den Geziprotesten 2013 zu sein.
Um zusammenzufassen: Nach den Lokalwahlen vollzog sich ein widerspr\u00fcchlicher und nicht-linearer Prozess der teilweisen und eingeschr\u00e4nkten Liberalisierung, die von den Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnissen erzwungen wurde. Dabei versuchten die Kr\u00e4fte des Regimes (AKP + MHP + andere Alliierte) ihre repressiven Mittel und Apparate angesichts ihres sich vermindernden Handlungsspielraumes auf jene Ziele zu lenken, die sie als die \u201ewichtigsten politischen Feinde\u201c erachteten. Um das zu erreichen, reduzierten sie zeitweise ihren Druck auf jene Gegner*innen, die als \u201eweniger wichtig\u201c und nicht (mehr) als \u201eunmittelbare Bedrohung\u201c angesehen wurden. Dadurch und aufgrund der akuten Hegemoniekrise wurden jedoch andererseits auch oppositionelle und abtr\u00fcnnige Kr\u00e4fte innerhalb des Systems ermutigt, offener und vehementer zu handeln. Ob Handlungen wie das oben erw\u00e4hnte Urteil des AYM im Sinne der Friedensakademiker*innen Teil einer kontrollierten Teilliberalisierung von oben oder eine unabh\u00e4ngige Aktion eben solcher oppositioneller Kr\u00e4fte innerhalb des Staatsapparates darstellen, die sich aus der Hegemoniekrise und erzwungenen Teilliberalisierung des Regimes motiviert, l\u00e4sst sich nicht genau angeben, da sich jene beiden Tendenzen (erzwungene Teilliberalisierung von oben einerseits, mutigeres Auftreten von oppositionellen/dissidenten systeminternen Kr\u00e4ften andererseits) im Konkreten nicht strikt voneinander trennen lassen.
Diese widerspr\u00fcchlichen Tendenzen und die ihnen zugrundeliegenden Motivationen f\u00fchrten in Kombination zu den wechselhaften Entwicklungen der letzten Monate nach den Lokalwahlen. Das widerspr\u00fcchliche Wesen dieses Prozesses kann auch in den Handlungen und dem Verh\u00e4ltnis der von der Opposition neu gewonnenen St\u00e4dte \u2013 vor allem Istanbul und Ankara \u2013 zum Regime deutlich gesehen werden. Einerseits versuchen diese Stadtverwaltungen, die Korruption und andere Ungereimtheiten vorhergehender AKP-Verwaltungen aufzuzeigen; auch verh\u00e4lt sich die Regimeallianz von AKP, MHP und anderer rechter, nationalistischer Fraktionen gegen\u00fcber den neuen Stadtverwaltungen sehr feindlich. Das wird besonders im Falle des Istanbuler B\u00fcrgermeisters Ekrem Imamo\u011flu (CHP) deutlich, der unter Anderem nicht zu einen wichtigen Katastrophenmeeting nach einem kleinen Erdbeben in der N\u00e4he von Istanbul eingeladen wurde. Andererseits lud Erdo\u011fan demonstrativ alle B\u00fcrgermeister*innen zu einem vers\u00f6hnlichen Treffen \u201ezum Wohle der T\u00fcrkei\u201c in seinen Palast ein und die Vertreter*innen der Opposition verzichteten dort wie im Allgemeinen auf eine k\u00e4mpferische Haltung.
Diese Tendenzen in Staat und Gesellschaft korrespondieren mit den sich verschiebenden Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnissen und den Widerspr\u00fcchen innerhalb des herrschenden Blocks nach den Lokalwahlen. Der Krieg wurde in dieser Situation zu einer, ja sogar zu der M\u00f6glichkeit, die Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse wieder im Sinne des Regimes zu verschieben.
