Den politischen Konflikt zuspitzen!
\nIm letzten Fr\u00fchling st\u00fcrzte eine revolution\u00e4re Bewegung in Algerien den langj\u00e4hrigen Diktator Abdelaziz Bouteflika. An seine Stelle trat de facto eine Regierung von Konterrevolution\u00e4ren unter milit\u00e4rischer Kontrolle. Ihr Ziel: die Erhaltung des Status quo. Das l\u00e4sst sich die Bewegung nicht gefallen: die seit nunmehr sechs Monaten andauernden Massendemonstrationen, auf arabisch Hirak genannt, gehen trotz Sommerurlaub und br\u00fchender Hitze weiter. Hunderttausende fordern auf der Stra\u00dfe eine radikale \u00c4nderung des politischen Systems.
Am 9. August, dem 25. Protestfreitag, wurden Demonstrationen in 45 St\u00e4dten gez\u00e4hlt. Auch am Folgefreitag f\u00fcllten sich die Stra\u00dfen. Die Tageszeitung El Watan spricht von einer politischen Reife der sozialen Bewegung: Im sechsten Protestmonat h\u00e4ufen sich die politischen Initiativen, die einen demokratischen \u00dcbergang organisieren wollen. Doch das Regime zeigt sich unnachgiebig, der Generalstabschef der Armee Ahmed Ga\u00efd Salah geht bis heute seinen eigenen Weg. Ende Juli setzte Salah den ehemaligen Pr\u00e4sidenten des algerischen Parlaments, Karim Youn\u00e8s, ein, um einen \u201eDialog\u201c zur L\u00f6sung der Krise zu organisieren. Dieser nominierte sieben politische Pers\u00f6nlichkeiten, die dem Dialog Legitimit\u00e4t verschaffen sollten. Einige davon lehnten ab. Nicht nur sie waren mit dem Ansinnen, mit dem Regime in Dialog zu treten, nicht einverstanden \u2013 vor allem auf der Stra\u00dfe, bei zivilgesellschaftlichen Initiativen und anderen demokratischen Kr\u00e4ften stie\u00df der Vorschlag auf Widerstand. \u201eRahou djay, rahou djay, el issyane el madani\u201c (Er kommt, der zivile Ungehorsam kommt!) wurde bei den Demonstrationen der letzten drei Wochen lautstark angek\u00fcndigt. Vieles weist darauf hin, dass im September, also nach der \u201eSommerpause\u201c und nach den Semesterferien der Universit\u00e4ten, die Demonstrationen und Protestaktionen sich durchaus noch radikalisierten k\u00f6nnten.
Hakim Addad ist politischer Aktivist, Mitbegr\u00fcnder der Jugendorganisation Rassemblement ActionS Jeunesse (RAJ) und Mitglied des Kollektivs zur politischen Unterst\u00fctzung und Beobachtung der Bewegung des 22. Februar (CSVM 22 f\u00e9vrier). Maurizio Coppola hat mit ihm \u00fcber aktuelle Perspektiven gesprochen.
Ein Blick auf die Stra\u00dfe
Wie haben sich die Zusammensetzung der sozialen Bewegung und die Demonstrationen in den letzten Wochen entwickelt?
Hakim Addad: Wir befinden uns im sechsten Monat der Proteste. Fast t\u00e4glich finden Demonstrationen statt, vor allem aber dienstags (Der Tag der Student*innendemos, auch w\u00e4hrend der Semesterferien, Anm. MC) und freitags. Im Vergleich zum 22. Februar sind wir zwar weniger zahlreich, aber die Stra\u00dfen werden weiterhin mit mehreren Hunderttausenden von Menschen gef\u00fcllt und wir sind lebendiger denn je. Wir vertrauen fest darauf, dass sich die Mobilisierung in den n\u00e4chsten Wochen zuspitzen wird. Seit dem 24. Protestfreitag skandieren die Demonstrant*innen im ganzen Land \u201eRahou jay rahou jay al issyaan al madani\u201c. Diese neuen Aktionen nach dem Sommer bereiten wir zurzeit gerade vor.
