\u201eEs ist notwendig, den Willen der Menschen von unten zu erkennen\u201c
\nDie Situation in Nordafrika und im Nahen Osten entwickelt sich rasant. Im Jahr 2019 fanden bereits in mehreren L\u00e4ndern Massenkundgebungen statt, welche die Regierungen und autorit\u00e4ren Regime herausfordern: In Algerien die Proteste gegen den autorit\u00e4ren Bouteflika und nach dessen Absetzung gegen das darauf folgende Milit\u00e4rregime von Ga\u00efd Salah; die demokratische Bewegung im Sudan; die Proteste arbeitsloser Jugendlicher im Irak, die Streiks von Lehrer*innen und Professor*innen in Jordanien; die Massenproteste im Libanon gegen die Kostenerh\u00f6hung im \u00f6ffentlichen und Energiesektor und eben auch das \u201eStrohfeuer\u201c in \u00c4gypten \u2013 um nur einige der Bewegungen zu nennen. Sie sind das Ergebnis eines sogenannten \u201elangen revolution\u00e4ren Prozesses\u201c (Gilbert Achcar), der 2011 mit dem sogenannten arabischen Fr\u00fchling begann.
Mitte September 2019 l\u00f6ste eine Reihe von Videos des \u00e4gyptischen Bauunternehmers Mohamed Ali eine Welle von Protesten in \u00c4gypten aus. Ali legt darin Korruption und pers\u00f6nliche Bereicherung des Pr\u00e4sidenten Abdel Fatah al-Sisi offen. In verschiedenen St\u00e4dten versammelten sich tausende junger Menschen auf Pl\u00e4tzen, um einen radikalen politischen Wandel zu fordern. Die Repression von Seiten des al-Sisi-Regimes lie\u00df nicht auf sich warten. In wenigen Wochen verzeichnete man mehr als 2.000 Verhaftungen. Stra\u00dfen, Br\u00fccken und U-Bahn-Linien wurden geschlossen beziehungsweise militarisiert und Passant*innen wurden willk\u00fcrlich Social-Media-Kontrollen unterzogen. Damit gelang es dem Regime weitgehend, die Proteste auf ein Minimum zur reduzieren und sie im Keim zu ersticken.
Gennaro Gervasio unterrichtet Geschichte und Politik des Nahen Ostens am Departement f\u00fcr Geisteswissenschaften in Rom 3. Von 2010 bis 2016 lebte und lehrte er in \u00c4gypten. Im Mittelpunkt seiner Forschung stehen laizistische und gewerkschaftliche Proteste und Bewegungen. Maurizio Coppola hat mit ihm \u00fcber die Hintergr\u00fcnde der Proteste und \u00fcber die m\u00f6gliche weitere Entwicklung im gesamten Nahen/Mittleren Osten gesprochen.
F\u00fcr eine Analyse der Proteste ist sicherlich die Vorgeschichte hilfreich. Wie kann die Wirtschafts- und Sozialpolitik der letzten Jahre unter al-Sisi beschrieben werden?
Auf der einen Seite ist es eine Fortsetzung der ultraliberalen Politik der letzten Periode unter Hosni Mubarak (Pr\u00e4sident \u00c4gyptens von 1981 bis 2011, als eine gro\u00dfe soziale Bewegung den Fall des autorit\u00e4ren Regimes verursachte, Anm. d. Verf.), die mit der Ernennung des neuen Premierministers Ahmad Nazif im Jahr 2004 weiter angetrieben wurde. Er beg\u00fcnstigte die Privatisierung \u00f6ffentlicher Betriebe und Sektoren und untergrub die Rechte der Arbeiter*innen. Diese Politik kann sicherlich als einer der zentralsten Gr\u00fcnde f\u00fcr den Aufstand im Januar 2011 angesehen werden. Die soziale Ungleichheit wurde durch die wilden Privatisierungen und brutalen K\u00fcrzungen des Sozialstaates massiv versch\u00e4rft. Besonders betroffen von diesen K\u00fcrzungen war das Sozialhilfesystem, welches bereits auf ein Minimum reduziert wurde, aber f\u00fcr viele Teile der Bev\u00f6lkerung nach wie vor \u00fcberlebenswichtig war. Andererseits gibt es einen wichtigen Unterschied und Bruch mit den Jahren unter Mubarak: Ein Teil der Eliten, die mit dem alten Pr\u00e4sidenten verbunden waren \u2013 also die globalisierte, dem Weltmarkt zugewandte Elite, die gerade nicht mit dem f\u00fcr den bonapartistischen Milit\u00e4rstaat typischen parasit\u00e4ren Kapitalismus verbunden ist [1] und deren Bezugspunkt der Sohn von Mubarak, Gamal, war \u2013 wurde teilweise durch die R\u00fcckkehr des Milit\u00e4rs in die Enge getrieben. Das Milit\u00e4r als Institution war zwar nie vollst\u00e4ndig verschwunden, aber es hatte einen wichtigen, zum Teil auch erfolgreichen Versuch gegeben, es von der Verwaltung des Staates zu entfernen. Vor der Revolution bek\u00e4mpften sich also mindestens zwei Fraktionen des Regimes: Auf der einen Seite die alte Garde, welche die Leitung des staatlichen Kapitals, auch wenn in neoliberaler Weste, nicht aus der Hand geben wollte; auf der anderen Seite die neue Garde, die mit dem Sohn des damaligen Pr\u00e4sidenten Mubarak verbunden war und gegen\u00fcber dem Westen und anderen aufstrebenden Weltwirtschaftsm\u00e4chten, insbesondere in Osteuropa, den Golfstaaten und Asien, viel offener war. Es besteht daher Grund zur Annahme, dass das Milit\u00e4r schlussendlich im Februar 2011 Pr\u00e4sident Mubarak fallen gelassen hat, um eben genau diese zweite Option zu vermeiden.
