\u201cDer Franquismus hat im Staat nach wie vor die Hegemonie\u201d
\nEmil Strau\u00df war im September in der baskischen Region unterwegs. F\u00fcr ihn war ein wichtiger Bestandteil seiner Reise, das Verh\u00e4ltnis widerst\u00e4ndiger Gedenkarbeit zur aktuellen politischen Situation im spanischen Staat beziehungsweise dem Rechtsruck in Europa und weltweit zu analysieren und einzuordnen. Der baskische-deutsche Kulturverein \u201eBaskale\u201c in Bilbo (baskischer Name f\u00fcr Bilbao) setzt sich mit feministischen und antifaschistischen Fragen auseinander und st\u00e4rkt die Arbeit zur \u201eMemoria Historica\u201c (historische Erinnerung), also die Aufarbeitung des spanischen Faschismus (Franquismus). Im Nachgang der Reise f\u00fchrte unser Autor deshalb ein ausf\u00fchrliches Interview mit Klaus, der sich beim Verein Baskale engagiert.
Emil Strau\u00df: Wie lange gibt es euch schon und was motiviert euch zu eurer Arbeit im baskisch-deutschen Kulturverein \u201eBaskale\u201c?
Klaus: Den Verein haben wir vor acht Jahren aus ganz formalen Gr\u00fcnden ins Leben gerufen. Als Instrument, um das besser organisieren zu k\u00f6nnen, was wir auch vorher schon gemacht haben. Der Vereinsstatus bietet M\u00f6glichkeiten, die wir als informelle Gruppe nicht hatten. Unsere Arbeit hat verschiedene Schwerpunkte und findet nicht nur im Vereins-Rahmen statt. Wir verstehen uns als Teil der sozialen Bewegungen, die uns in Bilbao und Bizkaia (Provinz rund um Bilbao, Anm. Red.) umgeben. Deren Entwicklung ist uns wichtiger als unser Verein. Die beiden Hauptbereiche unserer Arbeit sind Feminismus und Antifaschismus. Feminismus muss nach unserer Auffassung bei allen Aktivit\u00e4ten ein entscheidendes Kriterium sein und wir versuchen das voranzutreiben. Daneben betreiben wir Geschichtsforschung unter Frauenaspekten.
Unser zweites Thema ist die historische Aufarbeitung des Franquismus \u2013 dieses Thema wird hier \u201eMemoria Historica\u201c genannt, historische Erinnerung. Das h\u00f6rt sich nicht so politisch an, ist es aber. Wir arbeiten mit historischen Organisationen wie der anarchosyndikalistischen CNT (Confederaci\u00f3n Nacional del Trabajo, Gewerkschaft, Anm. Red.) zusammen, die im Spanienkrieg eine wesentliche Rolle gespielt hat. Und mit verschiedenen baskischen Akteuren verschiedener politischer Couleur.
F\u00fcr eine baskisch-deutsche Gruppe wie Baskale hat diese Arbeit im Wesentlichen zwei Aspekte: Erstens die Aufarbeitung der Geschichte aus baskischer Sicht. Zweitens die Aufarbeitung aus deutscher Sicht. Bekannterma\u00dfen war die nazideutsche \u201eLegion Condor\u201c nach dem Milit\u00e4rputsch vor 82 Jahren kriegsentscheidend. Zur der Kl\u00e4rung dieser Geschichte beizutragen ist unser bescheidener Beitrag zur baskischen Memoria-Bewegung.
Weitere Arbeitsschwerpunkte des Kulturvereins Baskale sind Gentrifizierung und alternativer Tourismus. In Bilbao ist diese Arbeit wichtiger denn je, denn wir erleben momentan einen brachialen Massentourismus, der gravierende Konsequenzen hat. Dem arbeiten wir entgegen, mit Kritik auf der einen Seite und mit alternativen Angeboten auf der anderen. Dabei gibt es gute Verbindungen zu unseren anderen Arbeitsthemen. Denn alternative Rundgangs-Angebote lassen sich perfekt verkn\u00fcpfen mit der antifaschistischen Aufarbeitung, mit der Geschichte von Krieg, Diktatur und der folgenden sogenannten Demokratie.
