100 Jahre: Reform oder Revolution?
\n100 Jahre Novemberrevolution, Januaraufstand und M\u00e4rzk\u00e4mpfe: Ein Berliner Kollektiv aus Gruppen sowie Einzelpersonen ver\u00f6ffentlicht im Dezember eine Brosch\u00fcre zur revolution\u00e4ren Geschichte. Vor einem Jahrhundert fegten revolution\u00e4re Bewegungen in ganz Deutschland nicht nur die Monarchie beiseite und setzten dem m\u00f6rderischen Weltkrieg ein Ende. Soziale und revolution\u00e4re Forderungen standen pl\u00f6tzlich auf der politischen Agenda im gesamten Land. Neben der Gr\u00fcndung von R\u00e4terepubliken wurden Betriebe von Arbeiter*innen-R\u00e4ten selbst verwaltet. Im Vorfeld der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 2019 in Berlin wird die Brosch\u00fcre auf vergangene K\u00e4mpfe, ihre Bedeutung f\u00fcr aktuelle radikal linke Politik sowie auf revolution\u00e4re Perspektiven eingehen. re:volt ist Medienpartnerin und ver\u00f6ffentlicht drei Texte im November, Dezember sowie Anfang Januar exklusiv vorab.
Die Brosch\u00fcre \u201eAlle Macht den R\u00e4ten\u201c mit einem Umfang von ungef\u00e4hr 80 Seiten, inklusive interessantem Bildmaterial, wird \u00fcber Fire and Flames sowie unter Antifa Nordost bestellbar sein.
Anbei der Dritte exklusiv vorab ver\u00f6ffentlichte Text: re:volt-Autor Geronimo Maulanda versucht die Debatten und Zusammensetzung der Sozialdemokratie vor dem I. Weltkrieg nachzuzeichnen, um den Verrat der SPD-F\u00fchrung im Krieg und der Novemberrevolution zu kontextualisieren.
Die revolution\u00e4re Periode zwischen 1918 und 1923 erk\u00e4mpfte gigantische Fortschritte und bedeutete zugleich eine herbe Niederlage f\u00fcr die revoltierende Arbeiter*innenbewegung. Ein Grund f\u00fcr die Niederlage, wenn nicht der entscheidende, war die Positionierung der Mehrheitssozialdemokratie zun\u00e4chst f\u00fcr die Kriegskredite (1914), dann mit ihrer sogenannten \u201eBurgfriedenspolitik" f\u00fcr den Krieg (bis 1918). Schlie\u00dflich die aktive Zerschlagung der revolution\u00e4ren Bewegung ab 1918 durch Integration und Repression und deren Kanalisierung in anti-revolution\u00e4re, b\u00fcrgerlich-parlamentarische Bahnen. Wollen wir diese, h\u00e4ufig bei links der Sozialdemokratie stehenden Bewegungen und Organisationen, als Verrat geltende Politik verstehen, so m\u00fcssen wir 1) nachvollziehen, vor welchen politischen und \u00f6konomischen Hintergr\u00fcnden des Deutschen Reichs die Sozialdemokratie entstanden ist und d.h. 2) den ideologischen Schulterschluss von liberalen und sozialistischen Personen und theoretischen Positionen auf diese historische Situation r\u00fcckbeziehen. Zentrale These des Artikels ist: die Sozialdemokratie war nie eine rein revolution\u00e4re Arbeiter*innenpartei, sondern aufgrund ihrer einmaligen deutschen Entstehungsgeschichte, d.h. z.B. der gescheiterten demokratischen Revolution 1848, von Vornherein eine Symbiose liberal-reformistischer und revolution\u00e4r-sozialistischer Positionen. Die \u201eBurgfriedenspolitik", also die Allianz mit Kaiser und Kapital f\u00fcr den Krieg, war so kein kompletter Bruch mit den Prinzipien der Sozialdemokratie, sondern eine Kr\u00e4fteverschiebung innerhalb der SPD zugunsten des liberal-reformistischen und zentristischen Fl\u00fcgels [1], zum Nachteil des revolution\u00e4r-sozialistischen Fl\u00fcgels.