Daher kann man sagen, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik von al-Sisi eine Fortsetzung der damaligen neoliberalen Politik ist, aber mit der Restaurierung der politischen Rolle des Milit\u00e4rs, ja gar mit einer St\u00e4rkung seiner wirtschaftlichen Position. Es ist schwierig, diese Rolle in der \u00e4gyptischen Wirtschaft genau einzusch\u00e4tzen, denn das Milit\u00e4r ist eine undurchsichtige Institution. Nach einer kurzen Phase der Euphorie fiel also \u00c4gypten in eine soziale Situation, die sehr \u00e4hnlich ist wie noch vor 2010, wenn nicht gar schlimmer. Hier m\u00fcssen wir also ansetzen, um zu verstehen, was in den letzten Wochen passiert ist.
Den Massenprotesten von 2010/2011 gingen wichtige Streikbewegungen voraus. Gab es in den letzten Jahren auch solche Streiks?
Wir m\u00fcssen vorsichtig sein und zwischen dem unterscheiden, was von den Medien und aus einer bestimmten akademischen Sicht berichtet wird, und dem, was wirklich in \u00c4gypten geschieht. Objektiv betrachtet war die Zeit nach 2014 \u2013 nach der Konsolidierung und Wahl des damaligen Verteidigungsministers Abdel Fattah al-Sisis zum Pr\u00e4sidenten der Republik \u2013 in Bezug auf Quantit\u00e4t und Qualit\u00e4t der Mobilisierungen von Arbeiter*innen und Gewerkschaften sehr kompliziert. Es gab Episoden von contentious politics, von sozialen Konflikten also, die sich auch in den schlimmsten Tagen der Repression fortgesetzt haben. Diese wurden aber stets unterdr\u00fcckt und waren kaum untereinander koordiniert. Sie schossen wie Pilze aus dem Boden und waren geografisch sehr ungleichm\u00e4\u00dfig verteilt. Sie fanden in den Sonderwirtschaftszonen, in denen chinesische Unternehmen sehr pr\u00e4sent sind, auf dem Land, im \u00f6ffentlichen Nahverkehr, in den kleineren St\u00e4dten, denen das Regime weniger Aufmerksamkeit schenkte, im Textilsektor und im Sekund\u00e4rsektor statt. Wir k\u00f6nnen also sagen, dass die Bewegung nie aufgeh\u00f6rt hat zu existieren. Sie hat allerdings nie die Art umfassender Koordination erreicht, wie die Bewegungen Ende der 2000er Jahre, als gewerkschaftliche K\u00e4mpfe, politische K\u00e4mpfe, demokratische K\u00e4mpfe, K\u00e4mpfe der Student*innen und der Bauer*innen eine gemeinsame Sprache und eine Einheit gefunden hatten, aus der die Revolution im Januar 2011 hervorging.
Von au\u00dfen betrachtet schien es fast so, als seien die Proteste Mitte September aus dem Nichts und \u201eohne Vorwarnung\u201c explodiert. Stimmt diese Wahrnehmung?
