Landnahmen in der Behindertenhilfe
\nMein gro\u00dfer Bruder \u2013 sein Name ist Julian, wir nennen ihn Juli \u2013 ist schwer mehrfach geistig behindert. Ich kenne diese Formel seit ich ein kleines Kind bin: \u201eschwer mehrfach geistig behindert\u201c. In den Unterlagen aus der Klinik in T\u00fcbingen, wo meine Eltern nach seiner Geburt sorgenvolle und langwierige Monate verbracht haben, w\u00e4hrend Tests und Untersuchungen an Juli vollzogen wurden, steht: \u201egeistige und seelische Behinderung\u201c. Was soll das sein, eine seelische Behinderung? Eine Behinderung an der Seele? Meine ganze Kindheit \u00fcber plapperte ich diese Formeln nach, wenn mich jemand danach fragte, oder auch einfach, wo ich gescheit wirken wollte, und habe es doch bis heute nicht verstanden: Mein Bruder \u2013 eine behinderte Seele.
Wir verbrachten unsere Kindheit in einem schw\u00e4bischen Dorf. Juli besuchte Sonderschulen in Lauffen und Neckarsulm, wir \u2013 seine drei Schwestern \u2013 gingen auf die n\u00e4chstgelegene Grundschule. Juli wurde morgens vor unserer Haust\u00fcre mit dem Taxi abgeholt \u2013 wir liefen zur Bushaltestelle. Seine Klasse bestand neben ihm aus drei weiteren Mitsch\u00fcler*innen, er hatte einen Schulbegleiter und nahm an Reit- und Bewegungstherapie, Ergotherapie und Logop\u00e4die teil, bastelte oder machte Musik, w\u00e4hrend wir das Alphabet und die Grundrechenarten lernten, um sp\u00e4ter auf die Realschule oder das Gymnasium zu wechseln. Die Familie war unser gemeinsames Refugium: Wir sa\u00dfen gemeinsam in der Badewanne und shampoonierten uns gegenseitig ein, zelteten im Sommer, kloppten uns manchmal, verschworen uns gegen unsere Eltern, schliefen gemeinsam vor dem Fernseher ein. H\u00e4tte uns jemand nach Julis Teilhabe am famili\u00e4ren Leben gefragt, \u2013 wir h\u00e4tten ihm vermutlich den Vogel gezeigt.
Zur subjektiven gesellt sich die objektive Seite: Julis Behinderung hei\u00dft Lennox-Gasteau-Syndrom. Das ist eine Form fr\u00fchkindlicher Epilepsie, die bei Juli eine, so der Wissenschaftsjargon, geistige Retardierung, schwere Intelligenzminderung und autistische Z\u00fcge zur Folge hatte. Da die verbale Kommunikation beinahe vollst\u00e4ndig eingeschr\u00e4nkt ist, teilt sich Juli \u00fcber Gesten, Gesichtsausdr\u00fccke, Laute und Ber\u00fchrungen mit. Julian hat \u2013 um es in den Worten der Behindertenp\u00e4dagogik zu formulieren \u2013 in seiner Selbstpflege, Eigenversorgung und gesamten Alltagsbew\u00e4ltigung einen umfassenden Hilfebedarf, der zumeist stellvertretend oder begleitend \u00fcbernommen werden muss. Dies trifft auch auf Kontaktaufnahme, Kommunikation, Beziehungsgestaltung und Tagesstrukturierung zu.
Seit dem Mai 2016 wird Juli, der letztes Jahr 32 Jahre alt wurde, fast ausschlie\u00dflich von uns, das hei\u00dft von seiner Familie betreut. Abgesehen von einer einmal w\u00f6chentlich stattfindenden Reittherapie und gelegentlichen Wochenendfreizeiten der Offenen Hilfen e. V., gibt es keine externe Unterst\u00fctzung. Vonseiten derjenigen Einrichtung, die regional betrachtet f\u00fcr die Unterst\u00fctzung von Juli zust\u00e4ndig w\u00e4re, wird sein Recht auf Selbstbestimmung, aber vor allen Dingen sein Recht auf pers\u00f6nliche und freiz\u00fcgige Entfaltung grundlegend angegriffen. Aus Gespr\u00e4chen und Briefwechseln wird ersichtlich, dass Juli aus der ordnungspolitischen Perspektive der Behindertenhilfe meist nur als eines erscheint: als ein problematisches Objekt, das es mit den geringstm\u00f6glichen Mitteln zu verwalten gilt. Die Art und Weise, wie mit ihm umgegangen wird, kann als ein Beispiel f\u00fcr kapitalistische Landnahmen in der Behindertenpolitik angesehen werden. [1]
Was aber ist kapitalistische Landnahme?