Der historische, politische und \u00f6konomische Ausgangspunkt
Dass die historische Realit\u00e4t der Sozialdemokratie eher einem sozialistisch-liberalem B\u00fcndnis glich, ist wenig verwunderlich. Schlie\u00dflich wurde die deutsche liberal-republikanische Bewegung von 1848 durch den bis zu diesem Zeitpunkt allein herrschenden Adel blutig niedergemacht. Sp\u00e4ter wurde durch die preu\u00dfische Monarchie, in einer Allianz von preu\u00dfischen Gro\u00dfgrundbesitzern, den Junkern, und dem gro\u00dfen Kapital 1871, die Einheit \u201evon oben" durchgesetzt. Es handelte sich also um eine Zeit, in der Mensch sich als Sozialist*in noch mit einer feudal-mittelalterlichen Ordnung und einem Kaiser herum schlagen musste. Beiden, dem revolution\u00e4r-sozialistischen und dem reformistisch-liberalen Fl\u00fcgel sa\u00df die Niederlage von 1848 noch in den Knochen. Im \u201eKommunistischen Manifest" (fertiggestellt im Februar 1848), das kurz vor der M\u00e4rzrevolution verfasst wurde, h\u00e4lt Marx deshalb als Leitlinie f\u00fcr Kommunist*innen, ganz unter dem Eindruck der einsetzenden Revolution, fest:
\u201eIn Deutschland k\u00e4mpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolution\u00e4r auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinb\u00fcrgerei. Sie unterl\u00e4\u00dft aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein m\u00f6glichst klares Bewu\u00dftsein \u00fcber den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die deutschen Arbeiter sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bourgeoisie mit ihrer Herrschaft herbeif\u00fchren mu\u00df, als ebenso viele Waffen gegen die Bourgeoisie kehren k\u00f6nnen, damit, nach dem Sturz der reaktion\u00e4ren Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt" (Marx, 1848). [2]
Die Revolution ging verloren. Zum Ausgangspunkt der werdenden Sozialdemokratie wurde das \u201evon oben" mit dem Feldzug gegen Frankreich 1871 vereinigte deutsche Imperium unter dem preu\u00dfischen K\u00f6nig. Die liberalen Parteien - und mit ihnen ein Gro\u00dfteil des B\u00fcrgertums, verb\u00fcndeten sich mit dem Kaiserreich und gaben sich mit der Mitverwaltung in einer konstitutionellen Monarchie zufrieden. Die radikaleren Republikaner*innen, also die linken Liberalen, schlossen sich wiederum der Sozialdemokratie an, da die L\u00f6sung zentraler Fragen einer b\u00fcrgerlich-demokratischen Revolution, wie z.B. der Landfrage, des allgemeinen Wahlrechts, demokratische Freiheiten usw. kein Anliegen des zur (Mit-)Herrscherklasse gewordenen B\u00fcrgertums war. Vor diesem Hintergrund war die Forderung nach der (b\u00fcrgerlichen) Republik f\u00fcr das Deutsche Reich revolution\u00e4r. Wenig \u00fcberraschend daher, dass sich neben sozialistischen Positionen auch klassisch republikanisch-liberale Positionen in der SPD widerfanden, die unter diesem gemeinsamen Dach Politik machten.
Der Lassalle-Fl\u00fcgel: Linksliberale Republikaner
Ihren Vorl\u00e4ufer hatte die SPD in der sogenannten \u201eSozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" (SAP), ihrerseits hervorgegangen aus dem \u201eAllgemeinen Deutschen Arbeiterverein" (ADAV) unter F\u00fchrung von Ferdinand Lassalle und der \u201eSozialdemokratischen Arbeiterpartei" (SDAP), unter F\u00fchrung von Wilhelm Liebknecht und August Bebel. Entscheidenden theoretischen Einfluss auf die SAP sollten die Klassiker des Marxismus Karl Marx und Friedrich Engels h\u00f6chstselbst haben, die sich immer wieder in die Debatten einmischten. So u.a. mit ihrer bekannten \u201eKritik des Gothaer Programms" (1875). In dieser Kritik finden wir nun auch einen der Schl\u00fcssel zum Verst\u00e4ndnis daf\u00fcr, was die SPD inhaltlich war und was sie nicht war. Die SPD und auch ihre Vorl\u00e4uferparteien waren eines nie: ganz und gar revolution\u00e4re Parteien. In ihren Reihen fanden sich immer liberale Vorstellungen, die gesellschaftliche Ver\u00e4nderung auf parlamentarische Mehrheiten, bzw. die Erk\u00e4mpfung der b\u00fcrgerliche Republik, reduzierten. Und sogar Positionen, die mit dem deutschen Kaiser mehr Rechte und soziale Gerechtigkeit herausschlagen wollten. So z.B. war die Agenda von Ferdinand Lassalle.
