Wer waren die revolution\u00e4ren Obleute?
\n100 Jahre Novemberrevolution, Januaraufstand und M\u00e4rzk\u00e4mpfe: Ein Berliner Kollektiv aus Gruppen sowie Einzelpersonen ver\u00f6ffentlicht im Dezember eine Brosch\u00fcre zur revolution\u00e4ren Geschichte. Vor einem Jahrhundert fegten revolution\u00e4re Bewegungen in ganz Deutschland nicht nur die Monarchie beiseite und setzten dem m\u00f6rderischen Weltkrieg ein Ende. Soziale und revolution\u00e4re Forderungen standen pl\u00f6tzlich auf der politischen Agenda im gesamten Land. Neben der Gr\u00fcndung von R\u00e4terepubliken wurden Betriebe von Arbeiter*innen-R\u00e4ten selbst verwaltet. Im Vorfeld der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 2019 in Berlin wird die Brosch\u00fcre auf vergangene K\u00e4mpfe, ihre Bedeutung f\u00fcr aktuelle radikal linke Politik sowie auf revolution\u00e4re Perspektiven eingehen. re:volt ist Medienpartnerin und ver\u00f6ffentlicht drei Texte im November, Dezember sowie Anfang Januar exklusiv vorab. Die Brosch\u00fcre \u201eAlle Macht den R\u00e4ten\u201c mit einem Umfang von ungef\u00e4hr 80 Seiten, inklusive interessantem Bildmaterial, wird \u00fcber Fire and Flames sowie unter Antifa Nordost bestellbar sein.
Anbei der zweite exklusiv vorab ver\u00f6ffentlichte Text: re:volt-Redakteur Felix Broz mit einem einer Nachzeichnung der revolution\u00e4ren Obleute sowie ihrer bedeutenden Rolle in der betrieblichen Organisierung revolution\u00e4rer Arbeiter*innen vor, w\u00e4hrend und kurz nach der Novemberrevolution.
Sprechen wir von der Novemberrevolution 1918/19 oder vom \u201eSpartakusaufstand" im Januar 1919, d\u00fcrfen wir von den revolution\u00e4ren Obleuten nicht schweigen. Sie waren aktiv an der entstehenden revolution\u00e4ren R\u00e4tebewegung und am Widerstand gegen die militaristische Politik des Deutschen Kaiserreichs, sowie gegen den sozialdemokratischen Betrug an der Revolution beteiligt. Die Obleute waren Vertrauensleute in den Betrieben. In Berlin kamen sie u.a. aus der Branchengruppe der Dreher*innen (vergleichbar mit dem heutigen Beruf Zerspanungsmechaniker*in) innerhalb des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV). Ein prominenter Branchenleiter war beispelsweise Richard M\u00fcller, der in den folgenden Jahren als bedeutender Kader der revolution\u00e4ren Obleute wirkte. Urspr\u00fcnglich aus 50 bis 80 Personen in verschiedenen Gro\u00dfbetrieben entstanden, wuchs deren Anzahl w\u00e4hrend der Novemberrevolution auf mehrere Tausend an. Neben Berlin waren sie vor allem in industriellen Zentren vertreten, bspw. in Braunschweig und D\u00fcsseldorf. Viele verorteten sich politisch urspr\u00fcnglich in der deutschen Sozialdemokratie, brachen jedoch teilweise aufgrund der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten 1914 mit der Politik dieser Partei. W\u00e4hrend innerhalb der SPD nationalistische und kriegstreiberische Stimmungen \u00dcberhand nahmen, wurden Kriegsgegner*innen und die linke Opposition systematisch ausgegrenzt, mit dem Vorwurf des \u201eunpatriotischem Verhaltens" versuchte man, diese mundtot zu machen. Auch die wirtschaftliche Lage der eigenen Basis sollte von der SPD aufgrund der Kriegsorientierung beinahe aller Mitglieder der Parteif\u00fchrung nicht angemessen aufgegriffen und revolution\u00e4r kanalisiert werden. Durch die Anforderungen des Krieges legte die Sozialdemokratie ganz im Sinne eines \u201epatriotischen Verst\u00e4ndnisses" die sozialen K\u00e4mpfe auf Eis. Die Arbeiter*innen begannen zu hungern, schufteten in den unmenschlichen Produktionsst\u00e4tten oder starben f\u00fcr die Interessen der monarchistischen Autorit\u00e4ten und ihrer Unterst\u00fctzer*innen auf den Schlachtfeldern f\u00fcr \u201eGlanz und Gloria". Die Zustimmung zur deutschen Kriegspolitik unter den Arbeiter*innen sank schnell.
