Protestieren wie in Algier
\nAm 8. Mai 1945 besiegten die Alliierten Nazi-Deutschland und der Zweite Weltkrieg ging zu Ende. In vielen L\u00e4ndern Europas wird der Tag der Befreiung vom Faschismus bis heute gefeiert. In Frankreich gilt der 8. Mai auch gleichzeitig als Moment der Konstruktion einer nationalen Identit\u00e4t: \u201eViele Franzosen sind f\u00fcr den Frieden in Europa gestorben\u201c wird etwa die Fernseh\u00fcbertragung der diesj\u00e4hrigen Gedenkfeier und der Besuch des Pr\u00e4sidenten Emmanuel Macron vor der Statue von General De Gaule in Paris kommentiert. Dort haben sich Staats- und Armeevertreter*innen f\u00fcr die Feierlichkeiten zusammengefunden.
Zur gleichen Zeit versammeln sich bei der Porte d'Aix in Marseille rund 200 Menschen zu einer etwas anderen Gedenkfeier: W\u00e4hrend Europa vom Nazi-Faschismus befreit wurde, blieb Algerien \u2013 sowie viele weitere L\u00e4nder Afrikas \u2013 weiterhin der franz\u00f6sischen Kolonialherrschaft unterworfen. Das Ende des Zweiten Weltkrieges h\u00e4tte auch f\u00fcr sie eine Befreiung sein sollen. \u00dcber 135.000 algerische Soldaten k\u00e4mpften zwischen 1942 und 1945 als Fremdenlegion\u00e4re auf der Seite der Alliierten gegen deutsche Soldaten. \u201eDen Algerier*innen wurde die Unabh\u00e4ngigkeit und die R\u00fcckgabe ihres Landes versprochen, falls sie mit den Franzosen in den Krieg ziehen w\u00fcrden\u201c, so der algerische Aktivist Aziz Bensadek des front uni des immigrations et des quartiers populaires [Einheitsfront der Immigration und der popularen Quartiere, Anm. MC] am Mikrofon.
Doch die Geschichte ging anders aus: Als am 8. Mai die Algerier*innen auf die Stra\u00dfen gingen, um das Ende des Krieges und die erhoffte Unabh\u00e4ngigkeit Algeriens zu feiern, schossen franz\u00f6sische Soldaten auf sie, weil sie algerische Flaggen mit sich trugen. Innerhalb von 20 Tagen wurden nach US-amerikanischen Dokumenten 40.000 Algerier*innen, vor allem in den ostalgerischen St\u00e4dten Setif, Guelma und Kherrata, gefoltert und get\u00f6tet. Der franz\u00f6sische Staat hingegen spricht von maximal 1.000 Toten, das Massaker an die Algerier*innen wird heute immer noch nicht anerkannt. Der 8. Mai 1945, so beschreibt es Bensadek, sei ein Wendepunkt f\u00fcr den politischen Kampf in Algerien gewesen: \u201eNach dem nicht eingehaltenen Versprechen der Unabh\u00e4ngigkeit verstand die algerische Bev\u00f6lkerung, dass der friedliche Weg der Integration eigentlich keinen Weg der Befreiung darstellte. Im Mai 1945 wurde die Perspektive des bewaffneten Befreiungskrieges geboren.\u201c
An der Gedenkfeier nehmen einige wichtige Gesichter teil, die sich noch immer unerm\u00fcdlich f\u00fcr die Freiheit und Unabh\u00e4ngigkeit Algeriens einsetzen \u2013 zwischenzeitlich aus der Diaspora. F\u00fcr sie ist nicht nur die Gedenkfeier ein Anlass, auf die Stra\u00dfe zu gehen, sondern auch die Solidarit\u00e4t mit den derzeitigen Protesten in Algerien, die den alten Kampf um Freiheit und Demokratie in Algerien wieder neu aufflammen lassen.
