Blutbad in Khartoum
\nEin \u00e4lterer Mann wird wiederholt von drei jungen M\u00e4nnern in Offiziersuniformen verpr\u00fcgelt, ausgepeitscht und geschlagen. Der Mann hebt seine Arme als Zeichen des Friedens und bittet sie zu stoppen, aber das Schlagen h\u00f6rt nicht auf. In dem Video der Gewalt, das viral geworden ist, bricht ein Stock, als er seine H\u00fcfte trifft. Diese andauernde und gnadenlose Tat wird von bewaffneten Milizen in Toyota-Pick-Up Trucks bezeugt, eine bekannte Kombination, die zwischenzeitlich sowohl mit dem skrupellosen fr\u00fcheren Regime als auch den aktuell aktiven Janjaweed im Westsudan in Verbindung gebracht wird.
Es ist nur einer von zahlreichen schrecklichen Vorf\u00e4llen, die sich am letzten Fastentag des Ramadan ereignet haben. Der Zeitpunkt, zu dem der \u00dcbergangs-Milit\u00e4rrat (Transitional Military Council, TMC) die friedlichen Demonstrant*innen angreift, war eindeutig vors\u00e4tzlich und sorgf\u00e4ltig geplant. Es ist eine Zeit, in der die Menschen in ihre H\u00e4user zur\u00fcckkehren und mit ihren Familien das Ende des Ramadan und den Beginn des Eid (islamisches Fest) feiern. Daher besetzten weniger Zivilist*innen Al Ghiyadah (den Bereich vor dem Milit\u00e4rhauptquartier). Hunderte friedliche Demonstrant*innen campten seit dem 6. April vor dem Hauptquartier. Sie bewachten das Areal Tag und Nacht und besch\u00fctzten, versorgten, verpflegten, bildeten, reinigten und betreuten sie alle, die in dem Areal vorbeikamen. Die Atmosph\u00e4re der Ruhe, die die Zone umgab, wurde zu einer Drehscheibe f\u00fcr K\u00fcnstler*innen, Musiker*innen, Krankenpersonal, \u00c4rzt*innen, Anw\u00e4lt*innen, Studierende und Erwerbslose, alle ethnischen Gruppen, alle Geschlechter, alle Altersgruppen wurden zum ersten Mal seit \u00fcber drei Jahrzehnten diktatorialer Herrschaft eins.
Sie f\u00fchlten ein Gef\u00fchl der Zugeh\u00f6rigkeit und der Verbundenheit zum Land, das viele Generationen noch nie zuvor erlebt hatten. Unterst\u00fctzt vom Milit\u00e4r haben diese Zivilist*innen eine grauenhafte Diktatur gest\u00fcrzt, die 30 Jahre lang brutale Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat, von denen viele auf der Welt nichts wissen.
Kurze R\u00fcckblick auf die Geschichte des Sudan
Als sudanesische Staatsb\u00fcrgerin, die seit den 1980er Jahren die Aufstiege und die Machtanspr\u00fcche der Regime auf der politischen Ebene miterlebt hat, kann ich ein Lied davon singen , wie wenig sich an der diktatorischen Herrschaft als solche in den Jahren ge\u00e4ndert hat. Bis 2010 (dort fanden nach jahrelangem B\u00fcrgerkrieg und anschlie\u00dfender f\u00fcnfj\u00e4hriger \u201e\u00dcbergangsphase\u201c Parlamentswahlen statt, Anm. Red.) hat das gr\u00f6\u00dfte Land Afrikas viele widrige und verh\u00e4ngnisvolle Entwicklungen durchgemacht und die sudanesische Bev\u00f6lkerung wurde in zahllosen Bereichen des Lebens unterdr\u00fcckt \u2013 bis sie sagten, es reicht! Die Regime haben wie Insektenplagen das Land ausgetrocknet und verw\u00fcstet und Reichtum in jeder Form auf Rekordniveau gebracht. Sie haben die gesamte Nation von Allem ausgebeutet und die Bev\u00f6lkerung von der Welt abgeschottet. Es wird davon mehr enth\u00fcllt, nacherz\u00e4hlt und geteilt werden, mit der Zeit. F\u00fcr den Moment und durch die Tatsache, dass soziale Medien dazu beitragen, wahre Geschehnisse zu verbreiten, bedeutet das, dass die Verbrechen nicht l\u00e4nger ohne Konsequenzen bleiben. Dieser Artikel wird hoffentlich nur einer von vielen sein, die den Kampf zwischen unbewaffneten B\u00fcrger*innen und schwer bewaffneten S\u00f6ldnern wiedergeben, die Land und Leute als Geiseln \u00fcberfallen und festhalten. Das jetzige brutale Vorgehen erfolgte wenige Tage nach dem Zusammenbruch der Verhandlungen zwischen zivilen und milit\u00e4rischen F\u00fchrer*innen \u00fcber die Regierungsstruktur des Sudan w\u00e4hrend einer geplanten \u00dcbergangszeit.