Aufgrund der uneingeschr\u00e4nkten Priorit\u00e4t, welche die R\u00fcstungsindustrie in der Wirtschaftspolitik des Deutschen Reichs genoss, kam es immer wieder zu immensen Engp\u00e4ssen bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des t\u00e4glichen Bedarfs. Es herrschten katastrophale Arbeitsbedingungen in den kriegsrelevanten Fabriken. Die Obleute schafften es w\u00e4hrend ihres Wirkens, drei Massenstreiks durchzuf\u00fchren, die genau diese sozialen Schieflagen aufgriffen: den Solidarit\u00e4tsstreik gegen die Verhaftung des sozialistischen SPD-Reichtstagsabgeordneten Karl Liebknecht (1916), den sogenannten \u201eBrotstreik" im Jahr 1917 (ein vorwiegend von Frauen* getragener Streik, u.a. gegen die kriegsbedingte Rationierung und Preissteigerung von Grundnahrungsmitteln), sowie den Januarstreik 1918 (f\u00fcr ein Ende des Krieges und die Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen). Karl Liebknecht genoss unter Teilen der Bev\u00f6lkerung gro\u00dfe Sympathien, da er aufgrund seines konsequent antimilitaristischen Auftretens die Ablehnung des Krieges, der autorit\u00e4ren Monarchie und der politischen und wirtschaftlichen Eliten verk\u00f6rperte. Angeklagt wegen Anf\u00fchrung und Organisation einer Friedenskundgebung am 1. Mai 1916, wurde Liebknecht mit einem eint\u00e4gigen Massenstreik von ca. 75.000 Arbeiter*innen in Berlin politisch unterst\u00fctzt. Es war der erste politische Massenstreik im Deutschen Reich. Schon fr\u00fch agitierten die SPD-Zeitung \u201eVorw\u00e4rts" sowie die politische F\u00fchrung um Philipp Scheidemann gegen die angeblichen \u201ePutschisten" und \u201eerb\u00e4rmlichen Hetzer". Diese Diffamierungen durch die Sozialdemokratie f\u00f6rderten die politische Distanzierung der Obleute, wodurch viele sich revolution\u00e4ren Str\u00f6mungen zuwandten.
Spaltung und Aufbruch
Nach internen K\u00e4mpfen spaltete sich 1917 schlie\u00dflich links der SPD die \u201eUnabh\u00e4ngige Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (USPD) ab und sammelte Kriegsgegner*innen und linke Kr\u00e4fte in ihren Reihen. Inspiriert von der russischen Revolution und dem Wunsch nach sofortiger Beendigung des Krieges mit seinen verheerenden (sozialpolitischen) Folgen, \u00fcberwarfen sich viele Obleute im Laufe der Zeit mit der (Mehrheits-)SPD und schlossen sich der neugegr\u00fcndeten Partei an. Die SPD bezeichnete sich nun als MSPD, um die politische Differenz zur USPD deutlich betonen zu k\u00f6nnen. Da sich die Obleute unabh\u00e4ngig von den gro\u00dfen deutschen Gewerkschaften organisierten, und somit keine offiziellen Betriebsr\u00e4te waren, hatten sie kaum Anerkennung seitens der Industriellen. Die Aufgabe bestand also darin, betriebliche Mehrheiten zu gewinnen und die Arbeiter*innen hinter sich zu vereinen, um revolution\u00e4re Interessen durchsetzen zu k\u00f6nnen. Sie schafften es innerhalb der Betriebe, zus\u00e4tzliche Vertrauensleute aufzubauen, welche unter den Arbeiter*innen agitierten und so schrittweise ihre politische Reichweite in den Betrieben ausbauten bzw. systematisch weitere Arbeiter*innen dazugewannen.
Durch die vorangegangene betriebliche Erfahrung in den gro\u00dfen Gewerkschaften schafften sie es, ganze Industriezweige zu dominieren und drohten, diese lahmzulegen. Auch gegen\u00fcber der neu gegr\u00fcndeten USPD bewahrten sich die Obleute ab 1917 eine Autonomie in ihrer Arbeit und ihrer Strategie. Dies sorgte daf\u00fcr, dass die Obleute stets als \u201elinks der USPD-F\u00fchrung" betrachtet wurden. Im Sinne einer R\u00e4tebewegung war das Ziel, starke Organisationsformen in den Betrieben aufzubauen und die Produktion sowie Produktionsmittel, bspw. Maschinen, in die eigenen H\u00e4nde zu nehmen. Schon damals gab es Konflikte um die geeignete Strategie, um den revolution\u00e4ren Umsturz zu f\u00f6rdern: Streiks, Demonstrationen und viele andere Aktionsformen l\u00f6sten interne Diskussionen aus. Im Sinne Rosa Luxemburgs pl\u00e4dierten viele Obleute f\u00fcr den politischen Massenstreik, um das Land, seine Produktion und damit auch den Krieg mitsamt allem Blutvergie\u00dfen beenden zu k\u00f6nnen. U.a. der deutsche Krieg gegen das revolution\u00e4re Russland veranlasste ab 1917 zahlreiche revolution\u00e4re Obleute, politische Unterst\u00fctzung gegen die Bedrohung der erfolgreichen Oktoberrevolution in Russland durch betriebliche K\u00e4mpfe und somit durch Lahmlegung kriegswichtiger Produtionen, zu leisten.