Ist auch eine Entwicklung in den Forderungen festzustellen?
Hakim Addad: Zu Beginn der revolution\u00e4ren Bewegung am 22. Februar 2019 war ihre Forderung h\u00f6chst politisch: \u201eNein zum 5. Mandat. Systemwechsel\u201c. Mit dem Fortschreiten der Monate sind die Forderungen politisch geblieben, aber sie wurden radikaler und pr\u00e4ziser: \u201eNein zum Milit\u00e4rstaat, ja zu einem zivilen Staat\u201c, oder Slogans gegen den Generalstabschef der Armee Ga\u00efd Salah, \u201eNein zu den Pr\u00e4sidentschaftswahlen, ja zur verfassungsgebenden Versammlung\u201c. Diese Forderungen werden jede Woche zu jeder Demonstration auf die Stra\u00dfe getragen. Die Forderungen und Slogans haben sich also entsprechend der Entwicklung der allgemeinen politischen Lage ver\u00e4ndert und konkretisiert, doch die Essenz bleibt unver\u00e4ndert: \u201esyst\u00e8me d\u00e9gage\u201c, was soviel hei\u00dft wie das aktuelle System soll abhauen.
Ein Blick auf die politischen Organisationen
In den letzten Monaten haben wir viel \u00fcber die soziale Zusammensetzung und \u00fcber die Forderungen der sozialen Bewegung lesen k\u00f6nnen. Wo steht ihr nun mit der politischen Organisierung dieser Forderungen? Wie k\u00f6nnen die Plattformen beschrieben werden, die f\u00fcr sich beanspruchen, der politische Ausdruck der Stra\u00dfe zu sein?
Hakim Addad: Algerien erlebte in den 1990er Jahren einen zehnj\u00e4hrigen B\u00fcrgerkrieg, der 200.000 Tote forderte. Anschlie\u00dfend folgten zwanzig Jahre unter einem r\u00e4uberischen und repressiven Polizeiregime. Die letzten drei\u00dfig Jahren waren also gepr\u00e4gt von t\u00e4glicher Repression, politische Demonstrationen und Neugr\u00fcndungen von Vereinen und politischen Parteien waren verboten. Das Regime kriminalisierte fast s\u00e4mtliche politischen Aktivit\u00e4ten. Das f\u00fchrte dazu, dass sich vor allem junge Menschen von den politischen Parteien jeglicher Couleur distanzierten. Es handelt sich um eine schwere historische Last, die wir mit uns tragen m\u00fcssen. Wir m\u00fcssen also ehrlich sein: Weder die Parteien noch die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind seit Beginn der Massendemonstrationen in der Lage, strukturierend in die soziale Bewegung einzuwirken.
Trotz diesen ernstzunehmenden Schwierigkeiten spielen diejenigen Kollektive, Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Zusammenschl\u00fcsse eine zentrale Rolle, die mit der aktuellen Bewegung neu aufkamen oder wiederbelebt wurden. Die Mehrheit der Bev\u00f6lkerung hat sich im \u201eKollektiv der Zivilgesellschaft f\u00fcr einen demokratischen und friedlichen \u00dcbergang\u201c zusammengeschlossen.Andere Organisationen und die autonomen Gewerkschaften haben ihre eigene Koordination gegr\u00fcndet. Vereine, die dem Regime nahestehen und sich vor dessen Absetzung f\u00fcr das f\u00fcnfte Mandat Bouteflikas einsetzten, haben sich zu einem weiteren Kollektiv zusammengetan. Auch sie mischen jetzt bei der politischen Auseinandersetzung um die Definition des \u00dcbergangs mit. Es gibt also unterschiedliche Initiativen, jede mit einer eigenen Strategie und mit eigenen Forderungen, die sich von einer verfassungsgebenden Versammlung bis zu sofortigen Pr\u00e4sidentschaftswahlen erstrecken.