Die Stimme der Diaspora
Die Anfang diesen Jahres ausgebrochenen politischen Proteste in Algerien l\u00e4uteten einen Wendepunkt f\u00fcr die Algerier*innen ein: Zum ersten Mal nach der Befreiung vom Kolonialismus 1962 gehen die Menschen massenweise, friedlich und im ganzen Land auf die Stra\u00dfe, um einen radikalen Wandel zu fordern. Das weckt auch in der algerischen Diaspora alte wie neue Tr\u00e4ume und Hoffnungen. Sabrina Chebbi, eine 31-j\u00e4hrige Dokumentarfilmemacherin algerischer Herkunft, die an der Gedenkfeier teilnimmt, kam als vierj\u00e4hriges Kind zu Beginn der d\u00e9cennie noire, dem algerischen B\u00fcrgerkrieg der 1990er Jahre, mit ihrer Familie nach Frankreich. \u201eF\u00fcr mich kommt es heute nicht in Frage, nach Algerien zur\u00fcckzukehren\u201c, erz\u00e4hlt sie. \u201eDoch mein Vater, ein Aktivist der berberischen Kulturbewegung MCB [Mouvement Culturel Berb\u00e8re, Anm. MC] wollte schon vor f\u00fcnf Jahren in die Kabylei zur\u00fcckkehren. Die Revolution hat diesen Wunsch noch verst\u00e4rkt.\u201c
Nun entdeckt auch Chebbi dank dem algerischen Hirak, wie die soziale Bewegung bezeichnet wird, eine M\u00f6glichkeit, eine Br\u00fccke zwischen den zwei Ufern des Mittelmeeres zu bauen: \u201eIch versp\u00fcre vermehrt die Lust und eine gewisse Dringlichkeit, mich wieder meiner Kultur und meiner Sprache anzun\u00e4hern. Dank der Revolution bin ich wieder daran, mir die Sprache anzueignen und mich \u00fcber mein Herkunftsland zu informieren.\u201c Chebbi engagiert sich in der antikolonialen Bewegung von Marseille, die f\u00fcr sie eine Form der Solidarit\u00e4t mit der Protestbewegung in Algerien darstellt: \u201eIch wei\u00df, dass unsere Situation [als Migrant*innen, Anm. MC] abh\u00e4ngig ist von der Position Algeriens. Solange Afrika auf den Knien ist, solange also Algerien von Frankreich beherrscht wird, solange werden wir hier nicht als gleichwertige Menschen angesehen und weiterhin erniedrigt.\u201c
Kamar Idir verfolgt die ebenfalls politischen Aktivit\u00e4ten der Algerier*innen in Marseille. Wie Chebbi ist er Anfang der 1990er Jahren nach Marseille gezogen und nun als freier Journalist und Fotograf t\u00e4tig. Zurzeit arbeitet er als Redakteur f\u00fcr Radio Gal\u00e8re, dem freien Radio der Hafenstadt, in dem er auch selber w\u00f6chentlich auf Sendung ist. Sein Programm tr\u00e4gt den Namen Les Harragas. Harraga bedeutet auf arabisch w\u00f6rtlich diejenigen, die ihre Einwanderungspapiere verbrennen. In Algerien wird der Begriff zur Bezeichnung junger Erwachsener verwendet, die aufgrund der mangelnden Zukunftsperspektiven dazu gedr\u00e4ngt werden, mit allen m\u00f6glichen Mitteln und unter prek\u00e4ren Bedingungen das Land zu verlassen. \u201eIch habe mit der Sendung Anfang der 1990er Jahre begonnen, in einer Zeit, als viele Algerier*innen gezwungen waren, das Land zu verlassen\u201c, erz\u00e4hlt er uns. Idir ist an allen Platzkundgebungen und Demonstrationen mit Tonaufnahmeger\u00e4t und Fotokamera anzutreffen. \u201eIch verstehe meine Rolle darin, den zahlreichen und auch sehr unterschiedlichen Stimmen der Algerier*innen in Marseille als Sprachrohr zu dienen. F\u00fcr mich findet so der Hirak auch hier jeden Tag statt.\u201c