Das Prinzip der kapitalistischen Landnahme
Aus den Schriften von Karl Marx und Rosa Luxemburg leitet sich das Konzept ab, wonach die kapitalistische Produktionsweise zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung st\u00e4ndig neue Inseln nichtkapitalistischer, gesellschaftlicher Formationen besetzen, in Land nehmen muss. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die kapitalistische Produktionsweise stets auf das Vorhandensein eines Au\u00dfen angewiesen bleibt, das sie in Besitz nehmen kann. Luxemburg hatte dabei vor allem Bereiche nichtkapitalistischer Produktion, also die ehemaligen Kolonien der imperialistischen Gro\u00dfm\u00e4chte, im Blick. In den 1960er-Jahren sollte der Gedanke der Landnahme aufgegriffen und von einigen feministischen Theoretiker*innen aus Bielefeld erkannt werden, dass sich diese nichtkapitalistischen Inseln auch im Inneren eines Wirtschaftssystems selbst befinden k\u00f6nnen. Als nichtkapitalistisch lassen sich ganz allgemein all diejenigen sozialen Formen oder Beziehungen bezeichnen, die sich nicht ma\u00dfgeblich durch den in Geldform vermittelten Warenaustausch bestimmen oder charakterisieren lassen. Nicht nur geht es also bei dem Begriff der Landnahme um die blo\u00dfe Inbesitznahme fremden Eigentums an Grund und Boden, obgleich auch dieses unmittelbare landgrabbing ein Ph\u00e4nomen unserer Zeit ist. Das auf Profitmaximierung angelegte Wirtschaften braucht vielmehr st\u00e4ndig neue Lohnarbeiter*innen, neue Konsumenten*innen, Dienstleistungen und andere Waren. Um sich zu verallgemeinern, kolonisiert es zwischenmenschliche Residuen.
Kommodifizierung der sozialen Arbeit
Das Landnahmetheorem diente einigen Theoretiker*innen als Erkl\u00e4rungsmodell f\u00fcr die postfordistischen, neoliberalen Entwicklungen der 1980er- und 1990er-Jahre, und hier im Besonderen f\u00fcr die grundlegenden Umw\u00e4lzungen der Bedingungen der Reproduktionsarbeit, das hei\u00dft der bei der Herstellung und Erhaltung von Leben verausgabten Arbeit. Zunehmend wurden die bis dahin unbezahlten Arbeiten des Haushaltens, der F\u00fcrsorge und Erziehung in einen bezahlten Sektor \u00fcberf\u00fchrt, der seitdem Care-Sektor genannt wird und sogenannte personenbezogene Leistungen unter sich versammelt. Ziel dieser neoliberalen Politiken war es, das Problem der sinkenden Produktivit\u00e4tsraten der 1960er- und 1970er-Jahre zu l\u00f6sen. Um die nach der fordistischen Prosperit\u00e4tsphase eintretende wirtschaftliche Stagnation auszugleichen, wurden neben vielerlei anderen Ma\u00dfnahmen vor allem Frauen in die Lohnarbeitsverh\u00e4ltnisse eines \u201eneuen\u201c Wirtschaftssektors der personenbezogenen Leistungen integriert.
Mit Care-T\u00e4tigkeiten sind Leistungen gemeint, die auf der Beziehung zwischen einem in welchem Sinn auch immer auf eine Leistung angewiesenen, hilfebed\u00fcrftigen und einem die Leistung tragenden, verantwortlichen Menschen gr\u00fcnden. Ein Gef\u00e4lle zwischen Betreutem und Betreuendem findet sich in jeder personenbezogenen Leistung: In Erziehung, Bildung, Pflege, medizinischer Behandlung oder Sterbebegleitung. Anders als etwa in der G\u00fcterproduktion sind Produktion und Konsumtion hier nicht durch einen vermittelnden Markt voneinander getrennt, sondern gehen in der Form einer zwischenmenschlichen Beziehung unmittelbar ineinander \u00fcber.