Es war Lassalle, der mit seiner Theorie vom \u201eEhernen Lohngesetzes" eine \u00f6konomische Argumentation f\u00fcr die reformistische Ausrichtung der Sozialdemokratie legte. Diese ging, ohne in ihren Einzelheiten darauf weiter einzugehen, davon aus, dass Angebot und Nachfrage auf dem Markt den durchschnittlichen Arbeitslohn immer auf einem gewissen Existenzminimum einpendeln w\u00fcrden, dass dieser deshalb nie unter den von der unsichtbaren Hand (des Markts) erzeugten Schnitt und auch nicht dauerhaft \u00fcber ihn f\u00e4llt. Diese (durch Marx widerlegte) Theorie koppelt Steigen und Sinken des Arbeitslohns absurderweise an die \u201eVermehrung" der Arbeiter*innen. [3] Jedenfalls f\u00fchrte die Idee Lassalles dazu, dass er den Klassenkampf abschrieb, die Erringung der Mehrheit im Parlament als Weg zur sozialen Ver\u00e4nderung propagierte und den preu\u00dfischen Obrigkeitsstaat als m\u00f6glichen, zu gewinnenden Verb\u00fcndeten betrachtete, der ein breit aufgestelltes \u201eArbeiterunternehmertum", das wiederum zu mehr sozialer Gerechtigkeit f\u00fchren sollte, mitfinanzieren k\u00f6nnte.
\u201eDer Arbeiterstand mu\u00df sich als selbst\u00e4ndige politische Partei konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen. Die Vertretung des Arbeiterstandes in den gesetzgebenden K\u00f6rpern Deutschlands \u2014 dies ist es allein, was in politischer Hinsicht seine legitimen Interessen befriedigen kann" .[4]
\u201eEben deshalb ist es Sache und Aufgabe des Staates, Ihnen dies zu erm\u00f6glichen, die gro\u00dfe Sache der freien individuellen Assoziation des Arbeiterstandes f\u00f6rdernd und entwickelnd in seine Hand zu nehmen und es zu seiner heiligsten Pflicht zu machen, Ihnen die Mittel und M\u00f6glichkeit zu dieser Ihrer Selbstorganisation und Selbstassoziation zu bieten" .[5]
Fl\u00fcgelk\u00e4mpfe um die Kolonialfrage und Reform statt Revolution in der SPD
Lassalle verstarb vorzeitig an den Folgen eines Duells 1864. Der Reformismus Lassalles wurde in der weiteren Folge von Eduard Bernstein wieder aufgegriffen(wenn auch unter Ablehnung des \u201eEhernen Lohngesetzes" und unter anderer Argumentationsfigur), die revolution\u00e4r-sozialistischen Theorien von Marx/Engels schlie\u00dflich durch Rosa Luxemburg. Diese, neben Karl Kautsky und einigen weiteren, f\u00fchrenden K\u00f6pfe der theoretischen Debatte in der Sozialdemokratie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, f\u00fchrten ausufernde Fl\u00fcgelk\u00e4mpfe um genau die Kernpunkte, die die SPD schlie\u00dflich zu Kriegskrediten/\u201eBurgfriedenspolitik", sowie zur Aufgabe des Klassenkampfs bringen sollten: Um die Frage um Internationalismus und Antiimperialismus/Antikolonialismus einerseits und die Frage um Reform oder Revolution andererseits. Bernstein vertrat neben einer explizit reformistischen Agenda, die die Revolution nur noch als Fernziel auf der Agenda hatte\u2026