Um unsere Information einem deutschsprachigen Publikum zug\u00e4nglich zu machen haben wir eine umfangreiche Webseite konzipiert. Sie liefert Gegeninformation zu den g\u00e4ngigen Klischees und Plattit\u00fcden, die in der b\u00fcrgerlichen Presse \u00fcber das Baskenland verbreitet werden. Baskultur.info reicht von Geschichte \u00fcber Architektur, Sport, Wissenschaft und Musik. Wir haben dort insgesamt 30 Kategorien, unter denen gr\u00fcndlich informiert wird.
K\u00f6nnt ihr \u201ebaskisch sein\u201d und \u201ebaskische Kultur\u201d aus der Praxis beschreiben?
Klaus: Die baskische Linke hat eine sch\u00f6ne Definition von \u201ebaskisch sein\u201c: wer hier lebt, arbeitet und baskisch spricht \u2013egal wo geboren \u2013 gilt als Baskin oder Baske. Das kommt auch im Begriff zum Ausdruck, der hier f\u00fcr \u201eBask*in\u201c benutzt wird: Euskaldun. Euskara ist die baskische Sprache, euskaldun ist, wer diese Sprache spricht. Alle sind gleichzeitig Bask*innen, nicht per Geburt, sondern aufgrund ihrer sozialen Situation im Baskenland. Dennoch werden auch jene nicht ausgeschlossen, die nie Baskisch lernen konnten, weil es zum Beispiel im Franquismus verboten war.
Baskisch ist offizielle Sprache, sie ist der Mittelpunkt der baskischen Kultur. Dennoch werden Baskisch Sprechende mitunter marginalisiert. In Beh\u00f6rden zum Beispiel k\u00f6nnen nicht alle Angestellten auf Baskisch antworten, die Zweisprachigkeit ist nicht gew\u00e4hrleistet. Gleichzeitig ist die Sprache nach wie vor stark politisiert. Das hei\u00dft, wenn du mit Baskisch ankommst, bist du schon verd\u00e4chtig. Es kann passieren, dass du mit der ETA (Euskadi Ta Askatasuna, baskisch f\u00fcr Baskenland und Freiheit, fr\u00fchere marxistisch-leninistische Untergrundorganisation, Anm. Red.) in Verbindung gebracht wirst. Oder, dass du nicht bedient wirst, wenn du auf Baskisch einen Milchkaffee bestellst. Unglaublich aber wahr.
Die Haltung zu ETA war bislang in allen sozialen Bewegungen im Baskenland ein Trennungs-Kriterium. F\u00fcr die Rechte sowieso, aber auch f\u00fcr linke Gruppen. Egal ob \u00d6kolog*innen oder Antimilitarist*innen: es gab in vielen Bereichen nicht-abertzale und abertzale Organisationen, also welche, die ETA kritisiert haben oder eben nicht. Wer f\u00fcr die Rechte von politischen Gefangenen eingetreten ist war ETA-nah. Das ist heute vorbei. Die Trennungslinie ist f\u00fcr die gro\u00dfe Mehrheit nicht mehr vorhanden. Nur noch in den K\u00f6pfen der spanischen Ultrarechten. Das f\u00fchrt dazu, dass es neue Koalitionen gibt im Bereich der sozialen Bewegungen, viele Tabus sind verschwunden. Sogar die Sozialdemokrat*innen fordern die Heim-Verlegung der politischen Gefangenen. Nur bei einigen Kellnern ist die Botschaft offenbar noch nicht angekommen.
