Umk\u00e4mpfte Erinnerungen
\nJedes\nJahr findet in der lettischen Hauptstadt Riga eine der letzten\nrelevanten faschistischen Gro\u00dfveranstaltungen statt. Bis zu\nzweitausend ehemalige SS-Angeh\u00f6rige versammeln sich im Stadtzentrum.\nAnlass ist der Jahrestag der Gr\u00fcndung zweier lettischer SS-Legionen.\nGleichzeitig protestieren Antifaschist*innen gegen die m\u00f6glicherweise\nweltweit gr\u00f6\u00dfte Versammlung von Helfer*innen der antisemitischen\nund faschistischen Vernichtungsmaschinerie. Anders als die\nSS-Versammlung wird der antifaschistische Protest jedoch von massiven\nEinschr\u00e4nkungen und politischer Repression begleitet. \n
\n\nBasis\nf\u00fcr eine solche Politik ist die umfassende Leugnung der\nweitreichenden Kollaboration von Teilen der lettischen Bev\u00f6lkerung\nmit dem deutschen Regime. Das entsprechende nationale Geschichtsbild\ndient vorrangig drei Zielen: erstens dem Aufbau eigener\nEntlastungsmythen, mit denen die geschichtlich belegbare Beteiligung\nsowie die politische Verantwortung an der Shoa negiert werden sollen.\nZweitens geht die Leugnung der Kolloborationen Hand in Hand mit\nantikommunistischen Geschichtsbildern und dem Ausbau eines\nantikommunistischen Diskurses, der die Kollaboration als Teil einer\n\u201enationalen Befreiung von der sowjetischen Besatzung\"\nverkl\u00e4rt. Drittens ist eine solche Praxis Teil einer umfassenden\nideologischen sowie geopolitischen Abgrenzung gegen\u00fcber Russland.
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\nDer\npolitische Kern des faschistische Gedenkens
\nSeit 1991 wird\nin Riga j\u00e4hrlich am sogenannten \u201eTag der Legion\u00e4re\", dem Tag\nder Gr\u00fcndung der ersten und zweiten lettischen Waffen-SS-Legion,\nderen Mitgliedern gedacht. An den Veranstaltungen nehmen neben den\nnoch lebenden SS-Angeh\u00f6rigen und ihren Familien ebenfalls Mitglieder\ngegenw\u00e4rtiger faschistischer Organisationen und auch kirchliche\nVertreter teil. Dementsprechend ist der gemeinsame Gottesdienst\nobligatorischer Bestandteil der Veranstaltung. Aber wie kann es zu\neiner solchen breiten Unterst\u00fctzung f\u00fcr Kriegsverbrecher kommen?\nWie in zahlreichen anderen post-sowjetischen Staaten, werden die\nehemaligen Kollaborateur*innen der deutschen SS-Einheiten in Lettland\nals vermeintlich \"regul\u00e4re Soldaten\" verkl\u00e4rt. Auf diese\nWeise erfolgt eine Legitimation von faschistischer Kollaboration, die\nentsprechend \"gereinigt\" Eingang in die nationale \nGeschichtsschreibung findet. Dabei ist die Aufrechterhaltung eines\ngeschichtsrevisionistischen Selbstbildes sowie die Rehabilitierung\nder SS oder diverser \u201eFreiwilligenbataillone\" nicht von den\n\u00f6konomischen und geopolitischen Interessen der herrschenden\npolitischen Klasse zu trennen. \n
\n\nDie\nKundgebung und Ehrung am \"Tag der Legion\u00e4re\" wird von der\nnationalistischen, neoliberalen und anti-russischen Partei \"Nacion\u0101l\u0101\napvien\u012bba\"\n(\u201eNationale\nVereinigung - Alles f\u00fcr Lettland\u201c\n) organisiert. Sie ist\nmit 16 von 100 Sitzen in der Saeima (dem lettischen Parlament)\nvertreten und stellt drei Minister*innenposten in der aktuellen\nRegierung. Die Partei ist damit ein wichtiger Teil der neoliberalen\npolitischen Elite Lettlands, was sich ebenfalls daran zeigt, dass in\ndiesem Jahr auch Vertreter*innen der Regierungspartei \"Vienot\u012bba\"\nan der Versammlung teilnahmen. Nicht\nzuletzt durch diese enge Verbindung zwischen Gedenken und\nRepr\u00e4sentant*innen der offiziellen lettischen Politik ergeben sich\ndeutliche Parallelen zur Gedenkpolitik anderer post-sowjetischer\nStaaten (bspw. Ungarn, Ukraine). Auch dort beteiligen sich rechte und\nneoliberale Kr\u00e4fte aus der herrschenden politischen Klasse aktiv an\nder Rehabilitierung faschistischer Verbrecher*innen. \n