\u201eDie verfassungsm\u00e4\u00dfige Gesetzgebung arbeitet in dieser Hinsicht in der Regel langsamer. Ihr Weg ist gew\u00f6hnlich der des Kompromisses, nicht der Abschaffung, sondern der Abfindung erworbener Rechte. Aber sie ist da st\u00e4rker als die Revolution, wo das Vorurtheil, der beschr\u00e4nkte Horizont der gro\u00dfen Masse dem sozialen Fortschritt hindernd in den Weg tritt, und sie bietet da die gr\u00f6\u00dferen Vorz\u00fcge, wo es sich um die Schaffung dauernd lebensf\u00e4higer \u00f6konomischer Einrichtungen handelt, mit anderen Worten f\u00fcr die positive sozialpolitische Arbeit (...) Die Diktatur des Proletariats hei\u00dft, wo die Arbeiterklasse nicht schon sehr starke eigene Organisationen wirthschaftlichen Charakters besitzt und durch Schulung in Selbstverwaltungsk\u00f6rpern einen hohen Grad von geistiger Selbst\u00e4ndigkeit erreicht hat, die Diktatur von Klubrednern und Literaten (...) Trotz der gro\u00dfen Fortschritte, welche die Arbeiterklasse in intellektueller, politischer und gewerblicher Hinsicht seit den Tagen gemacht hat, wo Marx und Engels schrieben, halte ich sie doch selbst heute noch nicht f\u00fcr entwickelt genug, die politische Herrschaft zu \u00fcbernehmen (...)" .[6]
...auch eine explizite Bef\u00fcrwortung der Kolonialpolitik des Deutschen Reichs.
\u201eAber die Kolonialfrage ist viel mehr, als blo\u00df eine Menschlichkeitsfrage. Sie ist eine Menschheitsfrage und eine Kulturfrage ersten Ranges. Sie ist die Frage der Ausbreitung der Kultur und, solange es gro\u00dfe Kulturunterschiede gibt, der Ausbreitung oder, je nachdem, Behauptung der h\u00f6heren Kultur. Denn fr\u00fcher oder sp\u00e4ter tritt es unvermeidlich ein, da\u00df h\u00f6here und niedere Kultur auf einander sto\u00dfen, und in Hinblick auf diesen Zusammensto\u00df, diesen Kampf ums Dasein der Kulturen ist die Kolonialpolitik der Kulturv\u00f6lker als geschichtlicher Vorgang zu werten. Da\u00df sie meist aus anderen Motiven und mit Mitteln, sowie in Formen betrieben wird, die wir Sozialdemokraten verurteilen, wird in den konkreten F\u00e4llen uns zu ihrer Ablehnung und Bek\u00e4mpfung bewegen, kann aber kein Grund sein, unser Urteil \u00fcber die geschichtliche Notwendigkeit des Kolonisierens zu \u00e4ndern" .[7]
Diese Positionen waren nicht unumstritten. Wilhelm Liebknecht (der Vater Karl Liebknechts) und Rosa Luxemburg geh\u00f6rten zu den energischsten Kritiker*innen des Bernsteinschen Revisionismus [8] und widmeten diesem ganze B\u00fccher. Liebknecht z.B. mit \u201eKein Kompromi\u00df \u2013 Kein Wahlb\u00fcndnis" (1899), Luxemburg mit \u201eSozialreform oder Revolution?" (1899) - wohlwissend, dass diese liberale Str\u00f6mung alles andere als einflusslos war und dass f\u00fchrende Theoretiker*innen des sogenannten \u201eMarxistischen Zentrums" ambivalent gegen\u00fcber den Thesen Bernsteins waren. W\u00e4hrend die Zentrist*innen um Kautsky und Bebel sich zun\u00e4chst ebenfalls gegen die Thesen positionierten, kippten sie \u00fcber die Jahre schrittweise um und \u00fcbernahmen die Bernsteinsche theoretische Leitlinie, d.h. die der Identifikation mit dem bestenfalls liberal-republikanischen Projekt und schlimmstenfalls dem Einrichten in die kaiserliche Monarchie unter reformistischem Vorzeichen. Die Zustimmung zu den Kriegskrediten und die \u201eBurgfriedenspolitik" 1914 waren so eben nur teilweise ein \u201eVerrat", aber vor allem Ausdruck des damaligen dominanten Einflusses der Theorien Bernsteins in den 10er Jahren in der Sozialdemokratie. Das konnte so nur m\u00f6glich werden durch das Einknicken des einflussreichen \u201eMarxistischen Zentrums".