Nicht ganz. Von innen betrachtet gab es mindestens zwei Anzeichen. Erstens wurde es immer schwieriger, der Bev\u00f6lkerung, einschlie\u00dflich der Mittelschicht, die Idee einer gro\u00dfen wirtschaftlichen Erholung zu verkaufen. Die konkrete Alltagsrealit\u00e4t der meisten Menschen sieht ganz anders aus. Heute befinden wir uns im Wesentlichen in einer sehr \u00e4hnlichen Situation wie in den 2000er Jahren, als der Internationale W\u00e4hrungsfonds (IWF, Anm. Verf.) und die Weltbank die Geschichte der \u201ezwei perfekten Sch\u00fcler\u201c bez\u00fcglich Strukturanpassungsprogrammen erz\u00e4hlten. Gemeint waren \u00c4gypten und Tunesien. Dabei war es gerade diese Unzufriedenheit \u00fcber die Politik von IWF und Weltbank, die zum so genannten Arabischen Fr\u00fchling f\u00fchrte. Heute ist die Unzufriedenheit sicherlich viel gr\u00f6\u00dfer als die, die in den letzten Wochen tats\u00e4chlich auf die Stra\u00dfe gegangen ist. Diejenigen, die auf die Stra\u00dfe gingen, sind vor allem Aktivist*innen, die bereits zwischen 2011 und 2014 auf die Stra\u00dfe gegangen sind. Sie hatten in den letzten Jahren keine andere M\u00f6glichkeit des Protests gefunden \u2013 mit Ausnahme von den Protesten gegen die Entscheidung des Regimes, zwei Inseln des Roten Meeres, Tiran und Sanafir, an Saudi-Arabien zu \u00fcbergeben. Zweitens gab es nat\u00fcrlich auch viele junge Menschen, sowohl Universit\u00e4tsstudent*innen als auch Jugendliche unter zwanzig Jahren, die nicht an den Protesten zwischen 2011 und 2013/2014 teilgenommen hatten, weil sie noch zu jung waren. Damals nahmen die auch deshalb Proteste massiv ab, weil Gesetze eingef\u00fchrt wurden, die Demonstrationen kriminalisierten. Das Regime hat damit auch jetzt ein Instrument in der Hand, um hunderte von Menschen zu verhaften. Dies erkl\u00e4rt uns auch die paranoiden Handlungen des Regimes, nachdem die Begeisterung der Massen f\u00fcr den Putsch gegen Morsi nachgelassen hatte \u2013 und f\u00fcr die Rhetorik des \u201eKampfes gegen den Terror\u201c angesichts der Unf\u00e4higkeit des Regimes, ein alternatives sozio\u00f6konomisches Projekt anzubieten.
K\u00f6nnen wir diese Bewegung also als Fortsetzung des Arabischen Fr\u00fchlings verstehen?
Der Arabische Fr\u00fchling ist auf der einen Seite ein historischer Moment, der zwischen Ende 2010 und 2013 zu verorten ist und verschiedene Etappen durchlebt hat. In Tunesien geht in gewisser Weise ein demokratischer \u00dcbergang nach Ben Ali weiter, auch wenn nicht ohne Probleme. Noch vor einigen Wochen gab es dort die erste Fernsehkonfrontation zwischen den Kandidaten f\u00fcr die Pr\u00e4sidentschaftswahlen. Vor zehn Jahren w\u00e4re das unvorstellbar gewesen, weil in Tunesien das Regime und der Pr\u00e4sident absolut dominierten und es kaum Opposition gab. Es gen\u00fcgte wenig, um ins Gef\u00e4ngnis geworfen oder zur Flucht ins Exil gezwungen zu werden. Ganz anders sieht es nat\u00fcrlich in den L\u00e4ndern aus, in denen der Aufstand zu bewaffneten zivilen Konflikten gef\u00fchrt hat, die auch heute noch andauern. Auf der anderen Seite sind die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, politischer und demokratischer Freiheit die gleichen wie damals, auch wenn die Erfahrungen der Jahre 2010 bis 2013 als Lehre gedient haben. Ich denke besonders an Algerien und den Sudan, wo es ja darum ging und heute noch darum geht, die Mobilisierung aufrechtzuerhalten. Man will so vermeiden, dass die Aufst\u00e4nde von Teilen des Regimes instrumentalisiert werden, um die Machtverh\u00e4ltnisse zu stabilisieren, wie es in \u00c4gypten geschehen ist. Dieses Ziel haben nat\u00fcrlich auch Teile der sich an der Macht befindenden Regime in diesen L\u00e4ndern.
Welche Rolle spielen derzeit die kommunistischen und revolution\u00e4ren Organisationen \u00c4gyptens?