\n\nGleichzeitig\nverstehen viele Teilnehmende die Kundgebungen in Riga als deutliches\nAbgrenzungssignal gegen\u00fcber Russland, welches das Gedenken wiederum\nseinerseits als Provokation auffasst. Der anti-russischen Tendenz\nfolgend begreift sich eine Mehrheit der ehemaligen SS-Angeh\u00f6rigen\nnicht als Teil des faschistischen Machtapparates, sondern vielmehr\nals \"Veteranen\" des Kampfes gegen die Rote Armee. [1]\nFolgerichtig werden Wehrmacht und SS innerhalb des Marsches als\n\u201eBefreier\" stilisiert, die das notwendige milit\u00e4rische\nKorrektiv darstellten, um Lettland seine Souver\u00e4nit\u00e4t nach der\nOkkupation durch die Sowjetunion 1940 wiederzugeben. [ebd.] Vor\ndiesem Hintergrund werden die \u201eLegion\u00e4re\" mit ihren\nVerbrechen zu Bewahrern einer nationalen Unabh\u00e4ngigkeit umgedeutet.\nDabei f\u00fcgen sich die geschichtsrevisionistischen Ansichten der\nTeilnehmenden gr\u00f6\u00dftenteils nahtlos in den herrschenden lettischen\nGeschichtsdiskurs ein. So entsteht der Eindruck, dass die Kundgebung\nim Zusammenspiel mit einer sich politisch zuspitzenden\nanti-russischen Stimmung nicht zuletzt einer schleichenden\nMobilmachung reaktion\u00e4rer Positionen gegen\u00fcber dem \"gef\u00fcrchteten\"\nNachbarstaat dienen. Widerspruch wird dabei nicht geduldet, sodass\nantifaschistische Gegenproteste bereitwillig von den lettischen\nRepressionsorganen unterdr\u00fcckt werden. B\u00fcndnisse wie \u201eLettland\nohne Nazismus\" werden immer wieder am Protest gehindert und\ndeutsche Antifaschist*innen sogar widerrechtlich bei der Einreise\nabgewiesen bzw. abgeschoben.[2]
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Kollaboration\nals indivduelles Moment?
\nTrotz der dominanten Tendenzen,\ndie nationale Geschichte im Sinne politischer \u00dcberlegungen von den\nSpuren faschistischer Kollaboration zu befreien, lassen sich die\nbekannten Fakten nur schwer leugnen. W\u00e4hrend der Besatzung standen\nunterschiedlichen Angaben zufolge 160.000 \u2013 200.000 Lett*innen im\nmilit\u00e4rischen Dienst der Besatzungsmacht. Diese arbeiteten h\u00e4ufig\nder Vernichtung j\u00fcdischer Bewohner*innen Lettlands zu und stellten\neine wichtige Ressource f\u00fcr die Verfolgung. Deportationen und\nMassenmorde wurden dabei von Sondereinheiten der deutschen\nSicherheitspolizei, vor allem der \u201eEinsatzgruppe A\",\ndurchgef\u00fchrt. Dar\u00fcber hinaus initiierten deutsche Einheiten\n\u201espontane\" Progrome, indem sie antisemitische Lett*innen in\nparamilit\u00e4rischen Einheiten organisierten und bewaffneten. [3]\nMehrere hundert J\u00fcd*innen sind bei diesen \u201eAufst\u00e4nden\" im\nLand get\u00f6tet worden. Insgesamt sind sch\u00e4tzungsweise 80.000\nlettische J\u00fcd*innen in der Shoa ermordet worden. Allein 13.000 von\nihnen fielen unmittelbar der Einheit um den Letten Viktors\nAr\u0101js zum Opfer. Dar\u00fcber hinaus waren die bis zu 1.200 von ihm\ngef\u00fchrten Kollaborateure an Massenerschie\u00dfungen in den W\u00e4ldern des\nRigaer Umlandes beteiligt, die 12.000\nMenschen das Leben kosteten. [4] Neben der direkten und\nadministrativen Beteiligung an der Verfolgung von J\u00fcd*innen, waren\ndie Aussichten auf \u00f6konomische Vorteile ausschlaggebend. Gerade die\nAussicht auf materielle Bereicherung nach der Vertreibung bzw. der\nR\u00e4umung des Rigaer Ghettos Ende 1943 ermutigte Nicht-J\u00fcd*innen zu\npolitischem Opportunismus.\u00a0
\nViele dieser Verbrechen finden in\nder offiziellen oder dominanten lettischen Geschichtsschreibung kaum\neinen Platz. So ist bspw. das freifinanzierte lettische\n\u201eOkkupationsmuseum\" in Riga bem\u00fcht, die Verantwortung f\u00fcr\nVerbrechen im \u201eReichskommissariat Ostland\" auf Individuen und\neinzelne Biographien herunterzubrechen. Nicht zu leugnende\nVerbrechen, wie die der Gruppe um Ar\u0101js,\nwerden so zu Einzeltaten in einem vermeintlich nicht-faschistischen\nStaat. Gleichzeitig werden andere Kollaborateur*innen noch als\n\u201enationale Partisanen\u201c verherrlicht, wie das Rigaer Museum\n\u201eEckhaus\u201c als ehemaliger Ort des Riager Hauptquartiers des\nKomitees f\u00fcr Staatssicherheit (KGB) bem\u00fcht. \n\n