Ein Krieg um der Macht willen
Die Hegemoniekrise ging so weit, dass sich sogar in regimetreuen Medien kritische Stimmen zum \u201ePr\u00e4sidialsystem\u201c vernehmen lie\u00dfen. Zeitgleich lie\u00df die AKP selbst ausloten, ob in Zukunft 40 statt wie bisher 50 Prozent der Stimmen in der ersten Runde zur Wahl des Pr\u00e4sidenten/der Pr\u00e4sidentin ausreichen sollten. Dies wurde wiederum vom eigenen Hauptb\u00fcndnispartner, der Partei der nationalistischen Bewegung (Milliyet\u00e7i Hareket Partisi, MHP), kritisiert, weil es ein Ausdruck von Schw\u00e4che sei. Dazu kamen einige Umfragen, die einen signifikanten R\u00fcckgang in der Zustimmung zu Erdo\u011fan selbst feststellten. Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, wurde die Kriegsoption noch mehr zum Imperativ f\u00fcr das Regime als zuvor. Die T\u00fcrkei begann, die USA hinsichtlich einer Milit\u00e4roperation zu dr\u00e4ngen und bekam letztendlich gr\u00fcnes Licht, nachdem zuvor eigentlich die Errichtung einer Sicherheitszone an der syrisch-t\u00fcrkischen Grenze mit gemeinsamen t\u00fcrkisch-amerikanischen Milit\u00e4rpatrouillen ausgemacht worden war. Es ist allerdings offensichtlich, dass verschiedene Fraktionen in den US-Staatsapparaten hinsichtlich der Syrienpolitik in Konflikt zueinander stehen. Insgesamt gibt es kaum internationale Unterst\u00fctzung f\u00fcr den Einmarsch der T\u00fcrkei. Abgesehen von bisher sehr zaghaften US-Sanktionen nach der ersten Tagen der Milit\u00e4rinvasion und der Ank\u00fcndigung einiger L\u00e4nder (die ohnehin keine gro\u00dfen Waffenlieferanten sind) zuk\u00fcnftige Waffenexporte in die T\u00fcrkei zu stoppen, blieben die internationalen Reaktionen bisher jedoch auf rhetorischer Ebene. Das Regime in der T\u00fcrkei sieht sich jedenfalls im Angesicht seiner Hegemoniekrise so sehr mit dem R\u00fccken an die Wand gedr\u00e4ngt, dass es sich trotz mangelhafter internationaler Unterst\u00fctzung dazu entschied, gro\u00dfe Risiken und potentielle Konflikte mit seinen internationalen Verb\u00fcndeten in Kauf zu nehmen und mit dem Einmarsch milit\u00e4risch \u201eFakten\u201c zu schaffen. Er dient also auch dem Zweck, sich im Inland erneut zu festigen, bevor eine ver\u00e4nderte internationale Konstellation andere Handlungsweisen erzwingen k\u00f6nnte.
Das Kalk\u00fcl scheint vorerst aufzugehen: Es gibt eine anscheinend hohe Zustimmung zum Milit\u00e4reinmarsch \u2013 dies wird durch Ma\u00dfnahmen wie der Festnahme von Menschen, die sich kritisch zum Krieg \u00e4u\u00dfern und einer de facto gleichgeschaltete Medienlandschaft abgesichert. Wie zu erwarten war, desavouierte sich auch die gesamte parlamentarische Opposition abseits der linken, pro-kurdischen Demokratischen Partei der V\u00f6lker (Halklar\u0131n Demokratik Partisi, HDP) selbst und stimmte in den Chor der chauvinistischen Euphorie und Kriegstreiberei mit ein. Die rechts-nationalistische Gute Partei (\u0130Y\u0130 Parti, \u0130P) genauso wie die islamistische Partei der Gl\u00fcckseligkeit (Saadet Partisi, SP) und auch die Hauptoppositionspartei CHP segneten den Krieg im Parlament und rhetorisch ab. In den Einheitsbrei der s\u00e4belrasselnden \u201enationalen Einheit\u201c gesellten sich auch der Istanbuler B\u00fcrgermeisters Ekrem Imamo\u011flu und der vorgeblich \u201elinke\u201c B\u00fcrgermeister von Izmir, Tun\u00e7 Soyer (beide von der CHP). Nur eine Minderheit in der CHP wie der kurdische Abgeordnete Sezgin Tanr\u0131kulu \u2013 der daf\u00fcr auch schon rechtliche Konsequenzen zu tragen hat \u2013 oder die Istanbulvorsitzende der CHP, Canan Kaftanc\u0131o\u011flu, sprachen sich gegen den Krieg aus. Wieder einmal zeigt sich damit im Zuge des Milit\u00e4reinmarsches auf erb\u00e4rmliche Weise, dass alle Parteien der b\u00fcrgerlichen Ordnung in der T\u00fcrkei sich vereinigen, sobald es gegen die \u201eGef\u00e4hrdung der Existenz des Staates\u201c geht. In dieser Hinsicht ist es unm\u00f6glich, kemalistische und islamistische Tendenzen verschiedener Couleur voneinander zu unterscheiden, obwohl es sich \u2013 folgt man dem lange dominanten liberalen Verst\u00e4ndnis \u2013 bei diesen angeblich um die sich widersprechenden und im Kampf miteinander stehenden beiden politischen Hauptfraktionen in der T\u00fcrkei handeln soll.
