Die\nEindr\u00fccke vom 8. M\u00e4rz aus vielen St\u00e4dten der T\u00fcrkei sind im\nh\u00f6chsten Ma\u00dfe hoffnungsversprechend. Angesichts des momentanen\nerdr\u00fcckenden politischen Klimas, in dem jede gesellschaftliche\nOpposition sofort unterdr\u00fcckt wird, ist es von au\u00dferordentlicher\nBedeutung, eine solch starke Botschaft senden zu k\u00f6nnen. Die\nFrauenbewegung hat mit dieser starken Botschaft anderen\ngesellschaftlichen Dynamiken den Weg geebnet.\n
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\nMan\nw\u00fcrde nun erwarten, dass eine jede gesellschaftliche Dynamik, die\nnach M\u00f6glichkeiten des Aufbruchs sucht, von der Atmosph\u00e4re des 8.\nM\u00e4rz ermutigt in die Offensive geht. Aber der 8. M\u00e4rz wird von\neinigen Teilen der Linken \u201eanders\u201c diskutiert. Zweifellos ist\ndiese Diskussion auch nicht neu.
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\nSeit\nlangem sieht ein Teil der kommunistischen Linken die Frauenbewegung\nund andere gesellschaftliche Dynamiken als etwas ihr \u00c4u\u00dferliches\nund es ist offensichtlich, dass sich an dieser Sichtweise nichts\nge\u00e4ndert hat. Gem\u00e4\u00df dieser Sicht sind auf der einen Seite\n\u201cRevolution\u00e4r*innen\u201d, \u201cKlassenpolitik\u201d, \u201cArbeiter*innen\nund Angestellte\u201d und auf der anderen Frauen, LGBT+ Individuen,\nAlevit*innen, Kurd*innen, \u00d6kologieaktivist*innen und andere\ngesellschaftliche Bewegungen. Zwischen Klasse und verschiedenen\ngesellschaftlichen Bewegungen wird keine innerliche, sondern nur eine\n\u00e4u\u00dferliche Beziehung hergestellt. Mit Aussagen wie \u201eJa, das ist\nauch wichtig, die Forderungen der Frauen sind auch wichtig\u201c und\n\u00e4hnlichen Floskeln werden aktuelle gesellschaftliche Bewegungen de\nfacto beiseite geschoben.
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\nDie\nLogik dieser politischen Haltung l\u00e4sst sich in philosophischen\nBegriffen so ausdr\u00fccken: \u201eAll diese Bewegungen und Identit\u00e4ten\nsind partikular, wobei es eigentlich das Universelle zu erreichen\ngilt und das ist das kommunistische Subjekt.\u201c Diese Sichtweise\nfasst aber Universalit\u00e4t falsch und undialektisch. Weder bei Hegel\nnoch bei Marx wird das Universelle erreicht durch Abstraktion und\nVerleugnung der Partikularit\u00e4t. Vielmehr ist die richtige\ndialektische Bewegung jene, durch die Partikularit\u00e4ten hindurch zu\neiner reicheren und konkreten Universalit\u00e4t zu gelangen.
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\nMit\nBlick auf die heutige T\u00fcrkei kann die Bedeutung davon folgenderma\u00dfen\nerkl\u00e4rt werden: Wir m\u00fcssen das kommunistische Subjekt erst\nerschaffen, und zwar nicht durch Abstraktion von den vielf\u00e4ltigen\ngesellschaftlichen Subjektivit\u00e4ten (Frauen, LGBT+, Alevit*innen,\nKurden, etc.), oder dadurch, dass wir diesen Subjektivit\u00e4ten von\noben herab etwas aufoktroyieren; sondern dadurch, dass die origin\u00e4ren\nForderungen und Dynamiken dieser Subjektivit\u00e4ten begrifflich gefasst\nund konkret in das politische Verst\u00e4ndnis und in die politische\nPraxis aufgenommen werden. \n
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\nKehren\nwir nun zur\u00fcck zu den \u201eKritiken\u201c an den Nachtm\u00e4rschen und am\n\u201eFeminismus\u201c. Wie gehabt, so wurden auch dieses Jahr die\nfeministischen Nachtm\u00e4rsche als apolitisch, liberal, \u201eallen\nInhalts entleert\u201c und vor allem nicht gegen das \u201eSystem\u201c\ngerichtet bezeichnet. Der 8. M\u00e4rz sei nicht der\nWeltfrauentag/internationale Frauentag, sondern vielmehr der Welttag\nder Arbeiterinnen. Und in der Tat entschieden sich einige\nrevolution\u00e4re Organisationen dazu, ihre eigenen gemischten\nVeranstaltungen mit M\u00e4nnern und Frauen abzuhalten, statt an den von\nFrauen* und feministischen Organisationen organisierten Demos und\nM\u00e4rschen teilzunehmen. \n
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\nDamit\nkein Missverst\u00e4ndnis aufkommt: Diese Haltung und diese Gedanken sind\nnicht einer bestimmten Organisation zuzuordnen. Wenngleich sie am\ndeutlichsten und plattesten in einer bestimmten Organisation [1] zum\nAusdruck kommen, so sind sie doch auch bei einigen anderen linken\nRichtungen und auch bei nichtorganisierten linken Individuen zu\nfinden. Daher richtet sich unsere Kritik auch nicht nur gegen eine\nOrganisation und ist als allgemeiner Beitrag zu verstehen.
