First they take Exarchia...
\nDas rebellische Viertel Exarchia in Athen, heute morgen: Die Bilder sprechen Horrorb\u00e4nde. Hunderte Riotcops mit Tr\u00e4nengas und zugeh\u00f6rigen Gasmasken stehen parat. Spezialeinheiten aller Art. Motorr\u00e4der. Sogar Hubschrauber. Ein ganzes Viertel gesperrt. Jeder normal denkende Mensch w\u00fcrde vermuten, hier bricht gleich ein B\u00fcrgerkrieg oder schlimmeres aus. Logik oder irgendwas \u00c4hnliches \u2013 fehl am Platz. Denn dann w\u00fcrde das hier nicht passieren: Der griechische Staat sendet seine ganze Repressionsarmada aus, um Besetzungen von gefl\u00fcchteten Migrant*innen zu r\u00e4umen. Es kann nicht besser beschrieben werden als in den Worten des antinationalen Theoretikers Akis Gavriilidis:
\u201eDiese Angelegenheit ist eine skandal\u00f6se Verschwendung \u00f6ffentlicher Mittel, f\u00fcr ein Ergebnis, das nicht nur Null, sondern in jeder Hinsicht negativ ist: moralisch, rechtlich, praktisch, wirtschaftlich und was auch immer man sich vorstellen kann. Dutzende von Gefl\u00fcchteten \u2013 darunter auch Kinder \u2013, die kein Verbrechen begangen haben, einzusacken, um von Orten vertrieben zu werden, an denen sie ein menschenw\u00fcrdiges Leben f\u00fchrten, das sie selbst mit gestaltet haben, mit der einzigen Aussicht, in eine H\u00f6lle eingesperrt zu werden, in der sie unter viel schlimmeren Bedingungen leben, die auf Passivit\u00e4t und Unt\u00e4tigkeit hinarbeiten. Ich kann nicht sehen, wen diese Aktion gl\u00fccklich machen kann, abgesehen von Rassisten und Schl\u00e4gern. Als griechischer B\u00fcrger fordere ich, dass mir erkl\u00e4rt wird, warum \u00f6ffentliche Mittel f\u00fcr so ein unethisches, illegales und ineffektives Ergebnis verschwendet wurden.\u201c Oder die Besetzer*innen selbst: \u201eDer faschistische Staat hat uns heute um sechs Uhr morgens vertrieben und sie bringen uns zur Polizeistation Petrou Rali. Sie haben uns aus unserem Haus geholt. Sie nehmen unsere Sachen aus dem Geb\u00e4ude und schlie\u00dfen die T\u00fcr und blockieren den Eingang und die Fenster. Sie versuchen, uns zu begraben. Sie wissen nicht, dass wir Samen sind.\u201c
Heute morgen wurden vier Besetzungen im Athener Stadtteil Exarchia ger\u00e4umt: Spirou Trikoupi 17, Transito, Rosa de Fon und die anarchistische Besetzung Gare. Die Offensive betrifft derzeit den nordwestlichen Teil des Bezirks, ausgenommen ist bisher die Besetzung Notara 26, die als erste historische Besetzung der \u201eFl\u00fcchtlingskrise\u201c in der Athener Innenstadt besser bewacht und f\u00fcr den Bezirk von hoher symbolischer Bedeutung ist. Es wurden 143 Personen aus zwei Geb\u00e4uden in der Spirou Trikoupi 17 mitgenommen und zur Ausl\u00e4nderbeh\u00f6rde Atticas gebracht, um dort zu untersuchen, ob sie eine legale Aufenthaltserlaubnis im Land haben. Von den 143 Menschen sind 57 M\u00e4nner, 51 Frauen und 35 Minderj\u00e4hrige aus dem Iran, dem Irak, Afghanistan, Eritrea und der T\u00fcrkei.
Von einem weiteren Geb\u00e4ude in der Kallidromiou Stra\u00dfe wurden laut Polizeiinformationen drei anwesende Personen in Gewahrsam genommen und zum Athener Polizeipr\u00e4sidium gebracht. Das vierte Geb\u00e4ude, in der Fotila Stra\u00dfe, war zum Zeitpunkt der R\u00e4umung leer. Bei der Operation beteiligten sich Einheiten der Riotpolizei MAT, diverse Spezialeinheiten zur Identifizierung und Spurensicherung, sowie die Motorradpatrouille DIAS. Anscheinend wurden keine Drogen oder Waffen in den Geb\u00e4uden gefunden \u2013 von \u201eGefahr\u201c also keine Spur. Gleichzeitig lie\u00df ein Polizeisprecher im griechischen Privatfernsehen verlauten: \u201eWir sind der neue ger\u00e4uschlose Staubsauger, der den ganzen M\u00fcll einsaugen wird\u201c.
