Im Zuge der Debatten um \u201eNeue Klassenpolitik\u201c und die Frage, wie eine revolution\u00e4re Stadtteilarbeit organisiert werden kann, m\u00f6chten wir als \u201eH\u00e4nde weg vom Wedding\u201c unseren politischen Beitrag leisten. Wir wollen nachfolgend unsere bisherige Arbeit kritisch reflektieren und unsere L\u00f6sungsstrategien damit zur Diskussion stellen. Als Grundlage diente uns in einzelnen Diskussionspunkten unter anderem der Text von Geronimo Marulanda, der im April 2018 im re:volt-Magazine ver\u00f6ffentlicht wurde. Der nun von uns vorgelegte Text soll anregen, die eigenen Strukturen politisch zu hinterfragen und Ideen f\u00fcr m\u00f6gliche Strukturdebatten und Ver\u00e4nderungsprozesse geben.
Seit 2012 sind wir als Gruppe, Nachbar*innen (meist mit politischer Vorerfahrung) aus und um den Berliner Stadtteil Wedding, organisiert. Unser geteilter Schwerpunkt liegt auf der lokalen Realisierung antikapitalistischer und revolution\u00e4rer Politik. Nach langen Erfahrungen in der politischen Arbeit in unseren Kiezen wollen wir die engen Grenzen unserer bestehenden Organisation \u00fcberwinden. Unser Ziel ist, sowohl Nachbar*innen, als auch politische Unterst\u00fctzer*innen aktiver einzubinden und die Basis f\u00fcr eine revolution\u00e4re Stadtteilarbeit zu verbreitern. Dabei ist es an uns als linke Bewegung, klassenk\u00e4mpferische Politik von unten zu st\u00e4rken. Wie kann das funktionieren?
Problemaufriss
Wir sehen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen, beispielsweise durch die immer st\u00e4rker werdende (au\u00dfer-)parlamentarische Rechte, sowie die repressiven Ma\u00dfnahmen des Staates gegen linke Bewegungen, unsere Handlungsspielr\u00e4ume zunehmend einengen. Beide kriminalisieren (nicht \u00fcberraschend) revolution\u00e4re Inhalte. Gesellschaftliche Vorstellungen eines Bruches mit den gegebenen Verh\u00e4ltnissen werden immer mehr an den Rand gedr\u00e4ngt. Als Gegenstrategie setzen wir auf Stadtteilk\u00e4mpfe, beispielsweise gegen steigende Mieten, neoliberalen Stadtumbau, Patriarchat und nationalistisch-rassistische Ausgrenzungen als zentrale Aktionsfelder. Wir nennen diese nachfolgend \u201eKampffelder\u201c. Die kapitalistischen Zuspitzungen um Miete und (Wohn-)Eigentum mobilisieren viele Menschen in den Kiezen und bieten einen starkes Potenzial f\u00fcr linke, antikapitalistische Gegenentw\u00fcrfe in einer Stadt wie Berlin. Doch in der politischen Arbeit mit Interessierten kamen wir regelm\u00e4\u00dfig an unsere Grenzen. Dabei standen wir uns mit unserer bisherigen Organisationsform h\u00e4ufig selbst im Weg.
In den vergangenen Jahren haben wir die klassischen, fast schon naturgem\u00e4\u00dfen Problemlagen eines post-autonomen Zusammenschlusses immer wieder durchlebt. Die politische Verfasstheit der Gruppe h\u00e4ngt gro\u00dfteils vom individuellen Bezug zur politischen Arbeit, der Qualit\u00e4t eigener politischer Bildung, der emotionalen und freundschaftlichen Bez\u00fcge zueinander, sowie den zeitlichen Kapazit\u00e4ten ab. Neben der starken Fluktuation der personellen Zusammensetzung und des politischen Engagements der Einzelnen stand, neben vielen anderen Hindernissen, das Fehlen einer klaren politische Linie und einer sich daraus ergebenden Strategie. Die politische Handlungsf\u00e4higkeit ist somit starken Konjunkturen unterworfen. Die Kontinuit\u00e4t und Verbindlichkeit des politischen Arbeitens sind nicht immer gew\u00e4hrleistet.