Was passierte am 3. Juni und danach?
Die Sudanese Aviation Professionals Alliance (SAPA; Luftfahrts-Berufsgenossenschaft, Anm. Red.) riefen am Montag, den 3. Juni, ihre Mitglieder zum Streik und zu zivilem Ungehorsam auf. In Folge wurde fast der gesamte Luftraum \u00fcber dem Sudan eingefroren, die Woche \u00fcber kaum Fl\u00fcge innerhalb und au\u00dferhalb des Landes statt. Meldungen berichten allerdings davon, dass Flughafenpersonal und Piloten unter Waffengewalt dazu gezwungen werden, weiter zu arbeiten. Es wird auch davon berichtet, dass ein hoher Beamter der sudanesischen Luftfahrtbeh\u00f6rde von Hemedtis M\u00e4nnern (Mohamed Hamdan Dagalo, auch als Hemedti bekannt, Teil des milit\u00e4rischen \u00dcbergangs-Rates (TMC); Kommandeur der Rapid Speed Forces (RSF) und fr\u00fchere rechte Hand von Ex-Pr\u00e4sident Omar Al-Bashir, unter anderem im B\u00fcrgerkrieg in der Region Darfur, Anm. Red.) hingerichtet worden sei, als er sich weigerte, den zivilen Ungehorsam zu brechen. Die Hinrichtung fand angeblich in seinem Haus vor den Augen seiner Frau und seinen Kindern statt. Bislang dringen aber nur sehr wenige Nachrichten \u00fcber die konkrete Lage in Sudan durch; gro\u00dfen Nachrichtenkan\u00e4len wurde in den letzten Tagen angeordnet, nicht weiter zu berichten. Allen ausl\u00e4ndischen Bewohner*innen des Landes wurde die Evakuierung geraten, die Internetkommunikation wurde unterbrochen und teilweise sogar gestoppt. Wir wissen nicht, wie lange wir noch Zugang erhalten. Wir m\u00f6chten auch deshalb dringend erz\u00e4hlen, was in den letzten drei Tagen passiert ist und immer noch passiert.
Der Angriff auf die Zivilbev\u00f6lkerung auf Al Ghiyadah begann gegen f\u00fcnf Uhr morgens. Ein junger Mann wird am Protestcamp mit Tritten, St\u00f6\u00dfen an seinem K\u00f6rper, Ohrfeigen, Einsch\u00fcchterungen und Beschimpfungen geweckt. Sp\u00e4tere Videoaufnahmen des Mannes stammen aus einem Krankenhaus, da er wegen der erlittenen Verletzungen behandelt wird. Der vordere Teil seines Kopfes ist willk\u00fcrlich rasiert, und er erz\u00e4hlt, dass die Milizgruppe, die ihn schlug, ihn verspottete und damit drohte, einen Teil seines Kopfes aufzuschneiden und eine Narbe zu hinterlassen.
Ein weiteres Video, dass wir zugeschickt bekommen, zeigt einen Mann in medizinischer Behandlung, der durch eine Kugel verwundet wurde. Sie zerschmetterte sein Bein, als er versuchte, ein Kind zu retten, das in seinem Haus Zuflucht suchte, weil es von einer bewaffneten Miliz geschlagen wurde. Als der Mann versuchte einschreiten, wurde er unvermittelt in seinem eigenen Haus geschlagen und ins Bein geschossen. Interessanterweise merkt er an, dass diese Milizen ein seltsames Arabisch sprachen und dass er nicht in der Lage war, den Ursprung davon zu bestimmen. Auch andere Quellen erw\u00e4hnen spezifische zentral- und westafrikanische L\u00e4nder, die Attent\u00e4ter und Gruppen junger M\u00e4nner entsenden, um die Arbeit der Rapid Security Force (RSF) auszuf\u00fchren.