Menschen mit Behinderungen sind pr\u00e4destinierte Bezieher*innen von Care-Leistungen, das hei\u00dft bezahlten oder unbezahlten personenbezogenen Leistungen wie der Pflege, F\u00f6rderung oder Betreuung. Umbr\u00fcche in der \u00d6konomie von Pflegeleistungen wirken sich unmittelbar auf ihre Lebenssituation aus, da sie aufgrund k\u00f6rperlicher, psychischer oder sozialer Beeintr\u00e4chtigungen auf Pflegeleistungen angewiesen sind.
In \u00f6konomischer Hinsicht sind die bezahlten Sorget\u00e4tigkeiten ein produktivit\u00e4tsarmer Sektor [2], dessen Kosten sich im Vergleich zur Produktion von G\u00fctern stets vergr\u00f6\u00dfern. Weder wirft er in den meisten F\u00e4llen \u00fcberhaupt einen konkreten Ertrag ab, noch lassen sich die Prozesse der Pflege, Betreuung oder Erziehung beschleunigen oder zu standardisierten Abl\u00e4ufen gestalten. Dennoch wird versucht mittels einer effizienten Gestaltung, Vereinheitlichung und Zerlegung der Abl\u00e4ufe die Arbeit zu vereinfachen und zu beschleunigen, um Geld f\u00fcr das Personal einzusparen, das sich ohnehin im schlechtbezahltesten und in Hinsicht auf die Arbeitsstandards prek\u00e4rsten Sektor befindet: In den Institutionen der Behindertenhilfe f\u00fchrt der sozialpolitische Effizienzdruck zu einer Personalpolitik, die Befristungen der Arbeitsverh\u00e4ltnisse und Personaleinsparungen vorsieht. L\u00e4sst der befristete Arbeitsvertrag die Arbeitnehmer*in einerseits im Ungewissen \u00fcber das Fortbestehen ihrer Arbeit, verunm\u00f6glicht er andererseits jede engagierte Arbeit an einer stabilen, kontinuierlichen Beziehung mit der hilfebed\u00fcrftigen Person. Erschwert wird das gegenseitige Kennenlernen und die Aufmerksamkeit und Sorge um den jeweiligen Menschen mit Behinderung, wenn aufgrund von Personaleinsparungen Mehrfachbetreuungen notwendig werden, die die theoretisch festgelegten Betreuungsschl\u00fcssel [3] allt\u00e4glich \u00fcberschreiten.
Dem Stellenabbau im pflegerischen Bereich entspricht eine Aufbl\u00e4hung des Verwaltungsstabs, in dem sich Fallmanager*innen, Teamkoordinator*innen und B\u00fcrokaufleute \u00fcber Entwicklungsberichte und Zeugnisse von unbekannten Menschen beugen, mit denen sie selbst kaum je Zeit verbringen werden. Es werden sich hier und andernorts Checklisten f\u00fcr das sogenannte Qualit\u00e4tsmanagement beispielsweise der Pflegedienstleistungen in einem Wohnheim f\u00fcr Menschen mit Behinderung ausgedacht, deren Logik und Vokabular betriebswirtschaftlicher Art sind. Es wird an Betreuungsstandards, Pflegestandards, dem Anschein nach sogar an Standards der Zuneigung und Sorge get\u00fcftelt. K\u00f6nnen solche Standards vielleicht innerhalb der Produktion von Waren G\u00fcltigkeit beanspruchen, so berauben sie in Anwendung auf das Miteinander zweier Menschen beide ihrer Besonderheit. In dem Moment, da Typen von Dienstleistungen auf Typen von Behinderungen spezialisiert und anhand weniger Parameter qualitativ bewertet werden sollen, wird eine Beziehung von vornherein erschwert \u2013 ein Netz, das aus Zeit und M\u00fche gesponnen werden muss, um zwei Einzelne einander nahezubringen. Erst die Beziehung erm\u00f6glicht es, einen Zugang zu den Fragen, Unsicherheiten, Bed\u00fcrfnissen, Eigenarten, F\u00e4higkeiten des Anderen zu finden und diesem angemessen zu begegnen. Die Standardisierung der T\u00e4tigkeiten der Pflege und Betreuung jedoch gibt Handlungsmuster f\u00fcr den Umgang mit einem abstrahierten Gegen\u00fcber vor, die es nahelegen, sich auf den konkreten gar nicht erst einzulassen.
