[Audio] \u201eEs ist eine Revolution des Mittleren Ostens\u201c \u2013 Gespr\u00e4ch zu feministischen K\u00e4mpfen
\n1000 kleine Revolutionen jeden Tag. So k\u00f6nnte die Zustandsbeschreibung unserer Welt sein, in der Frauen* tagt\u00e4glich K\u00e4mpfe auszufechten haben. Einmal j\u00e4hrlich, zum Internationalen Frauen*kampftag am 8. M\u00e4rz, werden wir daran erinnert oder erinnern uns selbst daran. Wir gehen auf die Stra\u00dfe, oder - wie vielleicht im letzten und in diesem Jahr vermehrt - werden mit kreativen Aktionen aktiv und versuchen, unseren Widerstand in die Welt hinauszutragen. Und das ist gut so. Es ist allerdings viel zu selten, dass die K\u00e4mpfe abseits dessen sichtbar werden - oft sind es nur Fragmente, die zu uns durchdringen. Aber letztlich k\u00e4mpfen wir immer wieder gegen dasselbe System, dieselben Strukturen - in der Lohnarbeit, im Privaten, in unserem politischen Umfeld. Den Bezugnahmen auf ausgefochtene K\u00e4mpfe, Errungenschaften, Erinnerungen und Erfahrungen wird oft zu wenig Raum gegeben - und damit auch dem Potenzial, sie weltweit zu verbinden. Nach wie vor gibt es aber ein Verst\u00e4ndnis von Revolution, das mit sehr maskulinen K\u00e4mpfern und martialischen Umst\u00fcrzen assoziiert wird. Dabei zeigen uns die klassenk\u00e4mpferischen, antirassistischen und antikapitalistischen Bewegungen der letzten Jahre ja vor allem eines \u00fcberdeutlich: Frauen* k\u00e4mpfen an vorderster Front mit, weil es sie in besonderem Ma\u00dfe betrifft, oder weil sie realisiert haben, dass der Widerstand notwendig auch ein feministischer sein muss. Weil f\u00fcr sie Feminismus zum Lebensalltag oder als \u00dcberlebensstrategie einfach dazugeh\u00f6rt.
1000 kleine Revolutionen jeden Tag. Das ist auch der Titel eines Beitrags, der genau vor zwei Jahren im re:volt magazine erschien. Es war ein sehr ausf\u00fchrliches Gespr\u00e4ch mit Teilnehmer*innen der feministischen Delegation \u201eGemeinsam k\u00e4mpfen\u201c, die sich zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Monaten in Rojava \u2013 dem Gebiet in Nord- und Ostsyrien \u2013aufhielten. Mit im Gep\u00e4ck hatten sie viele Fragen \u2013 und vermutlich noch mehr davon bei ihrer R\u00fcckkehr. Im kollektiven Prozess haben sie seitdem daran gearbeitet, ihre Erfahrungen \u00fcber den Aufbau der Selbstverwaltung, allem voran aber auch die Gespr\u00e4che mit den Frauen vor Ort niederzuschreiben. Entstanden ist dabei ein beeindruckender Sammelband, der k\u00fcrzlich im Verlag edition assemblage erschien. Das Buch tr\u00e4gt den Namen \u201eWir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord-und Ostsyrien. Widerstand und gelebte Utopien Band II\u201c. Die Frauenbewegung in Rojava ist eine wichtige Inspirationsquelle f\u00fcr die \u00dcberlegungen, was eine feministische Revolution bedeuten k\u00f6nnte. Jo vom re:volt magazine hat dar\u00fcber mit Anja, Clara und Olga gesprochen, die Teil des Herausgeber_innenkollektivs sind.