Theoretisch ist Baskisch ein Instrument zur Verst\u00e4ndigung wie Englisch, R\u00e4toromanisch, Deutsch oder jede andere Sprache. Tats\u00e4chlich ist es ein politischer Akt, auf der Stra\u00dfe Baskisch zu sprechen. Das ist traurig und ein Ergebnis der spanischen Antihaltung, die bis heute andauert. Im franz\u00f6sischen Baskenland ist die Sprache nicht einmal offiziell. \u201eBaskische Praxis\u201c dr\u00fcckt sich deshalb in ganz banalen Dingen aus. Wir versuchen, in der \u00d6ffentlichkeit, unter Freundinnen und Freunden, so viel es geht Baskisch zu sprechen. Das hat seine Grenze dann, wenn jemand die Sprache nicht versteht. Wir versuchen, Veranstaltungen m\u00f6glichst auf Baskisch zu machen, wenn das nicht geht, eine \u00dcbersetzung zu organisieren, wom\u00f6glich synchron. Alles was wir publizieren sollte zweisprachig sein \u2013 das ist immer die doppelte Arbeit. St\u00e4ndig gibt es Kampagnen zur F\u00f6rderung der baskischen Sprache. Daran teilzunehmen ist ebenfalls \u201ebaskische Praxis\u201c.
Die baskische Linke gilt in Deutschland oftmals als \u201enationalistisch\u201c. Wie w\u00fcrdest du die Spezifika eines baskischen Nationalismus erkl\u00e4ren \u2013und welche internationalistische Perspektive gibt es darin?
Klaus: Nationalismus ist ein h\u00e4ssliches Wort. Auch hier wird das ungern benutzt. Manchmal fallen uns aber keine anderen Begriffe zur Beschreibung ein. Eine Minderheit kennt zumindest noch den Eigenbegriff \u201eabertzal\u201c, der am ehesten mit \u201epatriotisch\u201c zu \u00fcbersetzen ist. Dazu sind zwei Dinge zu sagen. Erstens gibt es unterschiedliche Formen von Nationalismus: einer, der sich \u00fcber andere erhebt und sie erniedrigt, das w\u00e4re der spanische, t\u00fcrkische oder deutsche Nationalismus; und eine andere Form, die sich von Unterdr\u00fcckung und Verbot zu befreien versucht. Das ist die baskische Variante. Vielen deutschen Linken f\u00e4llt es schwer, das zu verstehen oder zu akzeptieren. Im Baskenland ist es die normalste Sache der Welt, dass \u201eAbertzalismus\u201c immer eine internationalistische Komponente hat. Das eine funktioniert nicht ohne das andere. Manche nennen diesen \u201eAbertzalismus\u201c auch den Kampf um die eigene Sprache, Kultur und Identit\u00e4t \u2013 alles Versuche, die baskische Besonderheit zu erkl\u00e4ren.
Die Verbindung von der Aufarbeitung der Geschichte \u2013 also von \u201eMemoria Historica\u201c \u2013 und Internationalismus liegt auf der Hand. Die damalige baskische Regierung hat sich im Krieg vor 80 Jahren auf die Seite der Republik gestellt, gegen den Faschismus, und hat daf\u00fcr teuer bezahlt. Das hat auch die baskische Rechte nicht vergessen. Interessanterweise gibt es hier eine anarchistische Tendenz, die ebenfalls Sympathie f\u00fcr die baskische Identit\u00e4t aufbringt. Die baskische Linke hat den Kampf gegen den Franquismus-Faschismus verbunden mit einer antikolonialen Perspektive, mit einem internationalistischen Charakter. Wir als Mitstreiter*innen des Kulturvereins f\u00fchlen uns wohl in dieser Rolle, als Internationalist*innen und Verteidiger*innen der baskischen Sprache und Kultur. Selbstverst\u00e4ndlich hat die baskische Gesellschaft das Recht zur Entscheidung \u00fcber ihre Zukunft.