1918 planten die revolution\u00e4ren Obleute weitere Massenstreiks, die sich zunehmend auch bewaffnen sollten. Dies war zudem zum Schutz der Demonstrant*innen vor der schie\u00dfw\u00fctigen kaisertreuen Polizei gedacht, um dieser gegen\u00fcber abschreckend zu wirken. Ab Herbst 1918 wurde der Kontakt zu den russischen revolution\u00e4ren Sozialist*innen (Bolschewiki) ausgebaut und Finanzhilfen f\u00fcr den Kauf von Waffen vereinbart. Innerhalb der USPD gab es bereits seit einiger Zeit Missbilligung und Verurteilung der Obleute. Aus Angst vor eingeschleusten Spitzel*innen in der Partei schotteten sich gro\u00dfe Teile der Obleute gegen\u00fcber Mitgliedern der USPD und sogar gegen\u00fcber dem linken Spartakus-Fl\u00fcgel ab. Nachdem sich am 8. November die Nachricht von der Festnahme des prominenten Revolution\u00e4rs Ernst D\u00e4uming und auch f\u00e4lschlicherweise der von Karl Liebknecht und Richard M\u00fcller, Protagonist der Obleute, verbreitete, riefen die revolution\u00e4ren Obleute in strategischer Zusammenarbeit mit der USPD, der Spartakusgruppe, sowie Sozialdemokrat*innen in Berlin zum Aufstand auf. Bereits Tage zuvor begann der Kieler Matrosenaufstand, dessen Soldaten in gro\u00dfen St\u00e4dten die zivile und milit\u00e4rische Macht St\u00fcck f\u00fcr St\u00fcck \u00fcbernahmen. Den Demonstrationen der Berliner Arbeiter*innen in die Innenstadt schlossen sich gro\u00dfe Verb\u00e4nde von Soldaten an, die bereits f\u00fcr eine sozialistische Revolution agitiert worden waren oder zumindest grundlegende Sympathien daf\u00fcr hatten, um den Krieg mit seinen Folgen endlich \u00fcberwinden zu k\u00f6nnen.
Niederschlagung und R\u00fcckzug
Die Novemberrevolution sorgte schlussendlich f\u00fcr die Abdankung des Kaisers Wilhelm II. und die \u00dcbertragung der politischen Macht an die MSPD und USPD im Rat der Volksbeauftragten. Obleute waren nun auch in den sich bildenden revolution\u00e4ren R\u00e4ten, gerieten aber in die Machtk\u00e4mpfe zwischen USPD und MSPD. MSPD-Mitglieder und -Funktion\u00e4re forderten schnelle Wahlen und die Zusammensetzung einer Nationalversammlung, um Fakten schaffen und revolution\u00e4re Positionen ausgrenzen zu k\u00f6nnen. W\u00e4hrend viele aus der politischen Elite und jene, die sich dahin w\u00fcnschten, ein b\u00fcrgerlich-parlamentarisches Modell bevorzugten, gerieten revolution\u00e4re R\u00e4temodelle in die Minderheitenposition. Auch innerhalb der USPD wurden diese Positionen immer marginaler. W\u00e4hrend die R\u00e4te spontan und h\u00e4ufig ohne theoretisches Fundament entstanden, nutzte die MSPD die Gunst der Stunde und \u00fcberzog die aufst\u00e4ndischen Revolution\u00e4r*innen mit blutiger Repression.
Vor allem seit Januar 1919 wurden die Forderungen nach Kontrolle der Fabriken und gesellschaftlicher Bereiche durch Arbeiter*innen verfolgt. Die Absetzung des Berliner Polizeipr\u00e4sidenten Emil Eichhorn, angef\u00fchrt von Friedrich Ebert (MSPD), brachte das Fass zum \u00dcberlaufen. Ebert lie\u00df nationalistische, paramilit\u00e4rische Einheiten (sogenannte \u201eFreikorps") und andere reaktion\u00e4re bewaffnete Soldaten und Freiwillige zusammenziehen und setzte sie auf Obleute und andere Revolution\u00e4re an. Die Niederschlagung des Januaraufstandes und der M\u00e4rzk\u00e4mpfe bedeuteten eine heftige Niederlage des revolution\u00e4ren R\u00e4tesystems in Deutschland. Die Obleute orientierten sich in den folgenden Jahren weiter an betrieblichen K\u00e4mpfen, beispielsweise im Rahmen der Betriebsr\u00e4tebewegung und den K\u00e4mpfen f\u00fcr weitergehende Macht f\u00fcr Arbeiter*innen in den Fabriken. Im Laufe der Zeit gingen einige Obleute mit dem linken USPD-Fl\u00fcgel in der neu gegr\u00fcndeten Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) auf, wo sie jedoch h\u00e4ufig aufgrund der parlamentarisch orientierten Arbeit ihre basisbetonten R\u00e4teans\u00e4tze entweder aufgaben oder sich aufgrund fehlender Mehrheiten zur\u00fcckzogen.
Literaturempfehlung:
Hoffrogge, Ralf (2017) \u201eR\u00e4teaktivisten in der USPD, Richard M\u00fcller und die revolution\u00e4ren Obleute", in: \u201eINDES. Zeitschrift f\u00fcr Politik und Gesellschaft", H. 4-2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG ; G\u00f6ttingen