Im Folgenden sind zentrale Punkte des Gespr\u00e4chs zusammengefasst. Den Audiobeitrag mit dem Gespr\u00e4ch in voller L\u00e4nge k\u00f6nnt ihr hier h\u00f6ren:
Olga erinnert sich: \u201eAls das Buch schon fast fertig war, sind wir nochmal durchgegangen und haben in den Interviews nach einem passenden Zitat f\u00fcr den Titel gesucht. Wir haben dort den Satz \u201eWir wissen was wir wollen und was wir tun\u201c gefunden und fanden das sehr passend.\u201c Es ist ein Zitat von Medya Abdullah, von der Anja dann mehr erz\u00e4hlt: \u201eMedya Abdullah ist die Vertreterin der Selbstverteidigungskr\u00e4fte in Der\u00eek. Eine Frau, die acht Kinder hat, 50, 60 Jahre alt ist und die sagt: Mein Leben ist die Revolution. Ich bin gl\u00fccklich, in dieser Zeit zu leben! In einer Zeit, wo wir vielleicht denken, da ist Krieg, dort sind sehr schwierige Verh\u00e4ltnisse, die Menschen fliehen nach Europa. Und sie sagt: Ich bin gl\u00fccklich, in dieser Zeit zu leben und endlich die Tr\u00e4ume einer befreiten Gesellschaft, die wir ein Leben lang hatten, in die Praxis umzusetzen.\u201c
Kollektivit\u00e4t im Prozess
Der Austausch der feministischen Delegation mit den Genossinnen der Frauenbewegung in Rojava h\u00e4lt noch immer an. Das Buch ist daher auch eine Gemeinschaftsarbeit mit vielen Beteiligten aus Europa sowie aus Nord- und Ostsyrien. Texte wurden hin- und hergeschickt, Ideen und Anmerkungen nat\u00fcrlich, und immer wieder aktuelle Berichte aus der Region, die andauernden milit\u00e4rischen Angriffen, vor allem des t\u00fcrkischen Milit\u00e4rs und islamistischer Gruppierungen, ausgesetzt ist.
Als ich mit den drei \u00fcber die Intention des Bandes spreche, f\u00fchrt Anja aus: \u201eUns war es wichtig, die Akteurinnen der Revolution aufs Cover zu bringen, also die Frauen dort und nicht uns selbst. In vielen Medien wird der milit\u00e4rische Aspekt hervorgehoben, man sieht Guerilla-K\u00e4mpferinnen oder K\u00e4mpferinnen der YPG/YPJ. Uns war es wichtig zu zeigen, dass es vor allem auch die Zivilgesellschaft ist, die die Revolution tr\u00e4gt.\u201c Es gehe dem Herausgeber_innenkollektiv darum, die Geschichte der Frauenrevolution Rojavas aufzuschreiben, in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Clara f\u00fcgt hinzu: \u201eDie Frauen haben uns auch immer wieder gesagt: Verbreitet das! Es ist also unsere Aufgabe, das, was wir dort gelernt haben mit Menschen zu teilen. Es ist also weniger 'Wir geben denen eine Stimme!', als dass sie uns die M\u00f6glichkeit gegeben haben, mit ihren Geschichten zu lernen und die Geschichten weiterzutragen.\u201c
Die Auseinandersetzungen mit den Geschichten der Frauen in Rojava wurden in einem anderen Interview ein \u201ekollektiv erk\u00e4mpfter Erfahrungsschatz\u201c genannt. Ich fand das sehr passend und habe die drei nach ihren \u00dcberlegungen zu Kollektivit\u00e4t gefragt.