In eurem Reader \u201eAntifaschistische Erinnerung Bilbao - Baskenland\u201d, der zum 80. Jahrestag der Gernika Bombardierung erschien, verweist ihr darauf, dass die bis 2018 amtierende Rechts-Regierung im spanischen Staat sich zu keiner Zeit gescheut hat \u201edie Massenm\u00f6rder in Krypten, Kirchen und anderen Gedenkst\u00e4tten zu ehren und hochleben zu lassen.\u201d Wie wichtig ist diese Praxis f\u00fcr die zentrale staatliche Hegemonie?
Klaus: Das ist nach wie vor der Fall. \u00dcberlegt doch mal, warum es in Spanien keine NPD oder AFD gibt \u2013 bei so viel rechtem Gedankengut. Die Antwort ist einfach: die \u201eVolkspartei\u201c Partido Popular (PP) von Aznar und Rajoy ist ausreichend faschistoid, um gro\u00dfe Teile der Ultra-Rechten an sich zu binden. Dazu kommt nun auch noch die neue Partei \u201eCiudadanos\u201c, die in der internationalen Presse als liberal definiert wird \u2013 nichts w\u00e4re weiter von der Realit\u00e4t entfernt. Viele dort stehen bis heute offen zum Franquismus. Sie sind gegen die Exhumierung des Massenm\u00f6rders aus dem Mausoleum. Sie wollen keine Aufarbeitung der Verbrechen des Spanienkrieges. Sie wollen nicht die 140.000 Leichen aus den \u00fcber den ganzen Staat verstreuten Massengr\u00e4bern heben. Sie wollen nicht die Besonderheit der historischen Nationen Galicien, Katalonien, Baskenland anerkennen.
Die Transici\u00f3n (spanisch: \u00dcbergang, Anm. Red.) von der Diktatur zur Demokratie in den 1970er Jahren war eine einzige Farce. Der Diktator ist im Bett gestorben, der \u00dcbergang war gut vorbereitet. Der neue K\u00f6nig hatte seinen Eid auf die franquistischen Werte geschworen und wurde nie demokratisch legitimiert. Milit\u00e4r, Polizei, Justiz und politische Klasse blieben auf ihren Posten \u2013 bis heute. Die Sozialdemokrat*innen von der PSOE schworen dem Marxismus ab \u2013 sicher auf Anraten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Und die Kommunisten von der PCE sagten \u201eja\u201c zu allem, nur um wieder legalisiert zu werden. Gleichzeitig mit der Amnestie f\u00fcr die politischen Gefangenen des Regimes wurde 1977 eine Amnestie f\u00fcr alle franquistischen Verbrechen beschlossen. Das verst\u00f6\u00dft gegen die Internationale Menschenrechts-Konvention, denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit k\u00f6nnen weder verj\u00e4hren noch amnestiert werden. Die UNO kritisiert das. In den lateinamerikanischen L\u00e4ndern konnten solche Amnestie-Gesetze nicht gehalten werden, zum Beispiel in Chile, Uruguay oder Argentinien. Im spanischen Staat aber schon. So kann es nicht verwundern, dass eine Mehrheit in Katalonien eine unabh\u00e4ngige Republik haben will und viele im Baskenland auch.
Ein weiteres Beispiel: Als die Nazis Gernika zerbombten, sagten die Franquisten, die Basken und \u201edie Roten\u201c selbst h\u00e4tten die Stadt angez\u00fcndet. W\u00e4hrend der gesamten Diktatur war dies die offizielle Version. Und danach? In 40 Jahren hat keine einzige der sogenannten \u201edemokratischen\u201c Regierungen je diese L\u00fcge berichtigt, geschweige denn, sich f\u00fcr die Kriegsverbrechen entschuldigt. Die \u201eGernika-L\u00fcge\u201c ist somit nach wie vor ein aktuelles Thema. Das ist nur ein wichtiges Detail f\u00fcr die Menschen im Baskenland. Solche Details gibt es viele. Manche behaupten ernsthaft, in Gernika seien damals gerade mal 15 Menschen ums Leben gekommen. Auf diese Art wird Gernika immer noch bombardiert.