In vielen F\u00e4llen \u00fcbten die Angreifer sexuelle Gewalt aus. Es wurde vor allem \u00fcber die F\u00e4lle berichtet, die das medizinische Personal der in Al Ghiyadah eingerichteten Notdienstklinik betrafen. Das gesamte medizinische Personal, \u00c4rzt*innen, Krankenpersonal, Apotheker*innen, Rettungssanit\u00e4ter*innen und viele mehr, sind dort ehrenamtlich im Einsatz, rund um die Uhr, und helfen allen Bed\u00fcrftigen beim Sit-In. Am 3. Juni wurden die Mitarbeiter*innen der Klinik gewaltsam angegriffen, die m\u00e4nnlichen \u00c4rzte und Helfer ausgepeitscht, mit Rohrst\u00f6cken gepr\u00fcgelt und getreten, w\u00e4hrend einige der weiblichen Kolleginnen angegriffen und vergewaltigt wurden. Eine andere beunruhigende Tatsache ist, dass Krankenwagen, die zum Protestgel\u00e4nde fuhren, Dutzende von Leichnamen einsammelten und in den nahegelegenen Nil warfen. Keine zwei Tage sp\u00e4ter wurden einige dieser Leichen geborgen. Man fand Steine und Zementbl\u00f6cke an sie gebunden. \u00dcber 40 Leichen sollen in den Fluss geworfen worden sein, von denen viele immer noch nicht aufgefunden sind. Das Sudan Doctors Committee erstellte einen \u00dcberblick \u00fcber die Anzahl der aufgefundenen Leichen und der Zustand, in dem sie sich befanden. Hunderten von Verletzten war es nicht gestattet, sich w\u00e4hrend des Angriffs auf das Sit-In behandeln zu lassen. Selbst dann, als sie es schafften, Krankenh\u00e4user zu erreichen, wurde ihnen dort eine Behandlung untersagt. \u00c4rzt*innen und medizinisches Personal wurden angewiesen, den Verletzten nicht zu helfen und mit vorgehaltener Waffe zum Verlassen der Krankh\u00e4user gezwungen. Diejenigen, die weiter arbeiteten, wurden in einem Ausma\u00df geschlagen, in dem sie selbst \u00e4rztliche Hilfe ben\u00f6tigten. In zwei Krankenh\u00e4usern er\u00f6ffnete die Miliz das Feuer und zerst\u00f6rte einen Gro\u00dfteil der Ausr\u00fcstung.
Ziviler Ungehorsam
Seit dem Massaker am 3. Juni sind auf allen Hauptstra\u00dfen der Stadt Stra\u00dfensperren errichtet worden und ein landesweiter ziviler Ungehorsam trat in Kraft. Das Land steht jetzt still. Anstatt Eid zu feiern, trauern die Zivilist*innen. Zahlreiche Berichte aus Khartum erz\u00e4hlten davon, dass die paramilit\u00e4rische Einheit Rapid Support Forces (RSF), die fast menschenleeren Stra\u00dfen der Stadt durchstreifen und Zivilist*innen angreifen. Die mutigen Menschen, die weiterhin Stra\u00dfensperren errichten, die sich immer noch in den Stra\u00dfen von Khartoum versammeln und nach der Revolution rufen, haben Kr\u00e4fte in gepanzerten Milit\u00e4rfahrzeugen gesehen. Ein Researcher der New York Times identifizierte diese Fahrzeuge als NIMR Ajban 440As, die in den Vereinigten Arabischen Emiraten hergestellt werden. In diesem Zusammenhang ist zu erw\u00e4hnen, dass Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate dem milit\u00e4rischen \u00dcbergangsrat (TMC) Ende April 2019 drei Milliarden Dollar zur Verf\u00fcgung gestellt haben, um die sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen im Sudan zu adressieren.