\u201eMorgens zusammen aufstehen, zusammen fr\u00fchst\u00fccken, saubermachen, zusammen die Planung machen, auch Essen wurde immer abwechselnd f\u00fcr alle gekocht\u201c, beschreibt Olga das Zusammenleben auf der Delegationsreise und stellt dabei insbesondere die gemeinsamen Routinen f\u00fcr Kritik und Selbstkritik heraus: \u201eWichtig f\u00fcr das kollektive Zusammenleben war auch ein regelm\u00e4\u00dfiger Rahmen, in dem das Zusammenleben kritisiert werden kann, oder man sich selbst kritisieren kann. Das ist Kritik mit einer gemeinsamen Perspektive: Wir sind gepr\u00e4gt von einem patriarchalen, kapitalistischen System und wollen dahingehend unsere Verhaltensweisen \u00e4ndern. Wie wirkt es sich auf unser Zusammenleben aus, und was hei\u00dft das dann auch in der pers\u00f6nlichen Ver\u00e4nderung.\u201c Das bedeute auch, Kollektivit\u00e4t \u201enicht nur als die Schaffung eines kollektiven Rahmens zu begreifen, mit den Leuten, mit denen ich mich organisiere. Sondern dass wir nur Gesellschaft ver\u00e4ndern, wenn es die Grenzen, die es in der Gesellschaft gibt \u2013 die mich zum Beispiel fernhalten von Leuten, mit denen ich weniger eine Realit\u00e4t teile \u2013 auch aufbricht.\u201c Kollektivit\u00e4t, merkt Clara an, hat auch viel mit der Bereitschaft zu tun, voneinander zu lernen: \u201eVon K\u00e4mpfen, die bereits stattgefunden haben, K\u00e4mpfe, die gerade stattfinden. Und auch dort \u00fcber die eigene Region hinwegzukucken und zu fragen: Welche Fragen stellt man, aus welcher Perspektive kuck ich \u2013 und diese auch aktiv zu ver\u00e4ndern.\u201c
Insofern k\u00f6nnen wir, das machen alle drei Gespr\u00e4chspartnerinnen* deutlich, von diesen Formen der Kollektivit\u00e4t und Organisation viel dazulernen, weil sie sich damit in fokussierter Form gegen das Herrschafts- und Ausbeutungssystem wehren, dass es weltweit gibt. Auch f\u00fcr uns im Zentrum Europas sind kollektive Strukturen \u00fcberlebenswichtig, nur sind sie in unseren hoch individualisierten Gesellschaften oft nicht so direkt sichtbar. Olga beschreibt ihren Eindruck: \u201eHier, in Berlin, wirkt der politische Kampf oft als etwas, was man nebenbei macht, nicht aber als Notwendigkeit gegen dieses System, das uns einfach kaputt macht. Es ist dasselbe System, das letztendlich auch Rojava versucht kaputt zu machen. Um diesen Kampf gemeinsam zu k\u00e4mpfen, m\u00fcssen wir viel globaler denken und die Angriffe, die es auf Rojava gibt, auch auf uns beziehen.\u201c
\u201eDie Revolution kommt nicht mit einem Knall und ist dann da\u201c
Clara macht deutlich, dass es in der Revolution die Bereitschaft braucht, sich andauernd grundlegende Fragen zu stellen: \u201eUnd sich auch immer wieder zu erneuern. Da haben wir viel dazugelernt. Wir sehen: Klar, es gibt diese Herausforderungen, und die gibt es auch in anderen Teilen der Welt, weil wir eine sehr staatlich gepr\u00e4gte Gesellschaftsform haben. Dort herauszukommen, das wurde uns bewusst, das dauert einfach lange. Es ist ein Prozess. Jeden Tag m\u00fcssen wir ein St\u00fcck schauen, und jeden Tag m\u00fcssen wir auch daran arbeiten. Das hei\u00dft, in uns, miteinander und uns gegenseitig aufmerksam machen in den Strukturen. Wir haben gemerkt: Das sind Fragen, die werden immer wieder pr\u00e4sent sein. Wir haben keine anderen Antworten gefunden darauf, w\u00fcrde ich sagen. Aber andere Umg\u00e4nge mit den Fragen: Es sind Fragen, die d\u00fcrfen da sein, und die m\u00fcssen auch da bleiben. Das haben uns auch vor allem die Frauen gezeigt, mit denen wir Interviews gef\u00fchrt haben. Damit man auch in der Revolution, wenn man denkt: Oh, jetzt grade l\u00e4uft es doch ganz gut! \u2013 dass man dann trotzdem sagt, ne, lass uns das anschauen, lass schauen, was nicht so gut l\u00e4uft und eine Bereitschaft dazu haben, miteinander immer weiter zu wachsen, und nicht aufzuh\u00f6ren. Nicht an einem Punkt zu sagen, okay, jetzt ist alles entspannt, jetzt chillen wir. Sondern eher immer weiter dranzubleiben.\u201c