\n\n\nUmk\u00e4mpfte\nErinnerungen und ihre Funktionen
\n\nDer\nMythos von der \u201eBefreiung\" von der Sowjetunion, die Lettland\nnach dem Hitler-Stalin-Pakt okkupierte, ist weiterhin bestimmend. Die\nLeugung weitgehender Kollaborationen im Rahmen der Shoa sowie die\nRehabilitierung der daran beteiligten faschistischer Einheiten\nerf\u00fcllen im Rahmen des Status Quo wichtige Aufgaben. In Lettland\nsowie vielen ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken ist der Kampf um\ndie geopolitische und -strategische Ausrichtung seit 1989 neu\nentfacht. Der antikommunistische Diskurs gegen die Sowjetunion dient\nheute dazu, um ideologisch gegen Russland mobil zu machen. Die\nbaltischen L\u00e4nder sind wie viele osteurop\u00e4ische Staaten inzwischen\nNATO-Frontstaaten und Orte zunehmender Konzentration von\nentsprechendem milit\u00e4rischem Ger\u00e4t und Personal. Die gro\u00dfe\nVeteranen-Veranstaltung ist als Teil einer umfassenden Strategie zu\nverstehen, die politische Grenzziehung zwischen der EU/ NATO und\nRussland weiter festzuschreiben. W\u00e4hrend\naktuell Kriegsschiffe der NATO-B\u00fcndnispartner in der Stadt ankern,\ngeht der ideologische Kampf nur wenige hundert Meter vor dem\nzentralen \u201eFreiheitsdenkmal\" im Rahmen der\nGedenkveranstaltungen weiter. Auch in den benachbarten Staaten\nLitauen und Estland sind vergleichbare rechte Diskursk\u00e4mpfe zu\nbeobachten. Neben der zunehmenden Militarisierung durch\nNATO-Pr\u00e4senzen nehmen reaktion\u00e4re Gewschichtsdeutungen als Teil\numfassender Abgrenzungsbewegungen weiter zu. \n
\nSo\nstellt die ideologische Grenzziehung mit Blick auf die ethnische\nZusammensetzung Lettlands eine gro\u00dfe gesellschaftliche\nHerausforderung dar. Fast 27 Prozent der Lett*innen bezeichnen sich\nselbst als Russ*innen. Sie sehen sich von lettischen\nNationalist*innen immer wieder mit Anschuldigungen konfrontiert,\n\u201eAgent*innen des Nachbarlandes zu sein\". Politische\nAuseinandersetzungen und Bewertungen um die Geschichte des Landes\nwerden vor diesem Hintergrund h\u00e4ufig ethnisiert. Das provokante,\nfaschistische Gedenken im politischen Zentrum des Landes bildet somit\nnicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche\nDemarkationslinie. 2018 wird das lettische Parlament neu gew\u00e4hlt.\nEin weiterer Ausbau des Stimmenanteils von Parteien, die den\nFachismus relativieren oder verherrlichen sowie anti-russischer\nPositionen vertreten, ist angesichts der Spannungen wahrscheinlich.\nDie neoliberale und reaktion\u00e4re lettische Elite wird mit allen\nMitteln weiter an der \u201eWestanbindung\" halten, die\nrevisionistische Veranstaltung ist ein nicht zu vernachl\u00e4ssigendes\nGlied davon. Es w\u00e4re die Aufgabe einer solidarischen\nantifaschistische Bewegung, sich auch Gedanken zur m\u00f6glichen\nUnterst\u00fctzung der lettischen Genoss*innen zu machen, um dem\npro-faschistischen Backlash international zu begegnen.\u00a0
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Anmerkungen:
\n[1]\nJulian Feldmann: Lettland: Jubel f\u00fcr SS und Bundeswehr,\nhttps://daserste.ndr.de/panorama/aktuell/Lettland-Jubel-fuer-SS-und-Bundeswehr,riga162.html
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\n[2]\nThomas Willms: Keine Ehrung der lettischen Waffen-SS!,\nhttps://vvn-bda.de/keine-ehrung-der-lettischen-waffen-ss-2/
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\n[3]\nJ\u00f6rg Baberowksi: Pogrome und Exekutionen tagein tagaus,\nhttp://www.deutschlandfunkkultur.de/pogrome-und-exekutionen-tagein-tagaus.1270.de.html?dram:article_id=247199
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\n[4]\nKatrin Reichelt: Between initiative an oppertunism: the role of\nLatvians in the persecution of the jews under Nazi occupation, Riga\n2015.
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