Welche Art der \u201eInklusion\u201c?
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird es nicht verwundern, dass auch das Verst\u00e4ndnis von Behinderung und die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen heute einer zunehmenden \u00d6konomisierung ausgesetzt sind. Es sind die Begriffe der Inklusion und des Empowerments sowie die Abl\u00f6sung des sogenannten medical model durch das social model, die sowohl von \u00f6ffentlich-politischer Seite als auch von den disability studies beworben werden und den gegenw\u00e4rtigen Diskurs stark beeinflussen. Bemerkenswerter Weise erwuchs dieser Diskurs just zu jener Zeit Mitte der 1990er, als sich die reale Exklusion schwer mehrfach geistig behinderter Menschen versch\u00e4rfte und sich die Behindertenpolitik zunehmend als Arbeitspolitik geb\u00e4rdete. Das, was in ihnen als emanzipatorisches Verst\u00e4ndnis von Behinderung anklingt \u2013, dass der Einzelne nicht behindert ist, sondern behindert wird! \u2013 wird dadurch faktisch korrumpiert.
Die Kritiken und Vorhaben der Behindertenbewegungen der 1960er Jahre wurden hierbei \u00e4hnlich wie in anderen Bereichen erfolgreich in den neuen Geiste des Kapitalismus (Boltanski) integriert und dar\u00fcber ihre eigentliche Absicht der Vergessenheit anheimgegeben. So wird heute an der Vielfalt der Instrumente, die es Menschen mit Behinderung nach ihrem Haupt- oder Sonderschulabschluss erm\u00f6glichen sollen, eine Arbeit zu finden, unter dem Motto der Inklusion flei\u00dfig get\u00fcftelt, ohne dass sich jemand dar\u00fcber emp\u00f6rt, dass durch diese Aktivierungsstrategien gerade diejenigen gesellschaftlichen Gruppen in den Verwertungskreislauf des Kapitals einbezogen werden sollen, die der fordistische Kapitalismus unter dem Titel \u201eKlassenkompromiss\u201c noch aus seiner Verwertungslogik freistellen konnte. Arbeit wird als der prim\u00e4re Ort der Inklusion begriffen, obwohl die heutige Arbeitsmarktsituation vor allem prek\u00e4re Arbeitsverh\u00e4ltnisse und geringes Einkommen verspricht. W\u00e4hrend die heutigen Werkst\u00e4tten f\u00fcr behinderte Menschen (WfbM) allem Anschein nach prim\u00e4r das Ziel der Eingliederung behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt verfolgen, waren die Werkstuben und Besch\u00fctzenden Werkst\u00e4tten in ihrer Gr\u00fcndungsphase in den 1970er Jahren noch auf der Suche nach einem neuen Verst\u00e4ndnis von Arbeit und einem Weg, das gemeinn\u00fctzige Prinzip dem betriebswirtschaftlichen \u00fcberzuordnen:
\u201eIn den Werkst\u00e4tten sollte sich eine neue Arbeit durchsetzen, eine Arbeit, die eng mit Bildung, Entwicklung und Freude verbunden ist, eine Arbeit als Mittel zum Zwecke der Pers\u00f6nlichkeitsf\u00f6rderung. Es sollte eine neue Gemeinschaft entstehen, die sich von den althergebrachten Hierarchien und Zw\u00e4ngen l\u00f6sen darf und kann, die den N\u00e4chsten nicht nach einem sozialen oder wirtschaftlichen Wert misst, der aus seiner Arbeitsf\u00e4higkeit und Arbeitsleistung resultiert. Der neue, der humanistische Ma\u00dfstab war die Akzeptanz der Ungleichheit Aller und der gleichzeitige Respekt vor der gleichen Menschenw\u00fcrde eines jeden einzelnen. [\u2026] In den Werkst\u00e4tten wollten wir eine konstruktive Gegenwelt verwirklichen, einen Lebensraum schaffen, der diesen Namen verdient.\u201c [4]