Leider ist die Linke in \u00c4gypten in zwei Lager gespalten. Da gibt es einmal eine staatstreue Seite (dawlatiyya auf Arabisch, Anm. Verf.), die nicht unbedingt islamophob, aber sicherlich gegen\u00fcber den Muslimbr\u00fcdern feindlich eingestellt ist. Diese Linke hat den Putsch des Regimes von al-Sisi gegen den damaligen Pr\u00e4sidenten Morsi, den Repr\u00e4sentanten der Muslimbruderschaft, unterst\u00fctzt. Die Unterst\u00fctzung kam auch von vielen liberalen Intellektuellen und sogar von Gewerkschaftsaktivist*innen: Einer der Gr\u00fcnder und Sekret\u00e4r des ersten autonomen Verbandes unabh\u00e4ngiger Gewerkschaften, Kamal Abu Aita, wurde zum Arbeitsminister der ersten Nach-Putsch-Regierung ernannt. Dies hat zu seinem pers\u00f6nlichen Niedergang und zum Niedergang der Gewerkschaftsbewegung gef\u00fchrt, und zwar zu einem entscheidenden Zeitpunkt, n\u00e4mlich zwischen 2013 und 2014. Die Entscheidung von al-Sisi, ihn in die staatlichen Institutionen zu integrieren, hat sich also ausgezahlt. Im Laufe des al-Sisi-Regimes entfernten sich einige linke Anh\u00e4nger*innen von dieser unterst\u00fctzenden Position. Dann gibt es weitere Kr\u00e4fte wie die trotzkistischen Str\u00f6mungen oder die revolution\u00e4ren Sozialist*innen, die sich immer gegen das Regime von al-Sisi stellten, aber deren M\u00f6glichkeiten, offen politische Aktivit\u00e4ten zu organisieren, im Gegensatz zur Zeit zwischen 2011 und Anfang 2014, massiv eingeschr\u00e4nkt wurden. Vor diesem Hintergrund haben sich viele dieser Gruppen f\u00fcr virtuelle oder klandestine Aktivit\u00e4ten entschieden.
Die Linke war bei den Aufst\u00e4nden der letzten Wochen anwesend, aber teilweise in einer zuschauenden Position: Sie vermochten Urspr\u00fcnge und Dynamiken der Demonstrationen nicht zu fassen. Ein Teil folgte der Erz\u00e4hlung des Regimes, wonach die Demonstrationen von der Muslimbruderschaft organisiert wurden. Dieses Narrativ best\u00e4tigt die Feindseligkeit eines Teils der Linken gegen\u00fcber der Muslimbruderschaft, wie ich oben erkl\u00e4rt habe. Andere legten gegen\u00fcber den Protesten eine vorsichtige Haltung an den Tag, was zeigt, dass leider auch Linke eine gewisse Distanz zur Stra\u00dfe genommen haben. Nicht zuletzt spielt die Repression nat\u00fcrlich eine wichtige Rolle. Vergessen wir nicht, dass sich viele Aktivist*innen im Exil befinden und andere im Verlaufe dieser Jahre verhaftet wurden. Ich denke da beispielsweise an Alaa Abdel Fattah oder Mahineour al-Masri, um nur zwei der ber\u00fchmtesten Vertreter*innen der Linken auch au\u00dferhalb des \u00e4gyptischen Staatsgebiets zu nennen. Was bei der Linken jedoch wirklich fehlt, ist eine echte politische Alternative.
Welche Konflikte und Widerspr\u00fcche sind heute innerhalb der Institutionen des Staates zu erkennen?
In den Tagen vor den Protesten sprachen einige gut informierte \u00e4gyptische Intellektuelle von der M\u00f6glichkeit eines Putsches, insbesondere aufgrund der Aussagen von Mohamed Ali. Der Unternehmer, der lange mit dem Milit\u00e4r gearbeitet hatte und der sich nun im Ausland aufh\u00e4lt, beschuldigte das Regime und vor allem den Pr\u00e4sidenten offen der Korruption.