Es geht bei diesem Krieg aber nicht um die \u201eExistenz des Staates\u201c. Es ist weder ein Krieg zur \u201eVerteidigung der T\u00fcrkei\u201c gegen eine unmittelbare \u201eterroristische Bedrohung\u201c, noch ein Krieg, um die \u201eQuellen des Friedens\u201c sprudeln zu lassen. [1] Es ist ein Krieg der rechtsradikalen Kr\u00e4fte in der T\u00fcrkei zur R\u00fcckgewinnung ihrer verlorengegangenen Initiative und zu ihrer erneuten Institutionalisierung. Es ist also ein Krieg um des Faschismus\u2019 Willen.
W\u00e4hrend die Mobilisierung chauvinistischer Reflexe im Zuge der Lokalwahlen nicht mehr ausreichte, um popularen Konsens zum Regime zu errichten, so hilft die \u201eOpposition\u201c jetzt durch ihre Zustimmung und Unterst\u00fctzung der Kriegstreiberei daran mit, dass dies wieder m\u00f6glich wird. Sie erm\u00f6glicht so die Re-Stabilisierung eines kriselnden Regimes, anstatt sich mit dessen Gr\u00e4ueltaten direkt auseinanderzusetzen und die M\u00f6glichkeit chauvinistischer Massenmobilisierung als Form der Politik abzuschaffen.
Destabilisierung und Restabilisierung
Der Krieg und die Sch\u00fctzenhilfe seitens des Gro\u00dfteils der parlamentarischen Opposition erm\u00f6glichen es dem Regime derzeit, die aufplatzende Krisenhaftigkeit gekonnt zu \u00fcberspielen und zumindest tempor\u00e4r zu l\u00f6sen. Zum Beispiel die Wirtschaftskrise. Wie wir bereits zuvor analysiert haben, waren regelm\u00e4\u00dfige W\u00e4hrungsschocks als Folge eines schuldengetriebenen neoliberalen Modells eine der Hauptquellen der Destabilisierung der \u00d6konomie. Der private Sektor, dessen Auslandsverschuldung in etwa 40 Prozent des BIP entspricht, sieht sich permanent der Bedrohung des Bankrottes gegen\u00fcber und plagt sich mit Schuldenr\u00fcckzahlungen. Gegenteilig zu den offiziellen Erkl\u00e4rungen der Regierungsverantwortlichen, die von Rebalancing und einer starken Erholung sprechen, schrumpft die Industrieproduktion, ein wichtiger \u00f6konomischer Indikator, seit Anfang 2019 im Vergleich zur selben Periode des Vorjahres.
Dazu befinden sich verschiedene Fraktionen des Kapitals hinsichtlicher finanzieller Rettung und Sanierung in Konkurrenz zueinander, w\u00e4hrend sie andererseits das gemeinsame Ziel der Verstaatlichung der Schulden teilen. J\u00fcngst kam es zu Preis- und Steuererh\u00f6hungen zwischen 15 und 25 Prozent bei Transport, Gas, Milch, Zucker, Mautgeb\u00fchren und Elektrizit\u00e4t. Bei letzterem kam es in den letzten zwei Jahren sogar zu einem Preisanstieg von insgesamt 60 Prozent. Kurz, in beinahe allen wichtigen Bereichen des Alltagslebens gibt es massive Preissteigerungen, ohne dass diese zur Gen\u00fcge durch Lohnsteigerungen abgefedert w\u00fcrden. Dennoch erkl\u00e4rte die Regierung vor Kurzem, dass \u2013 wohl mit etwas \u201eMagie\u201c in der Berechnung \u2013 die Inflation in den einstelligen Bereich gesunken sei.
Diese fortdauernde Wirtschaftskrise, die sich unter anderem in einem langsamen aber stetigen Prozess der Verschlechterung des Lebensstandards der breiten Bev\u00f6lkerung ausdr\u00fcckt und nicht in einem pl\u00f6tzlichen Kollaps, trug mit Sicherheit zur schwindenden Popularit\u00e4t von Erdo\u011fan und seiner Partei bei.