Zudem war die aktive Teilnahme an der Gruppe und ihren Prozessen jenseits \u00f6ffentlicher Veranstaltungen, die auf eine kurzweilige und unverbindliche Mobilisierung von Menschenmassen abzielten, wie zum Beispiel Demonstrationen, Kundgebungen und Informationsveranstaltungen, meist schwer m\u00f6glich. Dabei gingen viele M\u00f6glichkeiten der politischen Vernetzung und des personellen Aufbaus verloren. Zu exklusiv ist unsere Organisierung, die geschlossen nach au\u00dfen auftritt und dadurch selten ansprechbar ist. Durch das Leben einer \u201elinksradikalen Subkultur\u201c, scheuen viele von uns die reale Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Widerspr\u00fcchen. Stattdessen setzen wir uns in dieser ausweglos erscheinenden Subkultur h\u00e4ufig selbstreferenziell, gewollt oder ungewollt, mit \u201eSzenedebatten\u201c auseinander. Inhalte und Diskussionsformen unserer Organisationsform, wie beispielsweise akademisierte Sprache, ausufernde Plenarsitzungen und eine \u00dcberbetonung der eigenen, individuellen Meinung stellen weitere Hemmnisse dar. Die Anschlussf\u00e4higkeit f\u00fcr Menschen, die nicht Anfang bis Ende 20 und ungebunden sind, im besten Fall aufgrund eines Studiums \u201eZeit haben\u201c, sind schlichtweg nicht gegeben.
Dabei dr\u00e4ngt uns der sich versch\u00e4rfende gesellschaftliche Faschisierungsprozess dazu, unsere Inhalte gegen\u00fcber der Gesellschaft deutlicher kommunizieren und vermitteln zu m\u00fcssen. Dazu z\u00e4hlt unter anderem, soziale Fragen und K\u00e4mpfe konsequent von links zu besetzen. Es gilt, den Spagat zwischen dem taktischen Aushalten von gesellschaftlichen Widerspr\u00fcchen einerseits und zeitgleich dem konsequenten Eintreten gegen beispielsweise rassistische und sexistische Positionen andererseits zu schaffen. Hier sollte beispielsweise nicht jedem*r Nachbar*in direkt \u00fcber den Mund gefahren werden, wenn sich sexistisch ge\u00e4u\u00dfert oder rassistische Vorurteile formuliert werden, sondern vielmehr einen Beziehungsaufbau erm\u00f6glicht werden, um diese Widerspr\u00fcche schrittweise zu verhandeln. Es gilt aber auch klar gegen bereits gefestigte chauvinistische Positionen und Weltbilder einzutreten, sowohl in eigenen Strukturen, als auch bei unseren Nachbar*innen und B\u00fcndnispartner*innen.
Das (alleinige) Einfordern einer \u201eOrganisierung von unten\u201c, zum Beispiel \u00fcber Demonstrationen und Redebeitr\u00e4ge, schafft noch keine organisatorischen Strukturen f\u00fcr eine breite Bewegung im Kiez. Dabei mangelt es sogar immer mehr an ausreichend physischen R\u00e4umen f\u00fcr eine solche Organisierung. Aus dieser Analyse heraus entwickelten wir mit anderen Gruppen und Engagierten die Idee eigener R\u00e4ume f\u00fcr die politische Praxis. Mit dem Aufbau des \u201eKiezhaus Agnes Reinhold\u201c haben wir es schlie\u00dflich gemeinsam geschafft, linker Politik im Wedding einen Raum zu geben.