All diese Initiativen haben zumindest eines gemeinsam: Sie sind der \u00dcberzeugung, dass es in irgendeiner Form eine \u00dcbergangszeit braucht. Wir haben es, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, am 15. Juni geschafft, eine erste nationale Konferenz zu organisieren. Im Vorfeld haben sich die Kollektive wochenlang regelm\u00e4\u00dfig getroffen. Es wurde dabei stets versucht, die allgemeinen Interessen des Hirak \u00fcber die partikularen politischen und ideologischen Interessen der einzelnen Kollektive zu stellen. Mehr als sechzig Vereine, zivilgesellschaftliche Kollektive und autonome Gewerkschaften mit sehr unterschiedlichen politischen und ideologischen \u00dcberzeugungen haben sich an dieser Konferenz in einem Saal versammelt \u2013 das gab es seit der Unabh\u00e4ngigkeit Algeriens 1962 noch nie! Es wurde ein gemeinsamer Fahrplan verabschiedet und wir haben uns darauf geeinigt, dass es eine \u00dcbergangszeit braucht, bevor wir wieder an die Urnen gehen. Das Regime lehnt diese \u00dcbergangszeit ab. Wir wollen diese \u00dcberzeugung nun aber als Druckmittel gegen\u00fcber dem Regime einsetzen. Man kann dies also durchaus als einen Erfolg der Zivilgesellschaft bezeichnen: Wir haben trotz politischen und ideologischen Unterschieden geschafft, dank und in den Mobilisierungen gemeinsam vorw\u00e4rts zu gehen und weiterhin geeinten Druck auf das Regime aufzubauen.
Am 26. Juni haben sich die demokratischen und progressiven Parteien getroffen. Wir vom zivilgesellschaftlichen Kollektiv waren auch dabei. [1] Daraus ist eine sehr progressive Plattform entstanden, auf der unter anderem ebenfalls eine \u00dcbergangszeit, zudem aber auch eine verfassungsgebende Versammlung und die Gleichheit von Frauen* und M\u00e4nnern gefordert wird. Andere Parteien und politische Pers\u00f6nlichkeiten haben sich am 6. Juli getroffen. Ihre Plattform fordert sofortige Pr\u00e4sidentschaftswahlen, ohne klare Positionierung bez\u00fcglich einer \u00dcbergangsphase. Sie entspricht in vielen Punkten der Roadmap des Regimes. Wir vom zivilgesellschaftlichen Kollektiv haben dezidiert die Teilnahme daran verweigert. All dies zeigt, dass sich die zivilgesellschaftlichen Organisationen und die politischen Parteien im Hirak beteiligen, auch wenn das erst sp\u00e4t geschehen ist und jede Organisation mit ihren eigenen Taktiken daran teilnimmt. Weitere Initiativen werden zurzeit vorbereitet. Darunter ist vor allem die Konferenz f\u00fcr einen demokratischen \u00dcbergang erw\u00e4hnenswert, die am 31. August stattfinden wird und von den demokratischen und progressiven Parteien organisiert wird. Es ist fundamental, nicht ausschlie\u00dflich dem Regime die Definitionsmacht \u00fcber die L\u00f6sung der \u201epolitischen Krise\u201c zu \u00fcberlassen, sondern als zivilgesellschaftliche Kr\u00e4fte in die Debatte zu intervenieren und Vorschl\u00e4ge zu formulieren. Denn f\u00fcr uns ist klar, am Ende muss die Bev\u00f6lkerung und die soziale Bewegung der freit\u00e4glichen Demonstrationen entscheiden, welche L\u00f6sung sie akzeptiert.
Ein Blick auf die Arbeitswelt
Ein fundamentaler Moment f\u00fcr die St\u00e4rkung des Hirak und seiner Forderungen ist die F\u00e4higkeit der organisierten Arbeiter*innen, den algerischen Gewerkschaftsbund UGTA zur\u00fcckzuerobern \u2013 ein notwendiges Instrument, um Aktionen organisieren zu k\u00f6nnen, die den produktiven Sektor blockieren. Wie hat sich die Arbeiter*innenbewegung mit dem Hirak entwickelt?