Anja erg\u00e4nzt: \u201eWas wir oft f\u00fcr ein falsches Verst\u00e4ndnis von Revolution haben; im Sinne, dass man irgendwo reingeht, alles umschmei\u00dft und damit etwas Neues erschafft. Doch so funktioniert das nicht. Wir tragen ja die staatlichen Strukturen noch in uns. Die loszuwerden ist ein langer Kampf, ebenso wie der Kampf, Neues aufzubauen. Die Revolution kommt nicht mit einem Knall und ist dann da. Revolution ist etwas, was durch eine langj\u00e4hrige, kontinuierliche Arbeit aufgebaut wird.\u201c In Bezug auf die Region Nord- und Ostsyrien macht Anja zudem eine weitere wichtige Anmerkung, die auch die Verbundenheit der K\u00e4mpfe sichtbar macht: \u201eIm Buch kommen auch viele arabische Frauen zu Wort, nicht nur kurdische Frauen. Vielleicht wird die Revolution hierzulande in erster Linie als eine kurdische Revolution wahrgenommen, das ist aber \u00fcberhaupt nicht der Fall. Inzwischen ist der Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung in der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien nicht kurdisch, sondern arabisch. Und auch fl\u00e4chenm\u00e4\u00dfig sind die meisten D\u00f6rfer und St\u00e4dte, die dort in der Selbstverwaltung sind, \u00fcberwiegend arabisch bewohnt. Es ist also nicht eine kurdische Revolution in erster Linie, sondern eine Revolution des mittleren Ostens.\u201c
\u201eFeminismus ist kein Teilbereichskampf\u201c
Mit Bezug auf den Internationalen Frauen*kampftag frage ich, was die Erfahrung in Rojava und die Auseinandersetzung mit den K\u00e4mpfen den drei f\u00fcr die feministischen K\u00e4mpfe weltweit mitgegeben hat. Anjas Antwort ist kurz und knapp: \u201eDiese Entschlossenheit, \u00fcber Jahrzehnte zu k\u00e4mpfen. Oder auch einen sicheren Ort zu verlassen, um dort einen Teil der Revolution zu sein. Da k\u00f6nnen wir uns eine Scheibe von abschneiden.\u201c Olga f\u00fchrt aus, dass es wichtig ist, \u201edass wir Feminismus nicht als ein Teilbereichskampf sehen, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Utopie. Also dass es nicht nur ein Kampf ist gegen die sexistischen Zust\u00e4nde und bestimmte Probleme, gegen die wir Abwehrk\u00e4mpfe f\u00fchren. Sondern f\u00fcr eine antipatriarchale, befreite Gesellschaft." Und das schlie\u00dfe eben ganz viele Lebensbereiche mit ein: \u201eWas hei\u00dft es, aus einer Perspektive der Frauenbefreiung, ein Gesundheitssystem aufzubauen oder eine Wirtschaft oder ein Bildungssystem oder Kultur und Medien und so weiter? Das ist nicht nur eine Frage f\u00fcr Frauen, Lesben, Trans, Inter (FLINT), sondern f\u00fcr alle. Trotzdem m\u00fcssen wir uns als FLINT autonom organisieren und unsere Themen voranbringen \u2013 aber darin eine gesamtgesellschaftliche Perspektive st\u00e4rken und in feministischen K\u00e4mpfen gesellschaftlichere Ans\u00e4tze entwickeln\u201c.
Anmerkungen
Das Herausgeber_innenkollektiv reiste als feministische Delegation der Kampagne \u201eGemeinsam K\u00e4mpfen\u201c im Winter 2018/19 von Deutschland aus in die nord- und ostsyrischen Gebiete, um das basisdemokratische Projekt Rojava besser kennenzulernen.
Der Band \u201eWir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord-und Ostsyrien. Widerstand und gelebte Utopien Band II\u201c erschien im Februar 2021. Auf der Webseite des Verlags edition assemblage gibt es weitere Informationen dazu sowie die M\u00f6glichkeit, den 560 Seiten\u2013W\u00e4lzer direkt zu bestellen. Der Band ist die Fortsetzung des Werks \u201eWiderstand und gelebte Utopien\u201c, das 2012 im mittlerweile verbotenen Mezopotamien Verlag erschien. Im ersten Band lag der Fokus auf Nordkurdistan.