Die Solidarit\u00e4t der algerischen Diaspora geht weit \u00fcber individuelle Initiativen hinaus. Viele hier versammeln sich in politischen Kollektiven von Algerier*innen. Der 43-j\u00e4hrige Wirtschaftslehrer Yahia Hadji ist im CADSA Marseille organisiert, dem Collectif pour une Alternative D\u00e9mocratique et Sociale en Alg\u00e9rie [Kollektiv f\u00fcr eine demokratische und soziale Alternative in Algerien, Anm. MC]. Das Kollektiv existierte schon vor dem Ausbruch der Proteste im Februar, doch seither geh\u00f6rt es zu den Initiator*innen der sonnt\u00e4glichen Solidarit\u00e4tsdemonstrationen in Marseille. \u201eDie Freitagsdemonstrationen sind in Algerien ein Ritual geworden, in Marseille demonstrieren wir sonntags.\u201c Hadji reist regelm\u00e4\u00dfig nach Algerien, um direkt an den Protesten teilzunehmen und sich ein Bild der Situation zu machen. Die Bewegung dort erhofft sich eine wichtige Unterst\u00fctzung von der algerischen Diaspora. \u201eDie Genoss*innen in Algerien wiederholen st\u00e4ndig: Wenn morgen ein wirklich demokratischer verfassungsgebender Prozess angesto\u00dfen wird, kann dies nicht ohne die Teilnahme der algerischen Diaspora geschehen.\u201c Das Kollektiv wurde mit dem Hirak zudem in eine neue politische Rolle katapultiert, berichtet Hadji. Er f\u00fchrt aus: \u201eWir versuchen gerade unter dem Namen Lib\u00e9rons l'Alg\u00e9rie eine Koordination der progressiven Vereine und Organisationen und beratende Versammlungen in Frankreich und europaweit auf die Beine zu stellen\u201c.
Sa\u00efd Belguidoum, Professor f\u00fcr Soziologie und Urbanismus an den Universit\u00e4ten von Algier und Aix-Marseille, stimmt der Analyse der algerischen Genoss*innen zu: \u201eDie algerische Immigration hat historisch und in wichtigen Momenten der Ver\u00e4nderung in Algerien stets eine avantgardistische Rolle gespielt. Und sie wird es auch in dieser Bewegung tun.\u201c Tats\u00e4chlich wurde die erste unabh\u00e4ngige algerische politische Partei, der \u00c9toile nord-africaine [Nordafrikanische Stern, Anm. MC] 1926 in Paris von algerischen Arbeitsmigrant*innen gegr\u00fcndet; die F\u00e9d\u00e9ration de France du FLN [franz\u00f6sische F\u00f6deration der Nationalen Befreiungsfront FLN, Anm. MC], 1955 w\u00e4hrend des algerischen Befreiungskrieges gegr\u00fcndet, beeinflusste Intellektuelle, \u00d6ffentlichkeit und das gesamte politische Milieu Frankreichs und organisierte, vom Exil aus, milit\u00e4rische Operationen in Algerien. Und bei den algerischen Pr\u00e4sidentschaftswahlen 1995 gingen die Algerier*innen in Frankreich massenhaft f\u00fcr den Kandidaten Liamine Zeroual w\u00e4hlen: \u201eDie Algerier*innen standen stundenlang Schlage, um ihren Stimmzettel f\u00fcr den Frieden in Algerien und gegen den islamistischen Terror des Front Islamique du Salut FIS [Islamische Heilsfront, Anm. MC] einzuwerfen. Das hat die Wahlen in Algerien selbst stark beeinflusst.\u201c