Der Angriff auf Rojava dient somit auch der Ablenkung von den \u00f6konomischen Problemen. Nichts eignet sich daf\u00fcr so gut wie eine Konsolidierung der Nation gegen den \u201eewigen Feind\u201c: Schon hat die CHP eine f\u00fcr den 12. Oktober geplante Gro\u00dfdemonstration im Ida-Gebirge gegen die Abholzung desselben f\u00fcr den Bau einer Goldmine abgesagt, obwohl die Kommune in ihrer Hand ist und es noch nicht einmal zu einem offiziellen Verbot der Demo kam. Ihre Begr\u00fcndung daf\u00fcr war, dass nun die \u201eZeit f\u00fcr eine nationale Einheit\u201c sei. Auch spricht niemand mehr \u00fcber den Protestmarsch der Bergarbeiter*innen von Soma nach Ankara: Diese wurden nach dem schweren Grubenungl\u00fcck 2013 mit 301 Toten ohne Gr\u00fcnde entlassen und erhielten nie eine Abfertigungszahlung. Seitdem leisten sie Widerstand und fordern ihre Rechte ein.
Eine eventuelle Besetzung Rojavas ist aber auch unmittelbar \u00f6konomisch lukrativ f\u00fcr die T\u00fcrkei. Direkt nach Erdo\u011fans offizieller Erkl\u00e4rung seiner Besatzungspl\u00e4ne bei der UN Generalversammlung Ende September ver\u00f6ffentlichte sein B\u00fcro eine Brosch\u00fcre mit detaillierten Projekten f\u00fcr die besetzten Gebiete. Laut dieser sei es notwendig, vor der Ansiedlung von zwei Millionen Fl\u00fcchtlingen etwa 26 Milliarden US-Dollar (151 Milliarden T\u00fcrkische Lira) in Infrastruktur und Geb\u00e4ude zu investieren. Es braucht nicht extra betont zu werden, dass das t\u00fcrkische Kapital auf diese (vermutlich staatlich unterst\u00fctzte) Chance mit gro\u00dfer Vorfreude wartet. Dies ist einer der Gr\u00fcnde, warum alle Vertreterorganisationen des Kapitals ihre volle Unterst\u00fctzung zum Krieg und f\u00fcr die \u201eheroische Armee\u201c gegeben haben.
Letztlich ist es klar, dass das Regime nicht nur sich und seine Verb\u00fcndeten st\u00e4rken, sondern auch die Opposition spalten und schw\u00e4chen will. Kurd*innen und Linksliberale werden sich von den kriegsunterst\u00fctzenden Teilen der Opposition nat\u00fcrlicherweise distanzieren, aber eventuell werden auch die Alevit*innen nachziehen, weil sie die Zusammenarbeit mit Jihadisten im Rahmen der Milit\u00e4rinvasion ablehnen. Diese Abwendung w\u00e4re aber gleichzeitig eine Chance f\u00fcr die antimilitaristischen Teile der Opposition, die allerdings von Dauerrepression betroffen sind. Seit Wochen mokieren sich regimetreue Medien und einige anti-kurdische oppositionelle Zirkel \u00fcber eine angebliche Ann\u00e4herung von CHP und HDP. Schon in den ersten Tagen des Krieges wurden \u00fcber hundert Menschen wegen Postings in Sozialen Medien festgenommen, weil sie sich in irgendeiner Form kritisch ge\u00e4u\u00dfert hatten \u2013 etwa, indem sie von einem \u201eKrieg\u201c statt von einer \u201eOperation gegen den Terror\u201c sprachen. Innenminister S\u00fcleyman Soylu drohte sogar: \u201eVon einem Krieg zu sprechen, ist Verrat.\u201c Auch zwei Journalisten von der linken Tageszeitung BirG\u00fcn und der liberalen Onlineplattform Diken wurden in Gewahrsam genommen, dar\u00fcber hinaus einige Journalist*innen, die f\u00fcr pro-kurdische Agenturen arbeiten.