Tats\u00e4chlich hat al-Sisi als waschechter Mann des Milit\u00e4rs diese Institution gest\u00e4rkt und im Verlaufe der letzten Jahre die Geh\u00e4lter der mittleren und h\u00f6heren Offiziere erh\u00f6ht. Eine Spaltung innerhalb der hohen R\u00e4nge der Armee ist daher zurzeit kaum vorstellbar. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass dies in anderen staatlichen Institutionen geschieht. Der \u00e4gyptische Sicherheitsapparat ist vielf\u00e4ltig strukturiert, es gibt Polizeikr\u00e4fte und zahlreiche andere Sicherheitskr\u00e4fte und -dienste. Wir m\u00fcssen darum angesichts ihrer Komplexit\u00e4t und Reichweite sehr vorsichtig sein, wenn wir \u00fcber die milit\u00e4rischen Institutionen sprechen. Das Milit\u00e4r hat sich zwar bei den Pr\u00e4sidentschaftswahlen 2014 offen f\u00fcr den Kandidaten al-Sisi ausgesprochen. Es blieb jedoch in gewisser Weise zweideutig im Sinne von: Wenn alles nach Plan l\u00e4uft, dann gewinnen wir alle; wenn es aber schief geht, werden wir den Pr\u00e4sidenten fallen lassen; und zwar ohne dass aber das Milit\u00e4r die F\u00fchrung des Landes verliert oder zumindest hinter den Kulissen eine Handlungsmacht bleibt und die \u00dcbertragung der Macht vom Hosni Mubarak auf den Sohn Gamal Mubarak abgewendet werden kann.
Die Situation in der gesamten Region ist in st\u00e4ndiger und rasanter Entwicklung. Wie k\u00f6nnen die Proteste diesbez\u00fcglich eingeordnet werden?
In der Sichtweise sogenannter Linker oder Oppositioneller in Europa steht oft eine geopolitische Perspektive im Vordergrund. Doch erinnern wir uns daran, dass die geopolitische Leseart eine \u201eWissenschaft der Herrschenden\u201c ist, die von den Nazis geschaffen und sp\u00e4ter im Kalten Krieg von den Vereinigten Staaten weitergef\u00fchrt wurde. Meiner Meinung nach ist es wichtig, die Interessen und den Willen der Menschen, die f\u00fcr soziale Rechte auf die Stra\u00dfe gehen, zu verstehen und Solidarit\u00e4t zu zeigen. Ich bin gegen eine selektive Solidarit\u00e4t. In diesen Tagen ist es beispielsweise eine Pflicht, unsere Stimme gegen die t\u00fcrkische Aggression gegen die Kurd*innen zu erheben. Wenn ich aber lese, dass die Bombardierung Syriens \u201ebegonnen\u201c hat, empfinde ich Traurigkeit und Wut; denn diese kriegerischen Aktionen haben in Wirklichkeit schon vor Jahren begonnen. Als sie vom syrischen Pr\u00e4sidenten al-Assad, der al-Sisi nicht zu beneiden hat, gegen die protestierende Bev\u00f6lkerung, oder von russischen Kr\u00e4ften ver\u00fcbt wurden, schauten viele weg. Was ich sagen will: Es ist notwendig, den Willen der Menschen von unten zu erkennen, jenseits jeglicher rassistischen, orientalistischen oder elit\u00e4ren Beurteilung.
\u00dcber die konkrete Lage in der gesamten Region denke ich, dass sich die allgemeine Situation im Nahen Osten verschlechtert hat. Was aber in Algerien und im Sudan geschieht und geschehen ist \u2013 um nur zwei L\u00e4nder zu nennen, die vor acht Jahren nicht vom Arabischen Fr\u00fchling erfasst wurden \u2013 zeigt, dass dieser Zyklus von Protesten \u00fcberhaupt nicht zu Ende ist, wie einige Expert*innen vorschnell beurteilt hatten. Ich denke hingegen, dass die aktuelle Situation beweist, dass angesichts \u00e4hnlicher sozial-politischer und \u00f6konomischer Situationen von Unterdr\u00fcckung, fehlenden politischen und sozialen Freiheiten und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Reaktion der Massen die gleiche sein wird: n\u00e4mlich soziale Proteste und Aufst\u00e4nde. Es geht darum, aus der Vergangenheit und den negativen Ereignissen in L\u00e4ndern wie \u00c4gypten zu lernen. Zu lernen, warum die Massenproteste nicht wie noch im Fr\u00fchjahr 2011 zur Demokratie, sondern zu einem autorit\u00e4ren Regime gef\u00fchrt haben. Die Menschen im Maghreb und im Nahen Osten haben diese Lektion irgendwie gelernt. Vergessen wir nicht, dass wir \u00fcber Menschen sprechen, die im Vergleich zu unseren Gesellschaften sehr jung sind und denen es an einer Tradition der demokratischen Dialektik fehlt. Fehler sind somit unausweichlich und sollten auch \u2013 in Anf\u00fchrungszeichen gesagt \u2013 erlaubt sein.
Anmerkungen
[1] Hierbei handelt es sich um analytische Kategorien, die von der radikalen Linken in den 1970er Jahren von Autoren wie Ibrahim Fathi und Hani Shukrallah eingef\u00fchrt wurden.