Der Franquismus hat im Staat nach wie vor die Hegemonie \u2013 um auf die Ausgangsfrage zur\u00fcckzukommen. Zentralismus, Unteilbarkeit des Staates, \u201eGuardia Civil\u201c und Katholizismus sind weiterhin die Fundamente. Dazu kommt die Korruption als politisches Selbstverst\u00e4ndnis. Viele Linke w\u00fcrden liebend gerne das deutsche F\u00f6deralismus-Modell \u00fcbernehmen \u2013 aber das hat keine Chance. Kann sich in Deutschland jemand eine \u201eAdolf-Hitler-Stiftung\u201c vorstellen, die j\u00e4hrlich mit Millionen aus der Staatskasse finanziert wird, die staatliche Dokumente aus der Nazizeit in ihren Archiven hat, die f\u00fcr niemand zug\u00e4nglich sind? Genau das ist eine spanische Realit\u00e4t: die Franco-Stiftung. Da soll bitte niemand von \u201eDemokratie\u201c reden. Daran \u00e4ndert auch der Schwenk der Sanchez-Regierung nichts, falls Franco tats\u00e4chlich aus dem Mausoleum geholt wird.
Wie sieht die \u00f6ffentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte sowohl von staatlicher aber auch zivilgesellschaftlicher Seite im Stadtbild von Bilbo (Bilbao) aus?
Klaus: Der gro\u00dfe Unterschied zwischen dem Baskenland beziehungsweise Spanien und Deutschland ist, dass die antifaschistische Aufarbeitungs-Bewegung hier von unten kommt. Im spanischen Staat waren es Basisbewegungen, die mit der Aufarbeitung der Diktatur und ihren Konsequenzen begannen, mit der Forschung in Archiven, mit Publikationen und Gedenkveranstaltungen f\u00fcr Opfer des Franquismus, oder mit der Exhumierung von Massengr\u00e4bern. In Deutschland kam das von oben, \u00fcber die \u201eN\u00fcrnberger Prozesse\u201c, die Kontrolle der Alliierten, mit all ihren Defiziten. Hier hat es 30 Jahre gedauert, bis staatliche Stellen begannen, die Forderungen dieser Volksbewegung auch nur halbwegs ernst zu nehmen. Das Memoria-Gesetz der Regierung Zapatero ist aus dem Jahr 2007, 32 Jahre nach Francos Tod. F\u00fcr alle Linken und Republikaner*innen ist es v\u00f6llig unzureichend! Und f\u00fcr die spanische Rechte v\u00f6llig \u00fcberfl\u00fcssig. Erst 43 Jahre nach dem Tod des Massenm\u00f6rders kam ein Regierungschef auf die Idee, dass Franco aus dem Mausoleum und faschistischen Pilgerort geholt werden sollte.
Im Baskenland, insbesondere in Bilbao war es \u00e4hnlich. Die faschistischen Stra\u00dfennamen wurden bereits in den 1980er Jahren abgeschafft. Aber nicht viel mehr. Die baskischen Christdemokraten hatten zwar einen antifranquistischen Diskurs, aber keine Praxis. Franquistische Symbole, obwohl vom Gesetz mittlerweile verboten, wurden nicht entfernt. Als Memoria-Bewegung haben wir die Stadtregierung von Bilbao verklagt und sie so zur Entfernung der Symbole gezwungen. Die baskische Regierung \u2013 ebenfalls baskische Christdemokrat*innen \u2013 hat sich mittlerweile eine andere Praxis angeeignet. Sie versuchen, sich an die Spitze der Memoria-Bewegung zu stellen, machen Gedenkveranstaltungen, eine Landkarte mit Massengr\u00e4bern und kontinuierlich Exhumierungen. Damit sind sie der spanischen Praxis meilenweit voraus.