Hakim Addad: Die algerische, autonome Gewerkschaftsbewegung existiert seit rund drei\u00dfig Jahren. Damals haben sich die ersten autonomen Gewerkschaften gegr\u00fcndet, die an der Basis K\u00e4mpfe f\u00fchren, aber stets mit korporatistischen, also berufsspezifischen Forderungen. Trotz der Repression des Regimes haben es diese Gewerkschaften geschafft, Arbeiter*innen zu organisieren und sich Respekt zu verschaffen. Das ist ein Erfolg. Die Arbeiter*innen und die gewerkschaftlichen Aktivist*innen der Gewerkschaftszentrale UGTA hingegen k\u00e4mpfen f\u00fcr die Demokratisierung der Gewerkschaft und daf\u00fcr, dass diese von den Arbeiter*innen selbst gef\u00fchrt wird. Die Genoss*innen und Kolleg*innen f\u00fchren interne und externe K\u00e4mpfe, unterdessen auch mit der Unterst\u00fctzung der sozialen Bewegung. Doch der Kampf ist noch nicht gewonnen. Ein nicht zu vernachl\u00e4ssigender Grund daf\u00fcr ist, dass das Regime die Gewerkschaftszentrale nicht einfach aus der Hand geben wird. Die UGTA repr\u00e4sentiert rund eine Million Arbeiter*innen, die den ganzen produktiven Sektor des Landes stilllegen k\u00f6nnten. Einen ersten Sieg erreichte die Bewegung mit der Absetzung des Generalsekret\u00e4rs Sidi Said, der Jahrzehnte lang fest in seinem Sattel sa\u00df und eng mit dem ehemaligen Pr\u00e4sidenten Bouteflika verbunden war. Doch der Kampf f\u00fcr die Befreiung der UGTA bleibt hart. Wir glauben aber an unsere Freund*innen und Genoss*innen innerhalb der UGTA. Wir werden Algerien befreien, die UGTA inbegriffen.
Ein Blick auf das Regime
Die Repression hat zugenommen: Die Polizei steht w\u00e4hrend den Demos zahlreicher auf den Stra\u00dfen, einfache Demonstrant*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen werden festgenommen. Ist ein sudanesisches Szenario auch in Algerien vorstellbar?
Hakim Addad: Das Regime in Algerien ist durch Gewalt geboren und hat auch den politisch-sozialen Gesellschaftsbereich stets mit Gewalt verwaltet. Und ich meine damit viel mehr als nur die nackte, physische Gewalt, welche auf die Gesellschaft und auf ihre politischen und medialen Repr\u00e4sentant*innen ausge\u00fcbt wird: Wir erleben tagt\u00e4glich Einsch\u00fcchterungen, Erpressungen und Druck aller Art. Wir wissen also, mit welchem Regime wir es zu tun haben. Unsere Strategie gegen\u00fcber dem Regime, womit wir st\u00e4rker sind und gewinnen k\u00f6nnen, ist die \u201esilmya\u201c, der friedliche Charakter unserer Bewegung. Demgegen\u00fcber ist das Regime machtlos.