Organisieren\u2026
Als Arbeitsgrundlage wurde eine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen im Wedding vorgenommen. Daraus entstanden vier strategisch gleichwertige Kampffelder, deren Bearbeitung wir als bedeutend f\u00fcr die \u00dcberwindung der gesellschaftlichen Verh\u00e4ltnisse insgesamt betrachten:
- Mietenk\u00e4mpfe
- Feminismus
- Arbeitsk\u00e4mpfe
- Kampf gegen Faschismus und Rassismus / Antifaschismus
Diese aktuellen Kampffelder k\u00f6nnten bei zunehmendem Organisierungsgrad um Themen wie \u00d6kologie, Jugend und so weiter erweitert werden. In den Kommissionen (Arbeitsgruppen), die sich um die genannten vier Kampffelder gruppieren, werden Inhalte, Strategie und Taktik revolution\u00e4rer Stadtteilarbeit diskutiert und umzusetzen versucht. Dies bedeutet konkret, dass sich \u201eH\u00e4nde weg vom Wedding\u201c \u00f6ffnet und f\u00fcr den Aufbau dieser Kommissionen verantwortlich ist. Die Kommissionen bestehen aus den im jeweiligen Kampffeld aktiven Personen, die eine Verbreiterung der Organisierung und die Verkn\u00fcpfung der Kampffelder unter der Struktur \u201eH\u00e4nde weg vom Wedding\u201c als sinnvoll erachten. Dabei stehen Fokussierung auf das entsprechende Politikfeld, sowie Verbindlichkeit im Vordergrund. Die Aufgabe dieser Verantwortlichen ist es, K\u00e4mpfe zu initiieren, zu vernetzen und zu b\u00fcndeln. Hierf\u00fcr k\u00f6nnen sie auf die Ressourcen und Kontakte der Gesamtstruktur \u201eH\u00e4nde weg vom Wedding\u201c zur\u00fcckgreifen. Aus den Kommissionen werden offene Angebote zur Partizipation an der politischen Praxis geschaffen. Dies kann \u00fcber offene Treffen, regelm\u00e4\u00dfige Veranstaltungen oder Beteiligung an konkreten K\u00e4mpfen umgesetzt werden. Angebote dieser Art dienen als politische Vorfeldorganisationen. Sie schaffen erste praktische Zug\u00e4nge zu Themen und Praxen, bringen Menschen zusammen, politiseren sie und machen sie handlungsf\u00e4hig. Somit werden niedrigschwellige Zug\u00e4nge zur politischen Selbsterm\u00e4chtigung geschaffen. Idealerweise festigen sich dar\u00fcber Personen politisch und werden Teil der verantwortlichen Struktur \u201eH\u00e4nde weg vom Wedding\u201c.
Die Kommissionen w\u00e4hlen jeweils Delegierte (Kommissionsverantwortliche), die in einem Rat (Kerngruppe) die strategischen Linien in den jeweiligen Kampffeldern diskutieren und als Anregung an die Kommissionen wieder zur\u00fcckgeben. Die Verantwortlichen vertreten ausschlie\u00dflich die Interessen, Ideen und Beschl\u00fcsse ihrer Kommissionen auf verbindliche Weise im Rat (imperatives Mandat). Somit tritt die Formulierung von kollektiven Interessen und kollektive Arbeitsprozesse in den Vordergrund. Individualistische Positionen in den Kommissionen verlieren gleichzeitig an Gewicht. Alle interessierten Personen diskutieren in den Kommissionen, w\u00e4hrend durch die Kommissionsverantwortlichen Verl\u00e4sslichkeit und Verbindlichkeit gegeben ist. Das Ziel ist sowohl die Herstellung eines Minimalkonsens, als auch der stetige Ausbau politischer Positionen und Arbeit.
Der Rat ist das Organ f\u00fcr die Besprechung von Strategie und Taktik. Hier werden Vorschl\u00e4ge f\u00fcr die politische Theorie und Praxis entwickelt und an die Kommissionen weitergereicht. Die im Rat sitzenden Verantwortlichen werden dabei durch regelm\u00e4\u00dfige Wahlen in ihren Kommissionen demokratisch legitimiert, oder wieder abberufen. Sie m\u00fcssen stets das Vertrauen und die Verl\u00e4sslichkeit der Mitstreiter*innen ihrer Kommissionen genie\u00dfen. Der Rat fungiert somit als Ort intensiver inhaltlicher Debatten und erf\u00fcllt gleichzeitig inhaltliche, sowie strukturelle Verantwortung gegen\u00fcber allen Mitgliedern der Gruppe und dem aktiven Umfeld. Der Rat schafft damit eine m\u00f6glichst feste und sichere Organisation f\u00fcr alle Beteiligten bei gleichzeitiger Dynamik und Autonomie in den Kommissionen.