Der Faschismus ist ein Monster, das sich von Gemetzel und Krieg n\u00e4hrt und jede Opposition, egal ob rechts oder links, ja, sogar seine eigenen Elemente zu verschlingen versucht. Genau deswegen muss ihm mit Widerstand an allen Fronten entgegnet werden und nicht mit Appeasement. Die Systemopposition, vor allem die CHP, nutzte ihre gewonnene Initiative nach den Lokalwahlen nicht. Sie versuchte, das Monster mit einem Kompromiss nach dem anderen zu \u201ez\u00e4hmen\u201c. Dabei ist auch die CHP vom wiedererstarkenden Faschismus akut bedroht: Der Chef der faschistischen MHP und Hauptverb\u00fcndete Erdo\u011fans, Devlet Bah\u00e7eli, machte unl\u00e4ngst klar, dass aufgrund der angeblichen Ann\u00e4herung zwischen CHP und HDP \u201eder Weg frei [sei] f\u00fcr die Aufhebung der Immunit\u00e4t K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flus [Chef der CHP, Anm. d. Autoren]\u201c, sprich f\u00fcr seine Inhaftierung. Glaubt die CHP-F\u00fchrung wirklich, dass sie vom Monster des Faschismus verschont wird, wenn sie jetzt nur brav dem Krieg zustimmt?
Kein Welthegemon mehr \u2013 oder: Wem geh\u00f6rt die Welt?
Zur\u00fcck zur USA und ihrer Entscheidung, der T\u00fcrkei gr\u00fcnes Licht f\u00fcr die Milit\u00e4rinvasion zu geben. Es steht fest, dass die Entscheidung, so widerspr\u00fcchlich sie auch sein mag, nicht nur auf die Verr\u00fccktheit von Trump zur\u00fcckzuf\u00fchren ist. Tats\u00e4chlich ist der US-Imperialismus selbst in Widerspr\u00fcche verstrickt: Ein Teil des herrschenden Machtblocks, n\u00e4mlich der \u201einternationalistisch-interventionistische\u201c, hegt den Wunsch, eine globale Weltordnung aufrechtzuerhalten, in der die USA die Staaten und Institutionen der westlichen kapitalistischen Hemisph\u00e4re anf\u00fchrt. Ein zweiter Block scheint davon \u00fcberzeugt zu sein, dass Unilateralismus und Autarkie die bestm\u00f6glichen Ans\u00e4tze sind, um Weltmacht und Profite zu gew\u00e4hrleisten. W\u00e4hrend die eine Tendenz innerhalb der US-Eliten versucht, so viele Akteure wie m\u00f6glich davon zu \u00fcberzeugen, mit den USA zusammenzuarbeiten, um sie auf diese Weise an sich zu binden \u2013 darunter auch die Kurden in Syrien als vermeintliches Ass gegen Assad und den Iran und eventuell sogar die T\u00fcrkei \u2013, versucht die andere Tendenz wiederum, das internationale Engagement der USA so weit wie m\u00f6glich zu reduzieren und Verantwortung und sicherheitspolitische Funktionen auf andere Staaten zu \u00fcbertragen \u2013 in diesem Fall den alteingesessenen NATO-Partner T\u00fcrkei. Tats\u00e4chlich ist diese mittlerweile sch\u00e4rfer hervortretende Widerspr\u00fcchlichkeit innerhalb der Staatsapparate der USA selbst ein Produkt der Erosion der weltweiten Hegemonie der USA, die selbst wiederum mit der Krise des imperialistischen Weltsystems im Zusammenhang steht. Seit dem Ende der Sowjetunion emanzipieren sich die ehemaligen Alliierten der USA und stellen eigene Geltungsanspr\u00fcche, wobei die Weltwirtschaftskrise ab 2007 und ihre Folgen die zentrifugalen Kr\u00e4fte gest\u00e4rkt haben.
Unabh\u00e4ngig davon, was diese Widerspr\u00fcche f\u00fcr den US-Imperialismus bedeuten: Derzeit scheint Russland am meisten von den Entwicklungen in Syrien zu profitieren. Am Sonntag k\u00fcndigte die SDF an, dass sie sich auf eine Zusammenarbeit mit Assad (und Russland) geeinigt habe, um den \u201egenozidalen\u201c Vormarsch der T\u00fcrkei und ihren jihadistischen Verb\u00fcndeten zu verhindern.
Aus russischer Sicht stellt sich die Lage einerseits so dar, dass die kurdischen Kr\u00e4fte in Syrien vollkommen von den Vereinigten Staaten abgeschnitten zu sein scheinen, da sie die USA des Verrats bezichtigen. Andererseits st\u00e4rkt Trumps Entscheidung, sich aus Syrien zur\u00fcckzuziehen, die Position Russlands als wichtigem imperialistischen Akteur in der Region. Hinzu kommt, dass die Beziehungen zwischen der T\u00fcrkei und den USA vor dem Hintergrund st\u00e4rker werdender politischer Reaktionen seitens der \u201einternationalistisch-interventionistischen\u201c Tendenz innerhalb der US-Eliten auf die Invasion und einiger Sanktionen politischer und \u00f6konomischer Art weiter untergraben werden.