Heute ist der dritte Tag, an dem die Eid-Demonstrant*innen und Aktivist*innen in Gewahrsam festgehalten werden und in vielen F\u00e4llen auch verschwunden sind. Die sudanesische Revolution geht weiter und trotz der Umst\u00e4nde und herausfordernden Bedingungen behalten die Menschen ihre friedliche Haltung bei. Die Nation ist jetzt eine Kolonie der r\u00fccksichtslosen und gewaltt\u00e4tigen Janjaweed-Miliz-Junta, die an die Macht gekommen ist und die Nationalen Streitkr\u00e4fte zersplittert und zu unbedeutenden Fraktionen zerteilt hat, in dem sie sich mit Gener\u00e4len und h\u00f6heren Offizieren zusammenschloss. Heute ist der Sudan nicht nur ein Schlachtfeld f\u00fcr die Zivilherrschaft, sondern auch f\u00fcr die Befreiung von den engen F\u00e4ngen lumpiger W\u00fcstenpiraten in Gestalt einer legitimen, sogenannten Armee. Leider wird das islamische Fest f\u00fcr die sudanesische Bev\u00f6lkerung als "Eid des Blutvergie\u00dfens" in Erinnerung bleiben.
Lojain ist eine von vielen Jugendlichen, die seit Ende Dezember 2018 in der Protestbewegung im Sudan aktiv sind. In den fr\u00fchen Stadien des Protests wurde es als \u201eAufstand der Jugend\u201c bezeichnet, bevor es sich in eine Revolutionsbewegung wandelte. In diesem Jahr begannen an vielen Universit\u00e4ten und Schulen Pr\u00fcfungen und Feiertage fr\u00fcher, weil das Regime bef\u00fcrchtete, dass sich Studierende dort f\u00fcr die Proteste versammeln k\u00f6nnten. Andere Bildungseinrichtungen sind seit August 2018 geschlossen.
Die teilweise sehr brutalen Einsch\u00fcchterungstaktiken des Regimes konnte die steigende Anzahl von Demonstrant*innen und den Beginn des Sit-Ins vor dem Milit\u00e4r-Hauptquartier (Al Ghiyadah) ab dem 6. April 2019 in Khartoum nicht aufhalten. Trotz der steigenden Hitze (\u00fcber 40 Grad Celsius) und des Ramadans (der islamische Fastenmonat begann am 6. Mai) versammelten sich die Demonstrant*innen t\u00e4glich, ihre Organisierung und gegenseitige Solidarit\u00e4t gewann immer weiter an Kraft. In den fr\u00fchen Morgenstunden des 3. Juni setzten Streitkr\u00e4fte und Milizen am Al Ghiyadah entsetzliche Gewalt und scharfe Munition gegen unbewaffnete friedliche Protestierende ein und zerst\u00f6rten den Protestort. Zahlreiche Menschen wurden get\u00f6tet, Hunderte verletzt. Lojain war am Al Ghiyadah, als die Attacke begann. Dies ist ihre Aussage als Augenzeugin.
"Meine letzten Worte sollen nicht feige sein"
\u201eHeute ist der 5. Juni. Zwei Tage nach dem Massaker am 3. Juni. Es f\u00fchlt sich an, als steckte ich immer noch in einem dieser dunklen R\u00e4ume fest, die ganz feucht und klamm waren von von dem stechenden Geruch der entsetzten \u00dcberlebenden, alle unsere Nerven bis aufs \u00c4u\u00dferste gespannt. Ich danke Gott daf\u00fcr, dass ich die Angst in ihren Gesichtern nicht sehen konnte \u2013 und sie nicht die meine.
Ich kam ungef\u00e4hr um vier Uhr morgens am Milit\u00e4r-Hauptquartier an. Mit dem Taschenlampen-Modus meines Handys navigierte ich durch den Schlamm und die Wasserpf\u00fctzen, w\u00e4hrend ich \u00fcberlegte, dass die Elektrizit\u00e4t wohl ausgestellt worden war, da es in der Nacht zuvor geregnet hatte \u2013 das letzte, was wir br\u00e4uchten, so mein Gedanke, w\u00e4re ein elektischer Schock durch ein offenes Kabel.