Was ist daraus zu lernen?
Was hier kurz skizziert wurde, zeichnet die Spaltung einer revolution\u00e4ren bis sozialreformistischen Str\u00f6mung vor dem Hintergrund eines kapitalistischen und feudalen Kaiserreichs nach. Lehren sind so immer nur relativ zur geschichtlichen Situation, d.h. im Abgleich mit dem heutigen \u2013 rein republikanischen \u2013 Deutschland, zu ziehen. Die wichtigsten Lehren, die historisch auch am n\u00e4chsten zu den Ereignissen um die Novemberrevolution und die Integration der Sozialdemokratie in das Lager des politischen Gegners gezogen werden konnten, zogen bekanntlich neben den radikalen Sozialdemokrat*innen Liebknecht und Luxemburg (Spartakusbund, sp\u00e4ter: KPD), vor allem auch die Bolschewiki um Lenin, die sich ihrerseits in der Sozialdemokratischen Partei Russlands mit \u00e4hnlichen Erscheinungen auseinandersetzten (und dort auch folgerichtig in Bolschewiki und Menschewiki spalteten). Mit der Oktoberrevolution in Russland und der folgenden ideologischen Dominanz der jungen Sowjetunion wurden Antimilitarismus, Antiimperialismus, Antikolonialismus und eine unvers\u00f6hnlich revolution\u00e4re Ausrichtung der Politik, d.h. gegen die b\u00fcrgerliche Klasse und den Staat zu den Eckpfeilern der entstehenden kommunistischen Bewegung und Internationalen. So schrieb Lenin in \u201eDer Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale" (1916):
\u201eDer verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig ,friedliche' Charakter der Epoche 1874 bis 1914 n\u00e4hrte den Opportunismus anfangs als Stimmung, dann als Richtung, schlie\u00dflich als Gruppe oder Schicht der Arbeiterb\u00fcrokratie und der kleinb\u00fcrgerlichen Mitl\u00e4ufer. Diese Elemente konnten die Arbeiterbewegung nur beherrschen, indem sie in Worten die revolution\u00e4ren Ziele und die revolution\u00e4re Taktik anerkannten. Sie konnten das Vertrauen der Massen erringen, weil sie schworen, da\u00df die ganze ,friedliche' Arbeit nur eine Vorbereitung der proletarischen Revolution sein". [9]
Und...
\u201eDer Sozialchauvinismus ist der vollendete Opportunismus. Er ist reif geworden zu einem offenen, oft ordin\u00e4ren B\u00fcndnis mit der Bourgeoisie und den Generalst\u00e4ben. Es ist eben dieses B\u00fcndnis, das ihm eine gro\u00dfe Macht und das Monopol des legal gedruckten Wortes, der Irref\u00fchrung der Massen gibt. Es ist l\u00e4cherlich, jetzt noch den Opportunismus [10] f\u00fcr eine Erscheinung im Innern unserer Partei zu halten (...) Die Einheit mit den Sozialchauvinisten ist die Einheit mit der ,eigenen' nationalen Bourgeoisie, die andere Nationen ausbeutet, ist die Spaltung des internationalen Proletariats". [11]
\u00dcbersetzt ins Heute: Auch jetzt gibt es (vermeintlich linke) Str\u00f6mungen, die im Namen von Emanzipation und Demokratie den b\u00fcrgerlichen Staat zum Gewehr rufen oder deren \u201ePositionen" in links gekleidetem Vokabular ins selbe Horn sto\u00dfen, wie liberale und konservative b\u00fcrgerliche Intelektuelle. Der Bernstein unserer Zeit sind Str\u00f6mungen, die behaupten, dass der b\u00fcrgerliche Staat \u201etransformiert", d.h. von Innen heraus ver\u00e4ndert werden k\u00f6nne, z.B. durch das Parlament, die politischen Parteien, das \u201eZusammenspiel von Bewegung und Parlament" usw. oder die diesen zum positiven