Es versteht sich von selbst, dass das Zustandekommen und Vergehen der Allianzen zwischen diesen souver\u00e4nen M\u00e4chten mit (sub-)imperialistischen Interessen auf dem Hintergrund einer sich in einer \u00dcbergangsperiode befindenden imperialistischen Weltordnung einem Puzzle gleichen. Daher k\u00f6nnen sich die Gleichgewichte jederzeit \u2013 den Umst\u00e4nden entsprechend \u2013 \u00e4ndern. In einer Zeit aber, in der Unsicherheit herrscht und sich Gleichgewichte und Allianzen in k\u00fcrzester Zeit verschieben, ist keine einzelne Macht in der Lage, den gesamten Prozess zu begreifen und zu kontrollieren. Einige Entscheidungen sind dabei schlichtweg Fehler, w\u00e4hrend die Logiken, die am Werk sind, nicht mehr jene der \u201enormalen\u201c altbekannten Zeiten sind.
Gegen den Faschismus sein hei\u00dft, gegen den Krieg zu sein
W\u00e4hrend wir diesen Artikel fertigstellen, schreiten die Streitkr\u00e4fte Syriens in Richtung Norden vor und n\u00e4hern sich der t\u00fcrkischen Grenze. Erste Gefechte zwischen den geeinten t\u00fcrkisch-jihadistischen und den geeinten kurdisch-syrischen Kr\u00e4ften eruptieren an der Front zu Manbidsch. Bisher ist die syrische Armee aber noch kaum zu den zentralen Gefechtspunkten Gire Sp\u00ee/Tal Abyad und Ser\u00ea Kaniy\u00ea/Ras al-Ayn vorger\u00fcckt (Stand: 16.Oktober 2019). Dabei ist es durchaus m\u00f6glich, dass sich die syrische Armee zu erst auf die Sicherung der weniger umk\u00e4mpften Zonen konzentriert und die SDF alleine l\u00e4sst mit der t\u00fcrkischen Offensive zwischen Gire Sp\u00ee/Tal Abyad und Ser\u00ea Kaniy\u00ea/Ras al-Ayn. Dieses Vorgehen l\u00e4sst sich aus einer \u00dcbersetzung der mutma\u00dflichen Vereinbarung zwischen SDF und SAA schlie\u00dfen. Ebenfalls ist unklar, ob und inwieweit sich Assad und die SDF auf politischer Ebene auf eine gemeinsame Verfassung werden verst\u00e4ndigen k\u00f6nnen \u2013 oder zumindest auf eine solche hinarbeiten werden.
Es ist nicht nur die Zukunft Nordsyriens, die dabei im Unklaren bleibt. Die Welt k\u00f6nnte durchaus Zeugin eines aus seinen Aschen emporsteigenden IS werden. Und was viele Linke weltweit als \u201eRevolution von Rojava\u201c mit Euphorie begr\u00fc\u00dften, k\u00f6nnte in den Tr\u00fcmmerfeldern des Krieges begraben werden.
Der Krieg in Nordostsyrien wirkt sich aber auch ma\u00dfgeblich auf die T\u00fcrkei aus, was vielerorts nicht ernst genug genommen zu werden scheint: Falls die milit\u00e4rische Invasion gelingen sollte, werden Erdo\u011fan und seine faschistischen Verb\u00fcndeten ihre Macht enorm steigern k\u00f6nnen. Der gesamte politische Boden, der in den letzten Monaten und Jahren im Kampf gegen das Regime gewonnen wurde, k\u00f6nnte somit verloren gehen. All die kleinen und vereinzelten Siege und die allgemeine Erleichterung, dass der Nimbus der Unbesiegbarkeit des Regimes angekratzt wurde, w\u00fcrden in der Dunkelheit versinken und in Vergessenheit geraten. Es ist deshalb von gr\u00f6\u00dfter Bedeutung, sich gegen die derzeitige milit\u00e4rische Invasion der T\u00fcrkei in Nordostsyrien zu stellen \u2013 denn nur so kann verhindert werden, dass der Faschismus in der T\u00fcrkei selbst an Boden gewinnt.
Anmerkungen:
[1] Die Invasion hei\u00dft in menschenverachtendem Zynismus Operasyon Bar\u0131\u015f P\u0131nar\u0131, Operation Friedensquelle.
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