Ich trank viel Wasser, f\u00fcllte meinen Magen damit, da ich plante, mein Fasten in K\u00fcrze zu beginnen. Als ich das Camp betrat, rief mich ein Freund an und berichtete mir, dass 50 RSF Pick-Up Trucks (Rapid Support Forces aka Janjaweed \u2013 diese Gruppierungen sind vielfach miteinander verbunden, Anm. Red.) mit Soldaten auf dem Weg in unsere Richtung seien \u2013 ich wischte meine aufkommende Angst beiseite und setzte meinen Weg in Richtung eines Zelts der Frauenbewegung fort, wo ich \u00fcblicherweise anzutreffen bin. Beim Weiterlaufen h\u00f6rte ich andere Menschen um mich herum \u00fcber einen m\u00f6glichen \u00dcberfall sprechen, das Gefl\u00fcster dar\u00fcber wurden immer lauter und die Anzahl der erw\u00e4hnten Pick-Up Trucks stieg rasch auf das Zehnfache an. Nach einer Weile beschlossen meine Freund*innen und ich, uns etwas auf dem Sit-In-Gel\u00e4nde umherzubewegen und zu schauen, welche Entwicklungen sich abzeichneten \u2013 wir wollten nicht nach Hause gehen, es war nicht die Zeit, \u00e4ngstlich zu sein.
Es war nicht wie sonst in dieser Nacht. Es waren keine Milit\u00e4rsoldaten in Sicht, es war sehr ruhig, nur die Ger\u00e4usche von der nahen Nafaq-Br\u00fccke waren zu h\u00f6ren \u2013 dort versuchten viele Menschen, die Barrikaden aufzur\u00fcsten, da sie eine Invasion bef\u00fcrchteten. Musik und Ges\u00e4nge wichen bald einer gr\u00f6\u00dferen Stille.
Gegen 4.50 Uhr ging ich in Richtung des Klinikareals \u2013 ich hoffte, dort annehmbare sanit\u00e4re Anlagen zu finden, um meine Gebete durchzuf\u00fchren und eine kleine Weile zu ruhen. Zu meinem Gl\u00fcck waren die Badezimmer in dem ersten Geb\u00e4ude eine Zumutung und ich entschied, zur\u00fcck in Richtung Almoa\u2019lim Medical Centre zu gehen, da dort eine Freundin von mir war. Auf dem Weg \u2013 es mag zwischenzeitlich etwa 5.15 Uhr am Morgen gewesen sein \u2013 h\u00f6rte ich Gewehrsalven und konnte sehen, wie Menschen hinter mir aus Richtung des Eingangs an der Nile Street gerannt kamen; RSF Soldaten, sowohl in Polizei- wie auch ihrer eigenen Uniform feuerten wahllos auf Protestierende, sie schlugen diese mit St\u00f6cken, traten und vergewaltigten sie, zu diesem Zeitpunkt fielen Menschen wie Regen. Ich h\u00f6rte Sch\u00fcsse und Schreie und es war \u00fcberall Blut. Ich eilte in eine Richtung von der ich hoffte, in Sicherheit zu gelangen. Dabei sah ich Menschen, die in Richtung der Sch\u00fcsse liefen, weil sie um das Leben ihrer Br\u00fcder und Schwestern f\u00fcrchteten, ich sah Menschen, die standhaft stehen blieben; Menschen, die andere dazu aufforderten zu helfen, da zu bleiben; einige riefen laut \u201ealela almoot\u201d oder \u201eya inta ya watanak, jahiz 3deel kafanak\u201c - \u201eHeute ist der Tod\u201c, \u201eEntweder du oder dein Land, bereite die Leichent\u00fccher vor\u201c. Es herrschte Chaos.
Andere eilten mit K\u00f6rpern in Richtung der Sit-In-Kliniken und der nahegelegenen Krankenh\u00e4user. Ich kehrte zur\u00fcck, um wenigstens zu helfen, um meine Freund*innen zu finden und uns zu versammeln, um die Lage zu verstehen. Wir haben diese Chance nicht bekommen.
Die RSF hatte sich zwischenzeitlich \u00fcberall Zutritt verschafft und wir nahmen an, dass sie uns in Richtung Burri (Stadtteil Khartoums, Anm. Red.) treiben und das Sit-In-Areal r\u00e4umen wollten. Als wir auf der Jamaa Street in Richtung Burri rannten, sahen wir Milit\u00e4rsoldaten und RSF Soldaten, die \u00fcber uns lachten und Videos von uns machten. Ein Mann stellte sie zur Rede und kam gerade noch mit dem Leben davon, ich schrie einen von ihnen an, der uns angreifen wollte. Er blieb wie im Schock stehen. Wir verstanden nicht, warum sie nichts weiter gegen uns unternahmen, bis wir nach vorne blickten. Wieder fielen die Menschen wie Regen durch die Sch\u00fcsse, die auf uns gefeuert wurden. Vor uns befanden sich noch mehr RSF Soldaten, die unseren einzigen Ausgang blockierten. Es gab keinen Weg nach vorne und keinen zur\u00fcck. Die Protestierenden rannten schnell in Richtung des Almoa\u2019lim Medical Centre \u2013 dort wurden wir beschossen, als wir in das Geb\u00e4ude hineineilten.