Im gesamten Staat gibt es noch mehr als 300 Stra\u00dfen, die den Namen Franco tragen. Im Baskenland keine. Das ist ein qualitativer Unterschied. In Bilbao sind die franquistischen Spuren weitgehend beseitigt. Was fehlt, sind Erkl\u00e4rungen. Es gibt so gut wie keine \u00f6ffentliche Erinnerung an den Franquismus an den Orten der Gr\u00e4uel. Gegen\u00fcber vom Guggenheim-Museum steht ein pr\u00e4chtiger Bau: die private Jesuiten-Universit\u00e4t. Die wenigsten in Bilbao wissen, dass das ein franquistisches Konzentrationslager war. Dort wurden Leute liquidiert. Vor Jahren brachte eine Memoria-Gruppe eine Gedenktafel an. Sie wurde sofort wieder abgerissen. Erinnerung ist nicht erw\u00fcnscht. Die neuen Generationen wachsen ohne diese Erinnerung auf. Nur das Guggenheim z\u00e4hlt. Wir als Kulturverein haben vor vier Jahren einen Antrag gestellt, an einem Geb\u00e4ude der Altstadt eine Tafel anzubringen zur Erinnerung an eine folgenschwere Bombardierung durch die Legion Condor. Die Hausbewohner*innen waren einverstanden, der Nachbarschaftsverein unterst\u00fctzte uns, ein Bauzeichner malte eine professionelle Skizze \u2013 vergebens. In einem pers\u00f6nlichen Empfang beim stellvertretenden B\u00fcrgermeister wurde uns gesagt, man wolle kein Einzelgedenken an verschiedenen Stellen, sondern nur generell. Wir haben nie eine Absage erhalten. Das ist deren Politik. Doch letztendlich sind wir nicht von denen abh\u00e4ngig. Bei unseren historischen Rundg\u00e4ngen durch Bilbao berichten wir von diesen Geschichten. Auf Baskisch, Spanisch, Englisch und Deutsch. Und die Leute sind dankbar.
Welche M\u00f6glichkeiten der kollektiven Thematisierung und Aufarbeitung der Verbrechen seht ihr f\u00fcr die gesellschaftliche Ebene in Deutschland aus baskischer/spanischer Perspektive?
Klaus: Wie vorher angedeutet: die Situation ist schwer vergleichbar. Antifaschismus von oben oder von unten. Wir wollen auch keine schlauen Ratschl\u00e4ge geben. Antifaschismus in Deutschland muss die Sache der deutschen Linken sein. In Wunstorf zum Beispiel, im Milit\u00e4rst\u00fctzpunkt, aus dem seinerzeit die \u201eLegion Condor\u201c kam. Dort wurde im vergangenen Jahr von der Bundeswehr ein Gernika-Gedenkstein aufgestellt. Das ist Geschichtsklitterung. Wir haben das scharf kritisiert, in Deutschland aber sehr wenig Unterst\u00fctzung erhalten.
Vielleicht noch eine Bemerkung zum Verh\u00e4ltnis der Baskinnen und Basken zu den Deutschen. Neulich wurde ich gefragt, ob es da nicht bis heute Vorbehalte g\u00e4be. Immerhin war es die \u201eLegion Condor\u201c, die in Gernika und vielen anderen St\u00e4dten einen Massenmord ver\u00fcbt hat. Keine Vorbehalte, musste ich zur Antwort geben. Nie habe ich ein negatives Wort \u00fcber \u201edie Deutschen\u201c geh\u00f6rt. \u00dcber die Nazis sehr wohl, aber nicht \u00fcber \u201edie Deutschen\u201c. Die Leute im Baskenland haben eines klar: die Nazis waren die Helfer*innen, mit viel Eigeninteresse, zum Test ihrer Waffen f\u00fcr den n\u00e4chsten Krieg. Aber die Verantwortlichen f\u00fcr den Milit\u00e4raufstand waren die spanischen Franquist*innen.