Seit den ersten Monaten des Hirak wird Repression gegen den revolution\u00e4ren Prozess angewendet. Die Polizei, welche direkt die Befehle des Regimes ausf\u00fchrt, hat schnell begonnen, die \u00f6ffentlichen R\u00e4ume zu schlie\u00dfen, die von den Protestierenden, von Vereinen und politischen Organisationen mit dem Beginn der Bewegung am 22. Februar besetzt und der \u00d6ffentlichkeit zur\u00fcckgegeben wurden. So wurde das Debatte-Forum der Student*innen- und Jugendorganisation RAJ verboten, dasjenige der K\u00fcnstler*innen, und das des think thank Nabni [2]. Auch wurde in Algier der \u201eTunnel des Facult\u00e9s\u201c geschlossen, welcher w\u00e4hrend den Demonstrationen von den Student*innen besetzt wurde. Es handelt sich dabei um ein symbolisches Zentrum unserer Revolution, so wie es auch die \u201ePlace de la Grande Poste\u201c ist. Als Reaktion auf die Repression haben wir mit einigen Genoss*innen einen Appell lanciert: Wir versammeln uns t\u00e4glich um 17 Uhr und verteidigen unsere \u201eM\u00e4rsche der Freiheit\u201c. Wir wurden wir immer zahlreicher \u2013 leider aber auch die Polizei. Nach f\u00fcnf Wochen t\u00e4glichem Widerstand und Repression wurden zehn Genoss*innen festgenommen, darunter vier Frauen und ich selbst. Wir wurden auf einen Polizeiposten in der Peripherie von Algier gebracht. Die Polizeikr\u00e4fte haben versucht, uns durch Befragungen einzusch\u00fcchtern. Gegen\u00fcber den Frauen gingen sie sogar noch einen Schritt weiter und haben sie physisch gedem\u00fctigt. Schlie\u00dflich haben sie uns acht Stunden in Polizeigewahrsam festgehalten, bevor wir wieder entlassen wurden. Unser Beispiel zeigt, dass das Regime unsere M\u00e4rsche f\u00fcr die Freiheit mit Polizeiterror zerst\u00f6ren will. Seither haben sich die Festnahmen vervielfacht, vor allem von Demonstrant*innen, welche die berberische Flagge mit sich tragen. Heute z\u00e4hlen wir \u00fcber achtzig politische Gefangene und es drohen jederzeit mehr zu werden. Die Gewalt gegen die Demonstrant*innen ist permanent sp\u00fcrbar. In den letzten Wochen wurde Algier freitags polizeilich abgeriegelt, sodass die Demonstrant*innen nicht ins Stadtzentrum marschieren konnten.
Was Anfang Juni im sudanesischen Khartum passiert ist, liegt also im Rahmen des M\u00f6glichen, ja; entweder \u00fcber die offiziellen Streitkr\u00e4fte des Regimes oder \u00fcber regimenahe Gruppen, die jedoch offiziell der \u201eKontrolle des Staates\u201c entgehen. Diese w\u00fcrden die Intervention der Polizei oder im schlimmsten Falle gar der Armee \u201elegitimieren\u201c. Wir erinnern uns noch gut an die Demonstrationen und die \u00f6ffentlichen Platzbesetzungen im Oktober 1988 [3]. Damals hat der Generalstabschef der Armee auch den Befehl erteilt, auf die Demonstrant*innen zu schie\u00dfen. In wenigen Tagen kamen \u00fcber 500 Menschen ums Leben, vor allem sehr junge Demonstrant*innen. Wir erinnern uns auch an die 128 Jugendlichen, die 2001 von der Gendarmerie \u2013 einer der Armee angeh\u00f6renden Einheit \u2013 w\u00e4hrend der sozialen Protestbewegung in der Kabylei durch Schusswaffen get\u00f6tet wurden. Eine gewaltt\u00e4tige Intervention liegt als im Rahmen des M\u00f6glichen, das hat die Geschichte gezeigt. Aber ich glaube gleichzeitig auch, dass das Regime zuerst andere gewaltt\u00e4tige Mittel anwendet, bevor er ins Extreme rutscht; und dies nicht, weil es nicht will, sondern weil im Zeitalter der Handys und der sozialen Medien solche Nachrichten schnell \u00fcber die algerischen Grenzen hinausgehen, was das Regime nicht will. Die Welt soll nicht sehen, wie einige \u201esterbende Alte\u201c, die sich an der Macht festhalten, auf eine friedliche, junge, sch\u00f6ne und lachende Bewegung schie\u00dfen.