Gem\u00e4\u00df der Gesetzgebung des \u00a7 136 Abs. 2 SGB IX werden heute Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, die kein \u201eMindestma\u00df wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen\u201c k\u00f6nnen, aus den Werkst\u00e4tten f\u00fcr behinderte Menschen ausgegliedert und, insofern es das Budget und das regionale Angebot zulassen, in separate Tagesf\u00f6rderst\u00e4tten integriert. Nicht nur erfahren die Betroffenen dadurch materielle und rechtliche Nachteile, sondern \u00fcberdies h\u00e4ufig eine soziale Segregation und Herabw\u00fcrdigung zu der Gruppe der Behinderten, die allein unter dem Aspekt ihrer Erwerbsunf\u00e4higkeit betrachtet und zur Sondergruppe definiert werden. Die zunehmend unter \u00f6konomistischen Kriterien stattfindende Abwertung von Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen, die wie die Forschungen zur \u201eGruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit\u201c in Deutschland zeigen, in der Breite der bundesdeutschen Gesellschaft verankert sind, bestimmen auch das \u00f6ffentliche Meinungsbild im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen. [5] Die Behindertenhilfe darf sich nicht in die Gefahr begeben, dieser Auffassung Nahrung zu verschaffen. Dies geschieht etwa, wenn eine sich als Anw\u00e4ltin der Menschen mit Behinderung d\u00fcnkende Autorin in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschehen (23/2010) \u201eArbeitschancen\u201c mit \u201eLebenschancen\u201c gleichsetzt. [6]
Was aber wird nun jenen angeboten, die nicht \u201enutzbar\u201c gemacht werden k\u00f6nnen?
Juli \u2013 Inklusion durch \u201eEinschluss ins Zimmer\u201c?
Da die Pflege und Betreuung von Juli nicht l\u00e4nger im famili\u00e4ren Rahmen, insbesondere durch meine Eltern gew\u00e4hrleistet werden kann, aber auch, weil wir als Familie Juli das Recht einr\u00e4umen wollen, an au\u00dferfamili\u00e4ren Freundschaften und Gemeinschaften teilzuhaben, suchen wir seit Mai 2016 nach einer geeigneten Betreuung f\u00fcr ihn. Da Julis drei Schwestern und beide Elternteile seit Jahrzehnten im Bereich der Behindertenhilfe und Heilp\u00e4dagogik arbeiten, k\u00f6nnen wir unsere Vorstellungen f\u00fcr eine geeignete F\u00f6rderung und Betreuung sehr genau formulieren. Wir geh\u00f6ren also nicht zu denjenigen Familien, von denen es im Bundesteilhabebericht hei\u00dft, dass sie aufgrund ihres mangelnden Fachwissens eine reale Benachteiligung im Bereich der Betreuungs- und Pflegeangebote erfahren. Bei uns ist das Gegenteil der Fall.
Wir wandten uns daf\u00fcr an die regional n\u00e4chstgelegene Einrichtung f\u00fcr Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, die ev. Stiftung L., f\u00fcr die auch die Eltern von Juli als Heilerziehungspfleger*innen t\u00e4tig sind. 2016 traten wir in Gespr\u00e4che, mit den f\u00fcr eine Neuaufnahme zust\u00e4ndigen Sachbearbeiter*innen. Uns wurde versichert, dass man an einer \u201ekooperativen Zusammenarbeit\u201c in \u201ebeidseitiger konstruktiver Haltung\u201c und \u201eim Sinne von Julian\u201c interessiert sei. Aus den folgendem Schriftverkehr wird dann ersichtlich: Die Definitionsmacht dar\u00fcber, was \u201eim Sinne von Julian\u201c von Bedeutung w\u00e4re, sprechen die Vertreter*innen der Einrichtung allein sich selbst zu. So hie\u00df es mit einem Mal, ihr \u201efachlich erarbeitetes\u201c Angebot f\u00fcr Julian stelle keine \u201eVerhandlungsbasis\u201c dar, sondern sei \u201eunabdingbar\u201c. Die damit verbundenen Voraussetzungen m\u00fcssten von den Angeh\u00f6rigen, wollten diese nicht zu einem anderen Anbieter wechseln \u2013 alle Gespr\u00e4chsteilnehmer*innen wissen, dass es einen solchen Anbieter wohnortnah nicht gibt \u2013, hingenommen werden. In Zeiten von Bewegungen f\u00fcr das selbstbestimmte Leben behinderter Menschen, da in der Behindertenrechtskonvention Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion und nicht l\u00e4nger als psychische oder physische, nat\u00fcrliche Mangelerscheinigung definiert wird, scheint hier offensichtlich immer noch die Annahme vorzuherrschen, richtige Entscheidungen k\u00f6nnten nur von \u201eFachleuten\u201c getroffen werden. Doch, wo finden sich hier Julians Wunsch- und Wahlrecht, seine M\u00f6glichkeit der Partizipation und Selbstbestimmung?