In dem bereits erw\u00e4hnten Reader schreibt ihr von der Erinnerung an 80 Jahre alte Gr\u00e4uel und Verbrechen, die nie aufgearbeitet wurden und kommt zu dem Schluss \u201eDoch l\u00e4sst der Weg zu einer wirklich demokratischen Gesellschaft f\u00fcr republikanische und antifaschistische Kr\u00e4fte keine andere Wahl. Bis zum Erreichen dieses Ziels stehen die Prinzipien der historischen Wahrheit, der Wiedergutmachung und der Garantie der Nichtwiederholung im Vordergrund\u201d. Kannst du das etwas ausf\u00fchren?
Klaus: Das ist unsere Aufgabe und daran arbeiten wir: Wahrheit, Wiedergutmachung, Nichtwiederholung. Dazu kommt die Forderung, dass die Amnestie f\u00fcr die Diktaturverbrechen zur\u00fcckgenommen werden muss. Diese Forderung teilen wir immerhin mit Amnesty International und der UNO. Die \u00fcbrig gebliebenen Faschist*innen m\u00fcssen vor Gericht gestellt werden, und sei es \u00fcber die argentinische Justiz. Hintergrund dieser argentinischen Klage ist die Universalit\u00e4t der Menschenrechte: sie k\u00f6nnen \u00fcberall eingeklagt werden. Ein Franquismus-Opfer mit doppelter Staatsangeh\u00f6rigkeit brachte sie in Gang. Er klagte in Argentinien gegen franquistische Verbrechen. Eine Richterin in Buenos Aires nahm sich der Klage an und verfolgt sie. Mittlerweile haben sich hunderte von Einzelpersonen und Beh\u00f6rden im Baskenland dieser Klage angeschlossen, die Richterin hat zuerst die Vernehmung der noch lebenden T\u00e4ter und dann deren Auslieferung beantragt \u2013 die spanische Regierung hat ein Problem.
Den Kl\u00e4ger*innen geht es weniger Dabei geht es nicht um konkrete Strafen, es geht vielmehr um juristische Anerkennung der Verbrechen. Solange der spanische Staat zu diesen Anstrengungen nicht in der Lage ist, werden wir ihn weiter post-franquistisch und faschistoid nennen, oder \u201edas Regime von 1978\u201c, dem Jahr der Pseudo-Verfassung.
Daneben geht es um die staatliche Anerkennung der jahrzehntelangen Folterpraxis. Im Baskenland wurden seit den 1960er Jahren ca. 10.000 Menschen gefoltert. Es gab Todesschwadrone, \u201eschmutzigen Krieg\u201c, gef\u00e4lschte Verfahren, Kinderraub. All das muss aufgekl\u00e4rt werden; staatliche Stellen m\u00fcssen sich dazu \u00e4u\u00dfern. Bevor das nicht geschieht, sprechen wir nicht von Demokratie.
Es war enorm schwierig, vor zwanzig, drei\u00dfig Jahren die Memoria-Bewegung in Gang zu bringen. Viele Menschen hatten Angst, dass die Schl\u00e4chter zur\u00fcckkommen, aus ihren Kasernen oder Richterb\u00fcros. Viele hielten ihren Mund, die Angst sa\u00df unvorstellbar tief, teilweise bis heute. Das konnte keine noch so tolle Verfassung \u00e4ndern. Die Politiker waren dieselben, die \u201eGuardia Civil\u201c waren dieselben, die Richter waren dieselben. Und 1982 gab es auch noch einen neofranquistischen Putschversuch in Madrid. Solange 140.000 Leichen in spanischer Erde liegen, ist dies ein Grund mehr, diesen Staat zum Erliegen zu bringen. \u201eBy any means necessary\u201c, um mit Malcolm X zu sprechen.
Welche Rolle spielt diese Erkenntnis in der aktuellen Praxis der revolution\u00e4ren Linken nach dem Ende des bewaffneten Kampfs im Baskenland?
Klaus: Diese Erkenntnis verbreitet sich immer mehr. Vor allem in der Linken, in abgestufter Form, wird die Notwendigkeit der Aufarbeitung von verschiedenen Organisationen geteilt. In der Sozialdemokratie gibt es sicherlich auch ein paar Ehrliche, die den Franquismus aufarbeiten wollen. In den Resten der Kommunistischen Partei Spaniens (PCE) ebenfalls. Auch bei Podemos. Doch am Recht auf Selbstbestimmung \u2013 so urdemokratisch das sein mag \u2013 scheiden sich die Geister. Die meisten Einsichtigen sind sicher in Katalonien und im Baskenland zu finden - interessanterweise sowohl im linken wie im rechten Lager.
Von einer \u201erevolution\u00e4ren Linken\u201c zu sprechen w\u00e4re aber \u00fcbertrieben. Wir sehen Ans\u00e4tze, aber keine Bewegung, die die Bezeichnung derzeit verdient. Wenn Revolution Umw\u00e4lzung bedeutet, trifft dies derzeit am ehesten f\u00fcr Katalonien zu. Wenn auch nur bedingt unter linken Vorzeichen. Die Linke im Baskenland befindet sich in einer anderen Etappe. Der mehrheitliche Teil setzt auf Realpolitik in den Parlamenten und ist dabei, die Bodenhaftung zu verlieren, nach dem Beispiel der deutschen Gr\u00fcnen vor 30 Jahren. Gegen diese Tendenz formiert sich eine au\u00dferparlamentarische Opposition, die Konturen sind aber noch nicht besonders klar. Die Etappe des bewaffneten Kampfes ist noch zu nah, um die Debatte um linke Neuorientierung n\u00fcchtern und vern\u00fcnftig zu f\u00fchren. Was uns bleibt ist, in den Basisbewegungen zu arbeiten und dort Gegenmacht aufzubauen, mit oder ohne institutionelle Unterst\u00fctzung. Was z\u00e4hlt ist die Stra\u00dfe, die feministische Bewegung, die Nachbarschaftsarbeit, die Fl\u00fcchtlingsarbeit, die direkte Solidarit\u00e4t, die Mobilisierung der Menschen f\u00fcr all das.
Im Baskenland haben wir nicht die schlechtesten Voraussetzungen f\u00fcr eine Neudefinition von linker Politik. Immerhin stehen wir nicht mit dem R\u00fccken zur Wand wie in vielen europ\u00e4ischen L\u00e4ndern, wo die Ultra-Rechte ganze Regierungen \u00fcbernimmt. Linke Ideen stehen hier nach wie vor hoch im Kurs. Konzepte f\u00fcr den gro\u00dfen Wurf hat derzeit niemand, wir machen uns da nichts vor. Es ist ein sehr schlechtes Zeichen, wenn in Europa oder Amerika ganze Arbeiter*innenviertel in die Lager der Ultra-Rechten wechseln. Das ist nicht nur einer faschistoiden Propaganda geschuldet, sondern auch unseren eigenen M\u00e4ngeln. Wo hat die Linke noch eine ideologische Hegemonie? Vielleicht im Baskenland. Wir m\u00fcssen \u00dcberzeugungsarbeit leisten, nicht nur mit Worten, sondern mit konkreter Arbeit. Basisarbeit. In der Nachbarschaft, bei Hausbesetzungen, mit Selbstorganisation, Gefl\u00fcchtetenarbeit und internationaler Solidarit\u00e4t. Revolution\u00e4re Diskurse sollten wir uns f\u00fcr andere Momente sparen.
Anmerkung
Auf dem Transparent des Titelbildes steht:
NEIN ZUR STRAFFREIHEIT DES FRANQUISMUS