Ausgangspunkt von Politik (ver)kl\u00e4ren. Insbesondere hier gibt es auch jene, die \u2013 ganz in der Tradition Bernsteins \u2013 behaupten, marxistische Kategorien des historischen Materialismus [12], der Revolution, der Klasse oder des Imperialismus seien out-of-date. Statt einer Aktualisierung marxistischer Analysen betreiben sie eine Ersetzung des Klassenbegriffs durch schillernde Begriffe wie \u201eMultitude\u201c oder \u201eMillieu" und des Imperialismus durch \u201eGlobalisierung". Begriffe, die den Klassenwiderspruch zwischen Herrschenden und Beherrschten verwischen, zum B\u00fcndnis mit den \u201enationalen Bourgeoisien" (um mit Lenin zu sprechen) anhalten und eine vermeintliche Interessensdeckungsgleichheit gegen\u00fcber \u201eneuen" oder \u201eschlimmeren" Ph\u00e4nomenen behaupten. In diesem Kontext sei Bernsteins Ausspruch rezitiert: \u201eIch gestehe es offen, ich habe f\u00fcr das, was man gemeinhin unter \u201aEndziel des Sozialismus\u2019 versteht, au\u00dferordentlich wenig Sinn und Interesse, dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles". Das Gegenteil ist also der Fall. Im ganz und gar b\u00fcrgerlichen Deutschland 2018 geht es zwar anders zu, als im kaiserlich-b\u00fcrgerlichen Deutschland 1871-1918, dennoch bleiben Antiimperialismus, Antimilitarismus, internationale Solidarit\u00e4t und Klassenkampf angesichts der aggressiven Export/Abh\u00e4ngigkeits- und Kriegspolitik und eine unvers\u00f6hnliche Haltung zum b\u00fcrgerlichen Staatsapparat angesichts der offenen Verbindungen zu Neofaschist*innen und Rechtsruck (Stichwort: NSU und Maa\u00dfen), Essentials einer revolution\u00e4ren Linken, die gegen den b\u00fcrgerlichen Staat und nicht am Ende mit ihm und seinen Parteig\u00e4nger*innen stehen will:
\u201e ,Vernichtung der Staatsmacht', die ein ,Schmarotzerauswuchs' war, ihre ,Abschneidung', ihre ,Zerst\u00f6rung', ,die jetzt \u00fcberfl\u00fcssig gemachte Staatsmacht' \u2013 das sind die Ausdr\u00fccke, in denen Marx vom Staat sprach, als er die Erfahrungen der Kommune beurteilte und analysierte (\u2026) Marx hat aus der ganzen Geschichte des Sozialismus und des politischen Kampfes gefolgert, da\u00df der Staat verschwinden mu\u00df, da\u00df die \u00dcbergangsform seines Verschwindens (der \u00dcbergang vom Staat zum Nichtstaat) das ,als herrschende Klasse organisierte Proletariat' sein wird (\u2026) Die Kommune ist der erste Versuch der proletarischen Revolution, die b\u00fcrgerliche Staatsmaschinerie zu zerschlagen, ist die ,endlich entdeckte' politische Form, durch die man das Zerschlagene ersetzen kann und mu\u00df". (Lenin 1918) [13]
Quellen und Anmerkungen:
[1] Zentrismus bezeichnet im Marxismus Fraktionen, die der politischen Einheit einer Organisation willen ein Gleichgewicht zwischen revolution\u00e4ren und nicht-revolution\u00e4ren Kr\u00e4ften aufrecht erhalten wollen. Wo Lenin vor dem Hintergrund der Kriegsunterst\u00fctzung und des Reformismus der Mehrheitssozialdemokratie \u201eKlarheit vor Einheit" als Organisations-Prinzip herausgab und damit die Spaltung der SDAPR einleitete, postulieren zentristische Str\u00f6mungen \u201eEinheit statt Klarheit". Historisch wurde der Begriff auf das sogenannte \u201eMarxistische Zentrum\u201c in der SPD (Kautsky, Bebel) oder auch Leo Trotzki und die Menschewiki angewandt.