Wenn sie einzig das Sit-In h\u00e4tten r\u00e4umen wollen, dann h\u00e4tten sie nicht auch unsere Fluchtwege blockiert. Aber sie wollten in uns die Furcht wecken, uns alle peinigen und sicherstellen, dass wir nie wieder nach unseren Grundrechten fragen.
Ich wei\u00df nicht mehr, wieviel Uhr es war. Ich eilte in den ersten Raum, den ich sah. Er war komplett dunkel, mindestens zehn andere Menschen waren zusammen mit mir dort. Jede und Jeder in kompletter Stille, auf den Tod wartend. Jederzeit h\u00e4tte jemand hineinkommen und uns alle umbringen k\u00f6nnen. Ich betete mit ganzer Kraft, dass Gott mich h\u00f6ren und diesen Alptraum beenden w\u00fcrde. Es war erst der Anfang.
Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich in einem Klinikgeb\u00e4ude au\u00dferhalb des restlichen Klinikgel\u00e4ndes und abseits des Notfall-Areals. Die exponierte Lage des Geb\u00e4udes machte dieses sehr unsicher und bewaffnete Sicherheitskr\u00e4fte kamen hinein. Ich wusste, dass diese nicht l\u00e4nger uns, der Bev\u00f6lkerung, gegen\u00fcber loyal waren, alle wussten das, und so versteckten wir uns immer und immer wieder, wenn wir sie das Geb\u00e4ude betreten sahen. Als sie zum zweiten Mal ins Geb\u00e4ude kamen, fragten sie nach Verletzten, und halfen jenen hinaus, die mit ihnen gehen wollten. Andere hatten Angst um ihr Leben und trauten den Soldaten nicht; diese Menschen blieben.
Ich hatte zwischenzeitlich meine Freund*innen erreichen k\u00f6nnen und diese teilten mir mit, dass sie sich auf dem Almoa\u2019lim Klinikgel\u00e4nde in der Notfallstation bef\u00e4nden. Ich wollte dringend versuchen, sie zu erreichen, weil ich gro\u00dfe Sorge hatte und sicherstellen wollte, dass es ihnen gut geht. Ich wusste, auch ich w\u00fcrde dann ruhiger werden.
Morgens um etwa 10 Uhr versuchte ich, durch die Hintert\u00fcr zu ihnen zu gelangen, aber ich scheiterte kl\u00e4glich. Als ich durch die T\u00fcr schl\u00fcpfen wollte, sah ich zwei RSF Soldaten die Treppe heraufkommen. Sie hatten mir den R\u00fccken zugewandt, ich konnte sie durch ein kaputtes Fenster klar erkennen. Dann lie\u00df eine Person neben mir aus Versehen ein St\u00fcck Metall fallen oder verschob etwas, und die beiden Soldaten schauten schnell zur\u00fcck. Eine Kalaschnikow war nun auf meine Stirn gerichtet. Der Soldat schrie, ich solle herauskommen. Ich hatte meine H\u00e4nde in der Luft, und alles was ich tat, war mehrmals laut zu schreien \u201eIch bin ein M\u00e4dchen\u201c \u2013 ich glaube, es war das D\u00fcmmste, was mir einfiel, denn ich bin ziemlich sicher, es war ihm ganz egal, dass ich weiblich bin \u2013 aber es brachte mir gen\u00fcgend Zeit ein, um zu entkommen. Ich rannte ins Geb\u00e4ude zur\u00fcck, dieses Mal die Treppen hinauf, und ich fand einen Unterschlupf, in der Mitte des Rezeptionsareals, wo die Papierstapel aufbewahrt werden, dort kroch ich in einen der halbhohen Schr\u00e4nke hinein; alle anderen, die an der T\u00fcr dabei waren, versteckten sich ebenfalls, weil sie davon ausgingen, dass die Soldaten hineinkommen und uns ermorden w\u00fcrden. Sie schossen zweimal, als sie hineinkamen; aber ich glaube, wir waren nicht ihre Hauptsorge, da sie kurze Zeit sp\u00e4ter das Geb\u00e4ude verlie\u00dfen.