Es gibt auch Druck von au\u00dfen, aus dem Nahen Osten, aus Europa (aus Frankreich im Besonderen) und aus den USA. Jede politische Macht hat eigene spezifische Interessen in Algerien, das als T\u00fcr\u00f6ffner in den gesamten afrikanischen Kontinent fungiert. Das komplizenhafte Schweigen derjenigen L\u00e4nder, die sich stets als Hochburgen der Demokratie pr\u00e4sentieren und der Welt die Menschenrechte beibringen wollen, muss aber genauso als eine Positionierung verstanden werden. Wir appellieren an die \u00f6ffentliche Meinung dieser L\u00e4nder, damit nicht auch sie zu Komplizen ihrer Regierungen werden. Schlussendlich tr\u00e4gt aber nur das algerische Regime die Verantwortung f\u00fcr die Repression und f\u00fcr allf\u00e4llige Menschenopfer. Die Kraft unserer Revolution ist ihr pazifistischer Charakter. Das ist unsere beste Waffe und wir werden sie weiterhin benutzen. Wie der chilenische Dichter Pablo Neruda schrieb: \u201eSie k\u00f6nnen alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Fr\u00fchling aufhalten k\u00f6nnen.\u201d
Ein Blick auf die Zukunft
\u201eWir werden den Cup und unsere Freiheit gewinnen\u201c war ein Slogan w\u00e4hrend des in \u00c4gypten stattfindenden Afrika-Cups. Tats\u00e4chlich hat das algerische Fu\u00dfball-Team den Pokal geholt. Welche sind nun aber die n\u00e4chsten Schritte, damit die Freiheit tats\u00e4chlich gewonnen wird?
Hakim Addad: Seit dem 22. Februar haben wir schon einen Gro\u00dfteil unserer Freiheit erobern k\u00f6nnen. Die Geschichte kann nicht zur\u00fcckgedreht werden \u2013 und so werden auch wir nicht mehr zur\u00fcck gehen. Wir m\u00fcssen nun unsere Freiheit behaupten und sie in Stein mei\u00dfeln. \u00dcber die Demonstrationen und Versammlungen hinaus sind nun die Initiativen der Zivilgesellschaft und der politischen Parteien und die Konferenzen, die demn\u00e4chst gehalten werden, von zentraler Bedeutung. Zudem sind weitere Aktionen des zivilen Ungehorsams ab September notwendig. Die Stundent*innenbewegung kann das Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnis zu unseren Gunsten verschieben, aber auch der interne Kampf um die Gewerkschaftszentrale UGTA. Wir m\u00fcssen uns regelm\u00e4\u00dfige Streiks oder gar einen Generalstreik zum Ziel setzen. Die Bev\u00f6lkerung marschiert weiterhin friedlich und organisiert sich. Die soziale und pazifistische Revolution kann \u00fcber sich selbst hinauswachsen, wir m\u00fcssen sie nun zum Erfolg f\u00fchren. Vor dem 22. Februar existierten wir nicht; seither schaut die Welt auf uns, das Regime f\u00fcrchtet uns und wir entdecken uns neu. Eine Sache ist klar: Die Zeit und die Gerechtigkeit stehen auf unserer Seite. Und wir haben weiterhin unsere friedliche Revolution. Darin liegt ein Gro\u00dfteil unseres Erfolges. So erobern wir wieder unsere Freiheit und unsere W\u00fcrde und diejenige aller unterdr\u00fcckten V\u00f6lker.
Anmerkungen
[1] Das CSVM ist ein Kollektiv, das von jungen Demonstrant*innen am Tag nach den ersten Protesten mit dem Ziel gegr\u00fcndet wurde, die Repression des Regimes zu denunzieren und Informationen zur Situation in Algerien zu verbreiten. Unterdessen hat das Kollektiv eine internationale Dimension erreicht und Aktivist*innen auf beiden Seiten des Mittelmeeres, sowohl in Algerien als auch in Frankreich, beteiligen sich.
[2] Das Nabni ist ein Ende 2010 gegr\u00fcndetes Kollektiv, welches sich schon damals mit der Frage des demokratischen \u00dcbergangs und des Generationenwechsels in Algerien auseinandersetzte.
[3] Proteste, die zum Zusammenbruch des Einparteiensystem Algeriens f\u00fchrten und das sogenannte \u201eschwarze Jahrzehnt\u201c einl\u00e4uteten.
Themenschwerpunkt "Was ist los in Algerien?"
- Was ist los in Algerien? | Maurizio Coppola
[5. April 2019] - Protestieren wie in Algier | Maurizio Coppola
[31. Mai 2019] - Die Revolte einer ganzen Generation | Maurizio Coppola
[7. Juli 2019] - Den politischen Konflikt zuspitzen! | Maurizio Coppola im Gespr\u00e4ch mit Hakim Addad
[20. August 2019]