[2] Marx, Karl / Engels, Friedrich (1848) \u201eManifest der Kommunistischen Partei\u201c In: MEW Bd.4, S.459-493; Dietz Verlag Berlin, 1974
[3] Lassalle, Ferdinand (1863) \u201eOffenes Antwortschreiben. An das Zentralkommitee zur Berufung eines Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig\u201c In: Gesammelte Reden und Schriften (hrsgb. von Eduard Bernstein) Bd. 3, Paul Cassirer, Berlin, 1919, S. 41-107.
[4] ebd.
[5] ebd.
[6] Bernstein, Eduard (1899) \u201eDie Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie\u201c J.H.W. Dietz Nachfolg. (GmbH), Stuttgart 1899
[7] Bernstein, Eduard (1907) \u201eDie Kolonialfrage und der Klassenkampf\u201c In: Sozialistische Monatshefte. 11 -13 (November 1907), S. 988 - 996
[8] Revisionismus war ein g\u00e4ngiger Begriff in der sozialdemokratischen Debatte dieser Zeit und bezeichnet Positionen, die den Klassenkampf und die Revolution ablehnen und stattdessen auf Reformen setzen. Angegriffen werden in diesen Str\u00f6mungen, je nach Autor*in, zentrale Positionen des Marxismus, wie z.B. die Revolution als Ziel oder die Klassentheorie. Der Begriff wurde sp\u00e4ter, u.a. in der marxistisch-leninistischen Bewegung und ihren Str\u00f6mungen, zum Kampfbegriff, um abweichende Haltungen, die tats\u00e4chlich oder vermeintlich anti-revolution\u00e4r waren, aus den Kommunistischen Parteien zu dr\u00e4ngen.
[9] Lenin, Wladimir, Iljitsch (1916) \u201eDer Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale\u201c In: Lenin-Werke, Band 22, Berlin/DDR. S. 107-119.
[10] Opportunismus, bzw. das Synonym Sozialchauvinismus, bezeichnete in der sozialdemokratischen Debatte w\u00e4hrend des 1. Weltkriegs Positionen, die, um mit Lenin zu sprechen, \u201edas Eintreten f\u00fcr die Idee der Vaterlandsverteidigung in diesem Kriege\u201c, \u201eVerzicht auf den Klassenkampf w\u00e4hrend des Krieges\u201c bedeuteten. Die Bolschewiki und insbesondere Lenin widmeten dem Ph\u00e4nomen des Versagens der II. Internationale und den dahinterstehenden theoretischen Fehlern zahlreiche Pamphlete. In Russland f\u00fchrte die Auseinandersetzung um diese Punkte bereits fr\u00fch zur Spaltung der SDAPR und zur Bildung der Fl\u00fcgel der Menschewiki, Sozialrevolution\u00e4re und Bolschewiki.
[11] Lenin, Wladimir, Iljitsch (1916) \u201eDer Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale\u201c In: Lenin-Werke, Band 22, Berlin/DDR. S. 107-119.
[12] Der Historische Materialismus ist das philosophische Herzst\u00fcck der marxistischen Theorie. Er entwickelt die Geschichtstheorie von widerstreitenden Klassen, dem Klassenkampf und der Revolution als Motor der Geschichte. Er betont die zentralen Rolle der menschlichen Arbeit (Organisation der Produktion) und die Verbundenheit aller gesellschaftlichen Ph\u00e4nomene mit ihrer Produktionsweise. Seine Methode ist die der Dialektik. Es handelt sich bei ihm um eine Verbindung von feuerbachschem Materialismus mit der hegelschen dialektischen Methode. Eine einfache Einf\u00fchrung liefert Engels, Friedrich (1880) \u201eDie Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft\u201c, In: MEW Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973
[13] Lenin, Wladimir Iljitsch (1918) \u201eStaat und Revolution\u201c In: Lenin-Werke, Band 25, Berlin/DDR, 1972, S.393-507