Als sie gegangen waren, wurde es ruhiger. Die Zeit verging sehr langsam - das tut sie noch immer.
Unserer vierte Begegnung war mit Kr\u00e4ften des milit\u00e4rischen Geheimdienstes, und wir gingen diesmal anders vor. Ein Teil der Gruppe versteckte sich in den R\u00e4umen, w\u00e4hrend andere sich entschieden hatten, drau\u00dfen zu bleiben und notfalls als Ablenkung zu fungieren. Da war ein junges M\u00e4dchen, das starke Schmerzen hatte und blutete \u2013 ihre Operationsn\u00e4hte hatten das ganze Gerenne nicht ausgehalten. Eine Krankenschwester war da, die ihr Schmerzmittel gab, um ihr zu helfen. Es waren noch rund 15 andere Personen im Raum. Die Geheimdienstler klopften nach etwa 10 Minuten an die T\u00fcr; ich merkte, wie mir das Atmen schwer fiel und sich ein Asthma-Anfall ank\u00fcndigte.
Wir \u00f6ffneten die T\u00fcre und die Agenten sagten, dass sie uns helfen w\u00fcrden und wir sicher nach Hause gehen k\u00f6nnten. W\u00e4hrend sie den Raum leerten, bat mich die Krankenschwester, da zu bleiben, da sie meinen Zustand bemerkte. Ich lie\u00df mir von einem der M\u00e4nner, die gingen, die Telefonnummer geben. Er erz\u00e4hlte mir sp\u00e4ter, dass sie anstelle der vermeintlichen Sicherheit von RSF Soldaten gepr\u00fcgelt und beleidigt wurden; diese rasierten ihnen die Haare ab und zwangen sie dazu, die Barrikaden wegzur\u00e4umen. Ihnen wurde gesagt, dass sie froh sein k\u00f6nnten, weiter leben zu d\u00fcrfen.
Ich blieb alleine zur\u00fcck \u2013 es waren sonst nur noch das Krankenhauspersonal vor Ort und zwei Patienten mit ihren Kopatienten auf der Intensivstation. Nach einer Stunde, in der ich auch medizinisch betreut wurde, kam ein RSF Soldat in die Intensivstation und sagte, er sei damit beauftragt worden, auf uns zu schie\u00dfen: \u201egalo lai adeekum 6alga\u201c, was \u00fcbersetzt soviel hei\u00dft wie: \u201eMir wurde gesagt, ich solle euch eine Kugel verpassen\u201c. Ich schrieb meine letzten Worte. Nicht als offiziellen letzten Willen, aber als etwas \u00e4hnliches: Meine letzten Worte sollten meiner Familie durch das hindurchhelfen, was auch immer folgen sollte...
Der Soldat fragte nach Wasser, der Doktor gab ihm etwas und ging dabei mit ihm aus dem Zimmer hinaus. Er erkl\u00e4rte ihm, dass wir alle Krankenhausangestellte seien und die ganze Zeit gearbeitet h\u00e4tten. Der Soldat fragte nach mehr Wasser und sagte dem Doktor, eines der M\u00e4dchen, die im Raum mit uns waren, solle es ihm bringen. Als sie dies tat, bot er ihr einige Pillen an. Sie erwiderte, dass sie faste, und er antwortete, er tue dies auch; warum er also Wasser trinke, fragte sie, worauf er w\u00fctend antwortete: \u201e Wegen dir und deinen Protesten, weil uns das Eid-Feiern (religi\u00f6ser Feiertag, letzter Tag des Ramadan, Anm. Red.) verwehrt wurde\u201c \u2013 worauf sie ihm widerum antwortete, dass keiner der protestierenden Menschen hier seine Familien sehen w\u00fcrde. Er fragte sie, ob sie eine zivile Regierung oder eine Milit\u00e4rbesetzung wolle. Mutig antwortete sie: \u201eeine zivile\u201c. Sie sagte mir sp\u00e4ter, sie habe nicht gewollt, dass ihre letzten Worte feige seien. Ich glaube daran, dass Allah uns an diesem Tag gesehen hat; mit meinem ganzen Herzen glaube ich daran, dass die Gebete meiner Mutter mich da durch brachten.