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\nVerbalradikalismus
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\nEinige\nGenoss*innen vers\u00e4umen keine Gelegenheit zu betonen, dass die\neigentliche \u201ePolitik\u201c gegen das kapitalistische System sein\nm\u00fcsse. Damit meinen sie wohl in etwa, dass jede*r, der den\nWiderspruch von Kapital und Arbeit nicht ins Zentrum r\u00fcckt, nicht\nals den alleinig wesentlichen gesellschaftlichen Widerspruch\nversteht, tats\u00e4chlich gar nicht gegen das System und daher\napolitisch sei. Und das ist dann gleichbedeutend mit liberal.
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\nUnd\nvermutlich w\u00fcrden sie auch dieser Schlussfolgerung zustimmen: Sie\nselbst sind Revolution\u00e4r*innen, Komunist*innen, Leninist*innen und\nau\u00dfer ihnen macht niemand im eigentlichen Sinne Politik gegen das\nSystem.
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\nDiese\nsehr radikal wirkende Haltung ist tats\u00e4chlich nur verbalradikal.\n\u201eSystem\u201c und \u201ePolitik\u201c werden so abstrakt gefasst, dass vom\nStandpunkt allt\u00e4glicher Politik kaum etwas zu tun bleibt. Die\nallt\u00e4gliche Praxis l\u00e4uft ins Leere, denn eine jede Aktion, die\nnicht direkt auf die sozialistische Revolution abzielt, ist, gem\u00e4\u00df\ndieser Sichtweise, apolitisch und liberal. \n
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\nWas\ndann noch bleibt ist lautstarke Rechthaberei bei jeder Gelegenheit.\nIn den entsprechenden Texten und Erkl\u00e4rungen ist dann auch wenig zu\nfinden au\u00dfer Kritik an allen anderen, die etwas zu machen versuchen.\nDar\u00fcber hinaus werden viele Treffen oder Kundgebungen abgehalten,\ndie dann den Menschen das Gef\u00fchl geben sollen \u201eetwas gemacht zu\nhaben\u201c.
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\nAber\nman sieht sofort, dass diese Genoss*innen gegen keinen der\nUnterdr\u00fcckungsmechanismen des bestehenden Systems auf konkrete Weise\nauch nur irgendetwas organisieren. Die L\u00f6sung jedes Problems ist die\n\u201eErsetzung\u201c des Kapitalismus durch den Sozialismus. Wie sie sich\ndie \u201eRevolution\u201c vorstellen, das ist auch in h\u00f6chstem Ma\u00dfe\nungekl\u00e4rt. Wer sind denn die Subjekte dieser Revolution? Wie soll\nsie denn genau ausgef\u00fchrt werden? Welche konkreten materiellen\nMa\u00dfnahmen werden im Zuge der Revolution durchgezogen? Hinsichtlich\ndieser elementaren Fragen findet sich weder in Theorie noch Praxis\nirgendetwas.