Unser Exarchia \u2013 ihr Exarchia
Wenn es nach den Wohlhabenden geht, soll Exarchia endlich zum Vorzeigeviertel von Athen verwandelt werden. Yuppiecaf\u00e9s, Massentourismus und sch\u00f6ne Aussichtspunkte sollen dies m\u00f6glich machen. Zum Gl\u00fcck ist die Realit\u00e4t noch sehr fern von dieser Vision, die seit den 1990ern immer wieder in den K\u00f6pfen der Stadtplaner*innen und Herrschenden rumgeistert.
Insgesamt gibt es 23 Besetzungen in Exarchia und 26 weitere im Bezirk, also insgesamt 49 Besetzungen, die sich auf ein relativ kleines Gebiet konzentrieren. 49 Besetzungen, zu denen weitere Formen von selbstverwalteten Orten hinzukommen, von denen einige gemietet werden \u2013 wie etwa das soziale Zentrum Nosotros \u2013, sowie Dutzende von Privath\u00e4usern, die Aktivist*innengruppen beherbergen. Exarchia, bekannt als alternatives Stadtviertel mit linker und anarchistischer Tradition und Basis illegaler Aktivit\u00e4ten jeglicher Art, war dem Staat und seinen Regierungen schon immer ein Dorn im Auge. Immer wieder muss es im \u00f6ffentlichen Sicherheitsdiskurs als Beispiel des \u201eAusnahmezustands\u201c herhalten. In den letzten Jahren griffen die Konservativen die steigende Anzahl an Ausschreitungen \u00f6fter auf, um der Regierung von Alexis Tsipras Kontrollverlust vorzuwerfen. In einer Parlamentsdebatte behauptete der Chef der konservativen Nea Demokratia (ND) und damalige Oppositionsf\u00fchrer, Kyrgiakos Mitsotakis, dass er im Falle einer Regierungs\u00fcbernahme \u201eExarchia aufr\u00e4umen werde\u201c. Syriza antwortete damals auf solche Vorw\u00fcrfen mit der Infragestellung einer klassischen \u201eLaw-and-Order-Politik\u201c, die nur auf \u201erepressive Polizeieins\u00e4tze und dem Sch\u00fcren von Hass aufbaut\u201c. Dies hinderte aber die damalige Regierungspartei nicht daran, selbst R\u00e4umungen von Besetzungen von Gefl\u00fccheten durchzuf\u00fchren. Das Zitat von Mitsotakis macht bis heute die Runde in den sozialen Medien \u2013 den damaligen Drohungen, die bel\u00e4chelt wurden, folgen aber nun, da Mitsotakis Premierminister ist, Taten.
Einem Plan zufolge, an dessen Ausarbeitung und Umsetzung sich Mitarbeitende verschiedener Abteilungen der Stadt Athen wie etwa Umwelt und Stra\u00dfenbau beteiligt haben, soll Exarchia regelrecht ges\u00e4ubert werden \u2013 vom illegalen Drogenhandel und von Sex-Arbeit ebenso wie von Gefl\u00fcchteten und \u201eantistaatlichen Elementen\u201c wie etwa anarchistischen Gruppen. Die Vision sieht den Bau der U-Bahn Station Exarchia innerhalb von f\u00fcnf Jahren vor, auch die Entfernung von Graffitis und den Bau neuer Stra\u00dfenlaternen. Schon im Sommer begann die erste Phase des gro\u00dfangelegten Aktionsplans mit verst\u00e4rkten polizeilichen Kontrollen. Bei einer wurden ganze 42 Gramm Gras (!!!) gefunden und als Riesenfundst\u00fcck der \u00d6ffentlichkeit pr\u00e4sentiert. Es sollen weitere R\u00e4umungen folgen, um sich langsam aber sicher bis zum pers\u00f6nlichen Erzfeind von Mitsotakis, zu der revolution\u00e4ren und bei der Bev\u00f6lkerung durch ihre Aktionen beliebten Gruppe Rouvikonas, vorzuarbeiten. Rouvikonas, benannt nach dem Fluss Rubikon, hat in den letzten Jahren spektakul\u00e4re direkte Aktionen gegen Privatfirmen, staatlichen Stellen und Botschaften durchgef\u00fchrt und war mehrmals Thema im griechischem Parlament. Laut Medienberichten dient die anarchistische Besetzung Vox direkt am Exarchia Platz der Gruppe als Basis. Phase Eins lautet also s\u00e4ubern und aufr\u00e4umen, Phase zwei das Gebiet halten und erste oberfl\u00e4chliche Ver\u00e4nderungen am Stadtteil durchf\u00fchren, Phase drei der Aufbau des Athener Montmartre.
Der Rollback
Gestern wurde der neue Athener B\u00fcrgermeister, der konservative Kostas Bakoyannis vereidigt. Die heutigen Aktionen der griechischen Polizei sind daher kein Zufall. Die Aktionen des heutigen Tages sollen aber zugleich auch der offizielle Start der Erfolgsgeschichte des neuen Premiers Konstantinos Mitsotakis sein \u2013\u2013 perfekt getimed zur gro\u00dfen Sommerr\u00fcckkehr aus Urlaub und Saisonarbeit. Fast parallel zu der heutigen Repressionsoffensive annoncierte Mitsotakis im griechischen Parlament die Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen, die seit 2015 Griechenland \u201eplagten\u201c. Ein Erfolg f\u00fcr ihn, dank seines Freundes Yannis Stournaras, des Pr\u00e4sidenten der griechischen Zentralbank. Ein Erfolg, welcher der Syriza-Regierung durch Druck der \u201einternationalen Partner\u201c verwehrt wurde.