Um die Mittagszeit herum entschied ich, dass ich erneut wagen wollte, zu meinen Freund*innen in der Notaufnahme zu gelangen. Es w\u00e4re nicht einmal ein zwei Minuten Weg gewesen, aber ich merkte, dass ich die Kraft daf\u00fcr einfach nicht aufbrachte. Ich rief sie an und fragte sie, ob die Lage sich entspannt h\u00e4tte, und ich konnte dabei meine Gedanken kaum sortieren. Mutigerweise erkl\u00e4rten sich meine Freund*innen bereit, mich abholen zu kommen \u2013 sie bemerkten meine Angespanntheit. Sie erz\u00e4hlten mir, dass es ruhiger geworden w\u00e4re. Kurze Zeit danach kamen sie, um mich abzuholen.
Als ich das Almoa\u2019lim Medicin Centre betrat, war Blut alles, was ich sah. Ich sah verletzte Menschen, eine Liste an der Wand mit den Namen der Verletzten und denjenigen, die umgekommen waren, ich sah junge M\u00e4nner, die um ihre geliebten Freund*innen trauerten. Ich f\u00fchlte mich verloren und hilflos.
Ich sah Verzweiflung in all den Gesichtern um mich herum, und ich bin immer noch im Schock \u00fcber das Geschehene. Nun m\u00f6chte ich aufh\u00f6ren zu schreiben, da das Kopfweh und auch die Bilder immer st\u00e4rker zur\u00fcckkehren.\u201c
Am Abend des 5. Juni schreibt Lojain noch eine zus\u00e4tzliche Nachricht an ihre Freundinnen Matu und Shanakdakhete:
\u201eSie dringen in die H\u00e4user der Menschen ein. Meine Freundin hat gerade angerufen und mir berichtet, dass sie in der Nachbarschaft ein M\u00e4dchen vor den Augen ihres Vaters vergewaltigt haben. Und sie haben auf Menschen geschossen, die in der Moschee gebetet haben. Sie haben sie alle get\u00f6tet. Ein Junge ist in ihrem Haus gestorben. Das alles findet in Burri (Stadtteil von Khartoum, Anm. Red.) statt. Sie hat mir erz\u00e4hlt, dass sie sich in ihrem Haus eingeschlossen und die Lichter ausgemacht haben \u2013 weil sie kommen und Menschen t\u00f6ten, wenn die Lichter an sind. Bitte passt auf euch auf.\u201c
\u00dcbersetzt von Johanna Br\u00f6se.
Sudan Uprising - Gewehrsalven am Morgen des 3. JuniLojain ist eine von vielen Jugendlichen, die seit Ende Dezember in der Protestbewegung im Sudan aktiv sind. In den fr\u00fchen Stadien des Protests wurde es als \u201eAufstand der Jugend\u201c bezeichnet, bevor es sich in eine Revolutionsbewegung wandelte. Trotz der steigenden Hitze (\u00fcber 40 Grad Celsius) und des Ramadans (der islamische Fastenmonat begann am 6. Mai) versammelten die Demonstrant*innen seit Mitte April t\u00e4glich, ihre Organisierung und Solidarit\u00e4t gewann immer weiter an Kraft. In den fr\u00fchen Morgenstunden des 3. Juni setzten Streitkr\u00e4fte und Milizen am Protestort Al Ghiyadah in der Hauptstadt Khartoum heftige Gewalt und scharfe Munition gegen unbewaffnete friedliche Protestierende ein. Zahlreiche Menschen wurden get\u00f6tet, Hunderte verletzt. Lojain war vor Ort. Wir ver\u00f6ffentlichen hiermit ein Video, welches sie in den Morgenstunden des 3. Juni aufnahm. Das Video ist Teil der Berichterstattung von Matu und Shanakdakhete. Die beiden schreiben \u00fcber die Lage in der sudanesischen Hauptstadt und stellten uns den Augenzeugenbericht ihrer Freundin Lojain zur Verf\u00fcgung. Ihr Report folgt in K\u00fcrze. #SudanUprising
Gepostet von re:volt magazine am Freitag, 7. Juni 2019