Die Aufgabe des Rates besteht au\u00dferdem darin, regelm\u00e4\u00dfige Bildungsangebote zu den verschiedenen Kampffeldern zu organisieren und durchzuf\u00fchren, um eine gemeinsame Reflexion und Diskussion zu erm\u00f6glichen. Bildung wird als fester und wichtiger Bestandteil der kollektiven Entwicklung verstanden. Durch kollektive statt individueller Bildung arbeiten wir an einer solidarischen Debattenkultur und breiter Strategiebestimmung. Diese soll m\u00f6glichst viele Teile der ausgebeuteten Klassen in unseren Kiezen einbeziehen. Neben der Etablierung offener, themenbezogener Angebote, stellt die regelm\u00e4\u00dfig stattfindende kommissionsinterne Vollversammlung ein wichtiges Organ dar. Eingeladen sind alle Kommissionsmitglieder, sowie das direkte politisch-aktive und interessierte Umfeld. Hier werden gemeinsame Bez\u00fcge zwischen den Kommissionen geschaffen. Im Vordergrund stehen in diesem Organ die Vorstellung der jeweiligen politischen Arbeit und deren Widerspr\u00fcche, das gegenseitige Kennenlernen, die \u00dcbung solidarischer Kritik und Selbstkritik an Inhalten und Vorgehensweisen, sowie politische Vorschl\u00e4ge gegen\u00fcber dem Rat.
\u00dcber den Tellerrand schauen\u2026
Dabei w\u00e4re es falsch, es sich in der eigenen Arbeit im eigenen Kiez gem\u00fctlich zu machen und andere K\u00e4mpfe dar\u00fcber hinaus zu ignorieren. Vielmehr bedarf es auch einer globalen Perspektive lokaler Arbeit: eine internationalistische und antiimperialistische Ausrichtung der eigenen Arbeit, sowie eine Anbindung an gr\u00f6\u00dfere revolution\u00e4re Organisierungsprozesse, die den Aufbau von R\u00e4testrukturen anstrebt sind essenziell.
Die Folgen kapitalistischer Krisen und Kriege werden als Fluchtbewegungen in unsere St\u00e4dte auch in unseren Kiezen sichtbar. Gleiches gilt f\u00fcr die Pr\u00e4senz von z.B. Fluchtverursacher*innen, wie der R\u00fcstungsindustrie. Daher suchen wir den Austausch und die Vernetzung mit fortschrittlichen Vereinen, Initiativen und Aktiven, die sich hier vor Ort engagieren. Wir wollen von revolution\u00e4ren Bewegungen und fortschrittlichen K\u00e4mpfen weltweit lernen. Ihre Erfahrungen in der Organisierung von Gesellschaften kann als wichtiger Wissens- und Inspirationsquelle dienen. Nicht zuletzt die praktische Erfahrungen mit Halkevleri (Volksh\u00e4user) in der T\u00fcrkei, oder von TEV-DEM (Bewegung f\u00fcr eine demokratische Gesellschaft) in Rojava haben uns zum Aufbau des \u201eKiezhaus Agnes Reinhold\u201c inspiriert.
... und K\u00e4mpfen!
Mit diesem skizzierten organisatorischen Transformationsprozess zu einer transparenteren, demokratischeren und handlungsf\u00e4higeren Struktur m\u00f6chten wir eine organisatorische Antwort auf die dr\u00e4ngenden gesellschaftlichen Erfordernisse bieten. Wir werden weiterhin unsere praktischen Erfahrungen und Reflektionen sammeln und zur Diskussion stellen. Gleichzeitig hoffen wir auf eine Vielzahl \u00e4hnlicher Projekte und Organisierungsans\u00e4tze in anderen St\u00e4dten und Kiezen. Wir brauchen wirkm\u00e4chtige Organisationsformen, die linke K\u00e4mpfe greifbarer und vermittelbarer machen. Wir freuen uns auf breite kollektive K\u00e4mpfe f\u00fcr eine Gesellschaft jenseits von Ausbeutung und Ausgrenzung.
Weiterf\u00fchrende Informationen
http://haendewegvomwedding.blogsport.eu
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https://www.kiezhaus.org
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