F\u00fcr Belguidoum spielen auch in der aktuellen Protestbewegung die Auslandsalgerier*innen eine wesentliche Rolle. Den gro\u00dfen Demonstrationen am 22. Februar gingen f\u00fcnf Tage zuvor zwei wichtige lokale Demonstrationen voraus, die als Ausl\u00f6ser der Massenproteste bezeichnet werden k\u00f6nnen: eine in der kalybischen Stadt Kherrata und eine in Paris. Belguidoums Beschreibung dieses Moments macht die Verbindung dieser Orte und ihre Bedeutung deutlich: \u201eInnerhalb weniger Tage haben auf Facebook tausende Menschen ihre Teilnahme an der Versammlung auf der Place de la R\u00e9publique zugesichert. Am 17. Februar versammelten sich dann auch tats\u00e4chlich rund 6.000 Algerier*innen in Paris. Die Bilder zirkulierten auf den sozialen Medien bis nach Algier.\u201c
Die \u00f6konomischen Interessen der Armee
In Algerien selbst konnten dank den schon sechzehn Wochen andauernden Massenprotesten wichtigen Erfolge f\u00fcr die Bewegung verzeichnet werden: Die Wahlen im April wurden abgesagt und der amtierende Pr\u00e4sident Abdelaziz Bouteflika wurde zum R\u00fccktritt gezwungen. Allerdings sind die neu eingesetzten Figuren der \u00dcbergangsregierung, allen voran Interimspr\u00e4sident Abdelkader Bensalah und Premierminister Noureddine Bedoui, kein Ausdruck des Willens der Stra\u00dfe, auf der die Menschen d\u00e9gagez tous! [haut alle ab!] fordern. Im Gegenteil, durch ihre Einf\u00fchrung wurde klar, wer de facto das Zepter \u00fcbernommen hat, n\u00e4mlich der General, Stabschef der algerischen Armee und stellvertretender Verteidigungsminister Ga\u00efd Salah. In seinen \u00f6ffentlichen Auftritten unterstrich dieser bislang die Bem\u00fchungen, einen \u00dcbergang im Rahmen der aktuellen Verfassung zu organisieren und die einstmals versprochenen Wahlen am 4. Juli durchzuf\u00fchren \u2013 auch wenn diese weder technisch realisierbar noch im Sinne der politischen Forderungen der Protestierenden sind. Belguidoum erl\u00e4utert: \u201eSowie nach den ersten Gro\u00dfdemonstrationen im Februar und M\u00e4rz klar war, dass die Wahlen im April obsolet wurden, so gilt das noch mehr f\u00fcr die Wahlen am 4. Juli.\u201c Die Haltung von General Salah sei, so Belguidoum, \u201eregelrecht grotesk\u201c. Tats\u00e4chlich werden diese Wahlen nun auch annulliert, da innerhalb der gegebenen Frist keine Bewerbungen eingereicht wurden.
Die Gr\u00fcnde f\u00fcr das Festhalten des Generals Salah an der Machtposition liegen indes in den \u00f6konomischen Interessen des algerischen Milit\u00e4rs. Um seine Position an der Spitze dieses politischen \u00dcbergangs zu legitimieren, versucht Salah vordergr\u00fcndig, den Forderungen der Bewegung entgegenzukommen. So hat er nach der Absetzung von Bouteflika die Operation saubere H\u00e4nde eingeleitet und im Namen des Kampfes gegen die Korruption und den Klientelismus einige wichtige Pers\u00f6nlichkeiten festnehmen lassen, die dem Bouteflika-Clan zuzuordnen sind, darunter auch der Bruder des fr\u00fcheren Pr\u00e4sidenten, Sa\u00efd Bouteflika, und der Vorsitzende des algerischen Arbeitgeberverbandes Ali Haddad. Die algerischen Protestierenden nehmen ihm diese Strategie allerdings nicht ab: \u201eEs handelt sich dabei schlicht um eine Abrechnung innerhalb des Machtapparates und um den Versuch, sich an der Spitze des algerischen Staates zu behaupten\u201c meint der Aktivist Hadji.