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\nDie\ngl\u00e4nzenden Worte bleiben abstrakt und erzeugen keinen konkreten\nEffekt. \n
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\nFurcht\nvor Politik
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\nKommen\nwir nun zu den Ursachen daf\u00fcr, dass die von uns angesprochenen\nLinken auf die oben gestellten Fragen keine konkreten und\nausreichenden Antworten geben. Ihre \u201eKritik\u201c am \u201eFeminismus\u201c\n(welchem eigentlich? Es gibt ja schon allein mehr als einen\nmarxistisch inspirierten/orientierten Feminismus...) steht ja auch\ndamit in Verbindung. \n
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\nDie\nSichtweise dieser Kolleg*innen ist vermutlich in etwa so: Sich der\nRevolution anzun\u00e4hern hei\u00dft, Parteimitglied zu sein; revolution\u00e4r\nzu sein hei\u00dft ebenso, Parteimitglied zu sein. Aber wer hat denn die von ihnen so gerne ins Feld gef\u00fchrte\nSowjetrevolution gemacht: die Partei oder eine populare Dynamik,\nderen Spitze die Partei war? Jeder, der sich mit Russland 1917\nauseinandersetzt, kennt die Antwort auf diese Frage sehr genau. \n
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\nWaren\ndenn die Dynamiken, deren F\u00fchrung dann von den Bolschewiki\n\u00fcbernommen wurde, alle vollst\u00e4ndig und bewusst gegen \u201edas System\u201c\nund gegen das Kapital gerichtet? Ganz bestimmt nicht. Jeder populare\nAufstand, jede gesellschaftliche Dynamik birgt in sich vielf\u00e4ltige\nund wild durchgemischte, sich teilweise widersprechende politische\nAnsichten und Forderungen. Die entscheidende Parole der\nOktoberrevolution war dann eben ja auch nicht einfach \u201eSozialismus\u201c,\nsondern \u201eBrot, Boden und Frieden\u201c.
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\nGesellschaftliche\nDynamiken sind immer chaotisch und widerspruchsvoll, genauso wie\n\u201eRealpolitik\u201c. Sich eigene sichere Kan\u00e4le einzurichten, keinen\nFu\u00df ins Durcheinander der Wirklichkeit zu setzen und von der stetig\nchaotischer werdenden Situation fern zu bleiben, das hei\u00dft im\nKlartext: sich von Politik zur\u00fcckziehen, sich davor zu f\u00fcrchten und\nin den eigenen Unterst\u00e4nden auf das Abflauen des Regens zu warten. \n
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\nWas\nsollten Kommunist*innen tun?
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\nDie\nKommunist*innen m\u00fcssen in die teils konfusen, widerspr\u00fcchlichen\ngesellschaftlichen Dynamiken mit einer gemeinsamen, allgemein\nverst\u00e4ndlichen Sprache und gemeinsamen, allgemein akzeptablen und\nrealistischen Forderungen intervenieren und somit diesen Dynamiken\neine gangbare Richtung vorschlagen. Statt den gesellschaftlichen\nDynamiken von au\u00dferhalb mit der Devise \u201ewir wissen\u2019s am Besten\u201c\noberlehrerhaft zu sagen, was sie zu machen h\u00e4tten, bedeutet\nrevolution\u00e4re Politik, sich organisch innerhalb dieser Dynamiken zu\npositionieren und gerade deshalb in der Lage zu sein, einen gangbaren\nWeg zu organisieren.
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\nEs\nmuss deutlich gesagt werden: Nicht diejenigen, die innerhalb der\nangeblich \u201eapolitischen\u201c gesellschaftlichen Dynamiken, im\nwiderspr\u00fcchlichen, konfusen Klima versuchen, die Revolution und ein\nalternatives Leben zu gestalten, sind apolitisch, sondern diejenigen,\ndie wenig anderes zustande bringen, als abstrakt und steril gl\u00e4nzende\nWorten zu produzieren. Wer nicht in die m\u00fchevollen Gefilde der\nwirklichen Welt hinabsteigt, sich nicht mit dem \u201eD\u00fcnger der\nWiderspr\u00fcche\u201c (Marx) besch\u00e4ftigt und lieber in seiner\nordentlichen kleinen Welt bleibt, der kann seine Mitgliederzahl\nverzehnfachen und wird dennoch nichts ver\u00e4ndern. Das eigene Gewissen\nwird beruhigt, mehr passiert nicht.