Die heutigen R\u00e4umungen in Exarchia sollten nicht nur als Teil eines regionalen Aktionsplans gesehen werden, sondern als Teil eines noch gr\u00f6\u00dferen Plans. Die Regierung der Nea Dimokratia ist eine Mischung aus kapitalgeilen, konservativen und neofaschistischen Elementen, die eine soziale Zertr\u00fcmmerung veranlassen wollen, die sogar den Ausverkauf des Landes w\u00e4hrend der Krise \u00fcbertreffen w\u00fcrde. Diese heuchlerische Regierung, die wie ein Bild aus der Vergangenheit anmutet, wird mehrere Fronten in Angriff nehmen \u2013 zuerst wird sie sich f\u00fcr die Aufhebung der Kapitalkontrollen feiern lassen, scheinbar etwas Geld an Kleinunternehmer*innen verteilen und somit vermeintlich deren Leben erleichtern, dann aber die soziale Katastrophe in Gang setzen.
Die Abschaffung des Universit\u00e4ts-Asyls \u2013 eine Regelung, die seit der Milit\u00e4rdiktatur gilt und die der Polizei das Betreten von Universit\u00e4tsgel\u00e4nden verbietet gilt \u2013, ist nur der erste Schritt in der endg\u00fcltigen Neoliberalisierung der griechischen Universit\u00e4ten. Die Gr\u00fcndung privater Unis und somit von Investitionen von Firmen und ihren Partner*innen im Universit\u00e4tssystem werden diesmal nicht scheitern. Dagegen formiert sich wieder Protest, von Student*innen bis Professor*innen, aber noch nicht so massenhaft wie beim letzten neoliberalen Angriff auf das Bildungssystem 2006 bis 2007. Das soziale Netz ist zerst\u00f6rt nach Jahren der Krise und politische Organisierungsprozesse befinden sich nach der Entt\u00e4uschung der Linksregierung am Boden. Gleichzeitig werden weitere Privatisierungen angetrieben, die vorher noch blockiert wurden, wie der Verkauf der staatlichen Elektritzit\u00e4tsfirma DEI oder des alten Flughafengel\u00e4ndes in Athen, Elliniko. Und \u201egriechische Werte\u201c d\u00fcrfen und sollen wieder zelebriert werden. R\u00e4umungen von Gefl\u00fcchteten sollen nat\u00fcrlich auch die Zustimmung der rechten bis faschistischen W\u00e4hlerschaft verst\u00e4rken, die von Goldene Morgenr\u00f6te zur\u00fcck an die Nea Dimokratia gewandert ist.
Das Startsignal wurde gegeben
Widerstand in Griechenland wird aber wieder aufkommen \u2013 auf allen Ebenen. Nicht wegen dem \u201eaufr\u00fchrerischen griechischen Blut\u201c oder sonstigem mystischem Unsinn, aber wegen der kontinuierlichen Geschichte der sozialen K\u00e4mpfe seit Beginn des letzten Jahrhunderts. Es ist nicht die Geschichte von angezettelten Weltkriegen oder friedlichen Revolutionen, sondern die Geschichte von gro\u00dfen Widerst\u00e4nden gegen den deutschen und griechischen Faschismus und von Aufst\u00e4nden abseits von identit\u00e4ren Millieus. In Exarchia wird der Kampf ums Territorium nur dann erfolgreich sein, wenn er sich als Teil einer gr\u00f6\u00dferen Gegenoffensive versteht. Eine, die schon im Kern von Exarchia steckt. Nicht mehr oder weniger als der Wunsch, die Welt zu ver\u00e4ndern. Daf\u00fcr muss erstmal die Solidarit\u00e4t wieder aufgebaut werden: Nach der R\u00fcckkehr aus dem Sommerloch und den ersten Repressionsschl\u00e4gen beraten sich alle gemeinsam und zwar heute Abend in der bekannten Besetzung von und f\u00fcr Gefl\u00fcchteten Notara 26. Und f\u00fcr uns im Ausland ist es wieder Zeit, wachsamer zu sein \u2013 nach Jahren der relativen Unt\u00e4tigkeit in unserer Solidarit\u00e4tsarbeit w\u00e4hrend der Syriza-Regierung. Lange haben wir nicht mehr die griechischen Botschaften und Niederlassungen des Staates besucht. Exarchia wird fallen, wenn es sich fallen l\u00e4sst und wir es fallen lassen. Wenn es bestehen bleibt, wird es ein Leuchtturm f\u00fcr uns alle sein in unseren unerledigten Abenteuern.
Themenschwerpunkt "Krise in Griechenland"
- Notwendiger denn je! | Eleni Triantafyllopoulou
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