In die gleiche Kerbe schl\u00e4gt der Soziologe Belguidoum, f\u00fcr den es bei diesen Konflikten um die Aneignung von Marktanteilen geht. Algerien stand 2018 auf Platz f\u00fcnf der weltweiten Waffenimporteure, 80 Prozent des Handels wird mit Russland abgewickelt. \u201eDie Armee besitzt seine eigenen Eink\u00fcnfte und Marktanteile, da der Waffenhandel direkt vom Milit\u00e4r abgewickelt wird. In der Regel rechnet man mit 10 Prozent Beratungskosten, das sind also unglaublich hohe Summen, die direkt in die Kassen des Milit\u00e4rs flie\u00dfen und mit denen sich ein ganzer Clan die Taschen f\u00fcllt.\u201c Algerien geh\u00f6rt auch zu den ersten Abnehmern der deutschen Waffenproduktion und vermehrt werden deutsche Werke zur Produktion von R\u00fcstungsg\u00fctern in Algerien er\u00f6ffnet.
Das gleiche gilt f\u00fcr die Einnahmen des Erd\u00f6l- und Erdgasverkaufs, welche 97 Prozent aller algerischen Exporte und rund 70 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen. Aktuell verschieben sich die Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse und Marktanteile multinationaler Unternehmen auch in diesem Sektor. Der franz\u00f6sische Gigant Total ist daran, Best\u00e4nde der US-amerikanischen Erd\u00f6l-Gruppe Anadarko im Wert von 8.8 Milliarden US-Dollar aufzukaufen und somit zum wichtigsten Player auf dem afrikanischen Kontinent zu werden. \u201eEs ist die Aufgabe der algerischen Diaspora, \u00fcber die ausl\u00e4ndische Interessen und ihre Einmischung in Algerien zu sprechen. Wir m\u00fcssen vermehrt \u00fcber die Position Algeriens in der Weltwirtschaft nachdenken. Denn f\u00fcr die ausl\u00e4ndischen Interessen in Algerien bedarf es keiner gro\u00dfen Anstrengung, um Algerien zu destabilisieren und die Bewegung zu unterdr\u00fccken, damit das Regime an seinem Platz bleibt und ihre Interessen verteidigt\u201c, res\u00fcmiert Hadji.
Der demokratische \u00dcbergang
W\u00e4hrend die Armee weiterhin versucht, eine Art politische Stabilit\u00e4t wiederherzustellen, w\u00e4chst gleichzeitig die Repression gegen die soziale Bewegung. Nebst einem massiveren Aufgebot an Polizei und Milit\u00e4r an den Demonstrationen werden auch oppositionelle Stimmen durch Festnahmen mundtot gemacht. Am 9. Mai wurde die Vorsitzende der Arbeiter*innenpartei [Parti des travailleurs, PT, Anm. MC] Louisa Hanoune festgenommen und unter der l\u00e4cherlichen Anklage \u201eVerschw\u00f6rung gegen die Staatsautorit\u00e4ten\u201c vor das Milit\u00e4rgericht gestellt. Festnahmen nehmen auch unter Demonstrationsteilnehmer*innen zu.