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\nDiese\nGenoss*innen sollten sich aber dar\u00fcber bewusst sein, dass das\nkeineswegs eine mutige Haltung ist. Im Gegenteil, daraus spricht die\nFurcht vor Politik; der Unwille, sich mit den konfusen Haltungen,\nForderungen und Gedanken der sich in Bewegung befindlichen\ngesellschaftlichen Dynamiken auseinanderzusetzen. Sich in Zeiten, in denen\ndie gesellschaftliche Opposition auf einen immer enger werdenden Raum\nzur\u00fcckgedr\u00e4ngt wird, in den eigenen Komfortzonen einzurichten,\nist dar\u00fcber hinaus eine \u00fcberaus r\u00fcckst\u00e4ndige Position.
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\nZusammenfassend\nkann festgehalten werden, dass die Aufgabe der Kommunist*innen ist,\nsich mit einer bestimmten Haltung in den konkreten gesellschaftlichen\nDynamiken zu positionieren und mit angemessener Taktik auf das\nstrategische Ziel (Revolution, Kommunismus) hinzuarbeiten.\nDiejenigen, die die Anspannungen der Widerspr\u00fcche nicht aushalten,\nbleiben entweder au\u00dfen vor oder verteilen von der \u201erichtigen\nPosition\u201c aus weiter ihre Lektionen. So k\u00f6nnen sie dann die ganze\nZeit behaupten \u201ewir wissen es\u201c, \u201emacht es doch so, wie wir es\nsagen\u201c, aber all das wird kaum Auswirkungen auf die wirkliche\nBewegung haben. \n
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\nDer\numgekehrte Fehler besteht nat\u00fcrlich darin, in der Aktivit\u00e4t der\ngesellschaftlichen Dynamiken verloren zu gehen. Sich einfach dem\nStrom der Bewegungen zu \u00fcberlassen, wird auch kaum dazu beitragen\ndem strategischen Ziel n\u00e4her zu kommen. \n
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\nGesellschaftliche\nDynamiken und die demokratische Revolution
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\nDie\nTendenzen, von denen wir sprechen, halten die \u201edemokratische\nRevolution\u201c vermutlich ohnehin f\u00fcr unn\u00f6tig. Ihr seid ja die\nwahren Linken und alle anderen au\u00dfer euch sind liberal. Aber wir\nsagen es trotzdem: Die V\u00f6lker der T\u00fcrkei haben eine ganze Reihe von\nbrennenden Problemen und es gibt entsprechende gesellschaftliche\nDynamiken, die sich organisieren (es schadet wohl nicht darauf\nhinzuweisen, dass \u201esich organisieren\u201c und \u201eMitglied einer\nOrganisation sein\u201c nicht zwangsl\u00e4ufig gleichbedeutend sind) und\ndementsprechend agieren. Diese gesellschaftlichen Dynamiken sind\ntrotz aller Bomben und all der Repression, all den Versuchen, Angst\nund Schrecken zu verbreiten, und trotz der weit verbreiteten\nHoffnungslosigkeit nicht von der Bildfl\u00e4che verschwunden, haben sich\nnicht gebeugt und machen trotz allem weiter: Frauen, Alevit*innen,\narabische Alevit*innen, Kurd*innen, \u00d6ko-Aktivist*innen, junge\nMenschen, LGBT+ Individuen und nat\u00fcrlich auch die Arbeiter*innen,\ndie sich gegen die Angriffe des Kapitals wehren. \n
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\nBeenden\nwir also unseren Text indem wir einige Fragen aufwerfen. \n
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\nWenn\nrevolution\u00e4re Politik nicht innerhalb dieser Dynamiken gemacht wird,\nwo denn dann? Wenn jeden Tag eine Frau von einem Mann ermordet wird\nund wir dagegen au\u00dfer der Parole \u201eBringen wir den Sozialismus\u201c\nnichts zustande bringen, von welcher revolution\u00e4ren Politik sprechen\nwir dann? Wie erheben wir unsere Stimme gegen den weit verbreiteten\nKindesmissbrauch? Was ist daran liberal, wenn Selbstverteidigung\norganisiert wird? \n
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\nOder\nanders gesagt: Wer sind die Subjekte eurer Revolution, eurer\n\u201eantisystemischen\u201c Politik? Wird die Revolution allein von\nParteimitgliedern gemacht? \n
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\nWir\nk\u00f6nnen noch tausend weitere Fragen stellen, aber das Wesentliche\nist, dass wir ohne die Organisation der Subjekte der Politik keine\nRevolution machen k\u00f6nnen. Und das Bewusstsein dieser Subjekte ist\nnicht \u00fcberall identisch. