Solidarit\u00e4t hei\u00dft Solidarit\u00e4t f\u00fcr Alle
\n[Editorial:] Am 05. April 2020 versammelten sich zum bundesweiten Aktionstag der Seebr\u00fccke-Solidarit\u00e4tsgruppen in Frankfurt am Main Menschen, um gegen die unhaltbaren Zust\u00e4nde in den Gefl\u00fcchtetenlagern auf der Balkanroute zu demonstrieren. Unter dem Vorwand des Infektionsschutzes kam es zu Repression - auch dokumentiert von den Kolleg*innen des Medienkollektivs Frankfurt. Nachfolgend ein Bericht der Aktivistin Karin von der Seebr\u00fccke Frankfurt.
Am vergangenen Sonntag trafen wir uns einzeln, aber gemeinsam in Frankfurt/M auf der Stra\u00dfe, um an dem bundesweiten Seebr\u00fccke-Aktionstag teilzunehmen. Wir bildeten dabei am Ufer des Mains eine Menschenkette. Wir trugen Mundschutz, hielten Abstand von zwei bis drei Metern und ber\u00fchrten uns nicht. Dabei hatten wir Schilder und Transparente, Fahnen und Rettungswesten, um auf unsere Forderung nach sofortiger Evakuierung der griechischen Gefl\u00fcchtetenlager aufmerksam zu machen. Dem Vorschlag folgten hunderte Aktivist*innen: Ein beeindruckendes Bild des Protestes und ein gro\u00dfer politischer Erfolg in der Stille, die durch den Corona-Shutdown eingetreten ist. W\u00e4hrend ein Gro\u00dfteil der Beteiligten die Aktion selbstbestimmt verlassen konnte, eskalierte die Polizei gegen Ende v\u00f6llig unn\u00f6tig und grundlos durch brutale Ingewahrsamnahmen und Personalienfeststellungen.
Was war passiert? Bei diesem Wetter ist das Mainufer ein viel besuchter Ausflugsort. Unser Versuch nicht nur zu spazieren, nicht nur am Mainufer rumzustehen oder zu sitzen, nicht nur zu lesen, sich zu sonnen oder eine Zigarette zu rauchen, sondern dabei auch noch ein Schild mit einer Botschaft zu tragen, wurde zum Problem erkl\u00e4rt. Denn ein Schild verweist auf zwei Sachen: Auf koordiniertes, abgesprochenes Verhalten und auf eine gemeinsame Botschaft. Diese Tatsache macht mehrere Personen mit Schild juristisch zu einer Versammlung, die nach Auslegung der hiesigen Corona-Verordnung durch die Polizei derzeit in jedweder Form verboten ist.
Dass hier eine Versammlungsanmeldung vorlag und einfach ignoriert wurde, und dass die Rechtsgrundlage diese Interpretation der Frankfurter Polizei gar nicht hergibt, ist das eine. Mindestens genau so problematisch ist aber der Umstand, dass sich bei der Polizei (und nicht nur der hessischen) offensichtlich Eigendynamiken in einer vermeintlich rechtm\u00e4\u00dfigen Exekutierung einstellen. Durch das Verhalten der Polizei wurde unsere Aktion der Seebr\u00fccke neben dem Einsatz f\u00fcr die Rechte und den Schutz der Gefl\u00fcchteten pl\u00f6tzlich zus\u00e4tzlich zu einer Auseinandersetzung um Grundrechte.
Dass der \u00fcberwiegende Teil der Bev\u00f6lkerung weiterhin arbeitet, die \u00f6ffentlichen Verkehrsmittel genutzt werden, Menschen in langen Schlangen an Supermarktkassen anstehen oder in der Sonne im Park sitzen ist kein Problem, sondern Corona-Alltag. Dass all diese Menschen die Corona-Schutzvorschriften des Abstands, der Hygiene und so weiter mal mehr, mal weniger genau einhalten, ebenso. Wenn dann die Polizei (wohlgemerkt ohne Mundschutz) einen Protest von Aktivist*innen unterbinden will, der unter penibler Einhaltung des Abstands stattfindet, wirft das einige Fragen auf. Sie muss sich fragen lassen, worum es hier eigentlich geht, worin sich denn die Menschenkette am Main von denen vor den Superm\u00e4rkten unterscheiden soll? Wenn dann aber die Polizist*innen Menschen brutal festhalten, mit Kabelbinder fesseln, auf den Boden dr\u00fccken und sogar ein Presseausweis Journalist*innen nicht vor der gleichen Behandlung sch\u00fctzt, muss man konstatieren, dass der Polizei wohl Allmachtsphantasien zu Kopf gestiegen sind.
Die Situation der Gefl\u00fcchteten ist ersch\u00fctternd. Politiker*innen, Journalist*innen und Strukturen der Selbstorganisierung von Gefl\u00fcchteten sind in Moria, berichten t\u00e4glich von unhaltbaren und inhumanen Bedingungen aus den Lagern Griechenlands, von der griechisch-t\u00fcrkischen Grenze, aber auch vom Balkan. Sie sprechen davon, dass diese Bedingungen auch ohne Corona schon lebensgef\u00e4hrlich seien, dass das flie\u00dfende Wasser abgestellt worden sei, dass es zu wenig Nahrungsmittel g\u00e4be, dass Angst und Verunsicherung unter den eng beieinander lebenden Menschen stetig stiegen. Aber diese Nachrichten verhallen. Sie prallen f\u00f6rmlich ab. Es kommt zu keiner Rettung, zu keinen Asylverfahren und noch nicht einmal zu einer Verbesserung der dortigen Versorgung. Hier wird deutlich: Es ist ein Privileg, Abstand halten zu k\u00f6nnen. Es ist ein Privileg, Corona-Regeln einhalten zu k\u00f6nnen. F\u00fcr die Forderung, die Lager zu evakuieren, gilt es deshalb keine Zeit zu verlieren. Ein Protest, um dies durchzusetzen, kann nicht bis zur \u201eNach- Corona-Zeit\u201c warten. Deswegen werden wir keine Ruhe geben, bis unsere Forderungen umgesetzt sind.
Wir waren am vergangenen Sonntag viele. Und trotz des unr\u00fchmlichen Verhaltens der Polizei sind wir alle mit St\u00e4rke und einer gewachsenen Vorstellung davon nach Hause gegangen, dass Protest in Zeiten von Corona nicht nur m\u00f6glich ist, sondern auch fortgesetzt werden muss. Uns geht es dabei nicht ums Prinzip, sondern um Solidarit\u00e4t f\u00fcr alle.