Der Widerspruch zwischen den Forderungen der sozialen Bewegung und der Reaktion des Machtapparates wird immer gr\u00f6\u00dfer. Die Zeit dr\u00e4ngt: \u201eIn den n\u00e4chsten Tagen muss der Hirak notwendigerweise starke Vorschl\u00e4ge formulieren und die Armee zwingen, sich zur\u00fcck zu ziehen\u201c meint Belguidoum. Ziel sei eine verfassungsgebende Versammlung, in der alle progressiven politischen Parteien und Repr\u00e4sentant*innen der Zivilgesellschaft vertreten sind. Auch Hadji stellt sich hinter dieses Ziel. F\u00fcr ihn ist klar: \u201eEs sollen all jene politischen und sozialen Kr\u00e4fte daran teilnehmen, die drei Grundprinzipien anerkennen: die Unabh\u00e4ngigkeit der Justiz, die Gleichheit zwischen Frauen und M\u00e4nnern und das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit. Das sind die Prinzipien, unter denen sich die popularen Kr\u00e4fte in einem neuen Gesellschaftsvertrag versammeln und den demokratischen \u00dcbergang organisieren m\u00fcssen.\u201c
Die Algerier*innen in Marseille haben nicht nur ein klares Bild davon, wie der demokratische \u00dcbergang zu organisieren ist, sie spielen in diesem \u00dcbergang auch eine wichtige Rolle. Doch eine demokratische und soziale Transition ist ein harter Weg. Zehn Jahre B\u00fcrgerkrieg und zwanzig Jahre Bouteflikismus haben die algerische Gesellschaft in die Passivit\u00e4t gedr\u00e4ngt und zivilgesellschaftliche Akteur*innen unterdr\u00fcckt und marginalisiert. Die junge Generation beweist allerdings, dass auch aus der Position der Passivit\u00e4t und Marginalisierung Perspektiven der Ver\u00e4nderungen entstehen k\u00f6nnen. \u201eWas ich in Algerien beobachten kann, ist eine unglaubliche F\u00e4higkeit zu Selbstorganisation. Die soziale Bewegung hat einen gesellschaftlichen Knall verursacht und so ist alles ins Laufen gekommen: Die Menschen gehen auf die Stra\u00dfe, befreien ihre W\u00f6rter, befreien die Kultur. F\u00fcr eine Bev\u00f6lkerung, die all diese Zeit regelrecht eingesperrt war, ist das eine unglaubliche Befreiung\u201c sagt Chebbi.
In Algerien liegt eine alte Welt trotz Gegenwehr der Armee im Sterben und eine neue Welt ist noch nicht ganz geboren. Doch \u201ein revolution\u00e4ren Zeiten werden kollektive Lernprozesse und politische Reife der Menschen beschleunigt. Unter diesem Blickwinkel befinden wir uns gerade Mitten in einer Revolution\u201c, so Hadji \u2013 also keine Zeit der Monster, wie Gramsci schon sagte, sondern eine Zeit der gro\u00dfen Hoffnung auf tiefgreifende Ver\u00e4nderungen.
Algerier*innen in Marseille: Doppelte Abwesenheit
Mit \u00fcber 250.000 Algerier*innen geh\u00f6rt Marseille zu den wichtigsten algerischen St\u00e4dten au\u00dferhalb Algeriens. Die geografische N\u00e4he (750km) zum bled [auf Deutsch Kaff, Provinznest, Anm. MC], wie Algerien von den Auslandsalgerier*innen bezeichnet wird, bedeutet noch lange nicht, dass eine kulturelle und gesellschaftliche N\u00e4he zum Herkunftsland besteht. Gerade bei derjenigen Generation von Algerier*innen, die zwischen den 1950er und 1970er Jahren nach Marseille arbeiten gegangen ist, dominiert eine double absence, eine doppelte Abwesenheit, wie es der algerische Soziologe Bourdieu'scher Schule Abdelmalek Sayad in seinem Hauptwerk bezeichnet und der Dokumentarfilm Les Chibanis oubli\u00e9s von Rachid Oujdi illustriert hat. Die Illusionen der Emigration haben sich zu regelrechten Leiden in der Immigration verwandelt. In den Beschreibungen aus dem Leben in der Diaspora zeigt sich, dass diese Widerspr\u00fcchlichkeit auf \u00e4hnliche Weise auch von den j\u00fcngeren Generationen erlebt wird. Viele Algerier*innen sp\u00fcren heute noch die gesellschaftlichen Widerspr\u00fcche, die tief in der migrantischen Existenz liegen: Sie sind abwesend im Herkunftsland und daher abwesend von ihren Familien und von ihren D\u00f6rfern und werden von Schuldgef\u00fchlen dominiert; sie sind aber auch im Ankunftsland Frankreich abwesend, ausgegrenzt und einzig als billige Arbeitskraft behandelt. Die erhoffte R\u00fcckkehr hat sich schlussendlich in einen unerf\u00fcllten Traum verwandelt.