Einige Aspekte des Angebots, das uns als \u201eunabdingbar\u201c unterbreitet wurde, m\u00f6chte ich beispielhaft herausstellen:
Da eine Unterbringung Julians aus Sicht der zust\u00e4ndigen Mitarbeiter*innen nur im Rahmen eines intensiv betreuten Wohnens (LIBW) m\u00f6glich w\u00e4re, in r\u00e4umlicher N\u00e4he jedoch der Arbeitsort von Julians Vater, einem Angestellten der ev. Stiftung L. liege, sei dessen Arbeitsplatzwechsel \u201ezwingend erforderlich\u201c. Bis heute liegt uns weder eine m\u00fcndliche noch eine schriftliche, konkrete Begr\u00fcndung dieser, vermeintlich, \u201ezwingend erforderlichen\u201c Ma\u00dfnahme vor. Die N\u00e4he zur Familie wird in Bezug auf die Unterbringung von Betroffenen in der Behindertenrechtskonvention als der Leitlinie der deutschen Behindertenhilfe als h\u00f6chste Priorit\u00e4t eingestuft. Unser Vater arbeitet seit \u00fcber 40 Berufsjahren auf einer Wohngruppe mit Menschen mit geistiger Behinderung. Nun soll er dort seine Beziehungen abbrechen, weil es sonst zur \u201eVermengung von Lebenswelten\u201c k\u00e4me, das hei\u00dft in anderen Worten: weil Juli ab und an seinem Vater begegnen w\u00fcrde?
Ferner erachtete die Stiftung L. es als notwendig, dass Julian f\u00fcr die Zeit, in der kein zus\u00e4tzliches Personal eine 1:1-Betreuung und -Aufsicht leisten k\u00f6nnen wird sowie im Falle von \u201eschlechtem Benehmen\u201c eine \u201egeschlossene Unterbringung im Zimmer\u201c erhalte. Einem Gespr\u00e4ch vom 8. August 2017 lie\u00df sich entnehmen, dass es sich dabei f\u00fcr Julian, der w\u00e4hrend seiner 32 Lebensjahre mit der Familie zu keinem Zeitpunkt in dieser Weise eingeschlossen wurde, um mehrere Tagesstunden t\u00e4glich handeln k\u00f6nnte.
Schlie\u00dflich wird eine \u201eTagesstruktur auf der Wohngruppe\u201c f\u00fcr sinnvoll gehalten, sodass es im regul\u00e4ren Alltag nicht vorgesehen sein soll, dass Julian den Wohnbereich verl\u00e4sst. Nicht nur Julians F\u00e4higkeiten etwa bei hauswirtschaftlichen T\u00e4tigkeiten im Freien zu helfen (W\u00e4sche ausfahren, M\u00fcll wegbringen, Laub b\u00fcndeln usw.), sondern auch sein starker Bewegungsdrang und seine Freude an Spazierg\u00e4ngen scheinen uns im Rahmen einer \u201eTagesstruktur auf der Wohngruppe\u201c keine Ber\u00fccksichtigung zu erfahren. Wo nicht einmal vorgesehen ist, den Wohnbereich zu verlassen, ist es auch weiter nicht erstaunlich, dass laut einer Statistik der Zeitschrift Teilhabe Menschen mit schwerer geistiger Behinderung in vollstation\u00e4ren Wohneinrichtungen neben dem Betreuungspersonal durchschnittlich nicht mehr als zwei bis drei Personen im Jahr zu Gesicht bekommen. [7]
Die ev. Stiftung L. gibt sich medial einen humanit\u00e4ren, karitativen Anstrich: Das Ziel aller Angebote sei die Verbesserung der Lebensqualit\u00e4t f\u00fcr Menschen mit Unterst\u00fctzungsbedarf; das christliche Menschenbild stifte die Orientierung f\u00fcr ihre Arbeit. Man k\u00f6nnte also denken, dass sie zumindest die M\u00e4ngel einer Leistungs- und Arbeitsgesellschaft kompensiert, wenn sie ihr auch nicht ideell die Stirn bietet; das hei\u00dft, dass sie eine Entlastung und F\u00f6rderung f\u00fcr jene Menschen bietet, die schwer geistig behindert sind und kein \u201eMindestma\u00df an gesellschaftlich verwertbarer Arbeitszeit\u201c (SGB) leisten k\u00f6nnen. Aber nicht einmal mehr als Opiat zur Behandlung der Symptome kann dieses Angebot fungieren. Vollends ist es selbst zum blo\u00dfen Symptom einer Gesellschaft geworden, die nach Integration schreit und ihr zeitgleich den eigenen Strukturbedingungen nach wesentlich im Wege steht.
Wo Inklusion durch den \u201eEinschluss im Zimmer\u201c geschaffen werden soll, muss der Mensch mit Behinderung um seiner Selbstbestimmung willen auf seiner Exklusion beharren \u2013 wir sollten ihm helfen, diese M\u00f6glichkeit neu in Land zu nehmen.
Das Bild ist von Herbert Z., mouth painter. Die Autorin ist per Email zu erreichen unter akin.helen@gmx.de.
Anmerkungen:
[1] Der Fokus meines Beitrags liegt auf dem Kollektiv der schwer mehrfach behinderten Menschen und den Formen ihrer Ausgrenzung und vernachl\u00e4ssigt daher andere Bereiche. Dass unter dem Titel Inklusion m\u00f6glicherweise auch Reformen eingebracht wurden, die f\u00fcr andere Gruppierungen der Menschen mit Behinderung von Vorteil waren, vernachl\u00e4ssige ich aus diesem Grund.
[2] Die Debatte dar\u00fcber ist lang und an dieser Stelle m\u00f6chte ich nur kurz festhalten, dass ich Care-Arbeit sowohl im unmittelbaren als auch im mittelbaren Sinne f\u00fcr eine wertsch\u00f6pfende Arbeit halte. Wo beispielsweise im Bereich der Reha-Medizin gearbeitet wird, werden ma\u00dfgeblich Arbeitskr\u00e4fte, die aufgrund von Arbeitsunf\u00e4llen oder Behinderung ausfielen, rehabilitiert. Folgt man Marx\u2019 Gleichung von Arbeitskraft = Ware f\u00fcr seine Definition von wertsch\u00f6pfender Arbeit, ist auch diese vermeintlich nur reproduktive Leistung eine Warenproduktion.
[3] Der Betreuungsschl\u00fcssel ist in Bereichen der Pflege und Betreuung eine Angabe \u00fcber die Anzahl der Personen, die f\u00fcr die Betreuung anderer Personen vorgesehen sind.
[4] Dieter Gr\u00f6schke, Arbeit, Behinderung, Teilhabe. Anthropologische, ethische und gesellschaftliche Bez\u00fcge, Kempten, 2011, S. 80.
[5] Vgl. Eva Maria Gro\u00df, Andreas H\u00f6vermann, \u201eDie Abwertung von Menschen mit Behinderung - Ein Element der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit im Fokus von Effizienzkalk\u00fclen\u201c, in: Behindertenp\u00e4dagogik. Vierteljahresschrift f\u00fcr Behindertenp\u00e4dagogik in Praxis, Forschung und Lehre und Integration Behinderter, 52(4) 2013, S.117-129.
[6] Lisa Pfahl, \u201eDrau\u00dfen vor der T\u00fcr. Die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderung\u201c, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 23, 2010, S. 33.
[7] Vgl. Annette Van der Putten, \u201eTausendf\u00fc\u00dfler \u2013 Erkenntnisse zur Unterst\u00fctzung von Menschen mit (sehr) schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen\u201c, in: Teilhabe 2018/2, S. 55-63.
Hintergrundliteratur:
Katharina Gundrum, \u201eDie Inklusionsdebatte im Kontext des aktivierenden Sozialstaats\u201c, in: Zeitschrift f\u00fcr Sozialp\u00e4dagogik, Heft 2, 2018, S. 138-149.
Klaus D\u00f6rre, \u201eDie neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus\u201c, in: Ders. et al., Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main, 2009, S. 21-86.
Tove Soiland, \u201eDas Theorem der Neuen Landnahme: Eine feministische R\u00fcckeroberung\u201c, in: Denknetz, Jahrbuch 2013, Z\u00fcrich, S. 99-118.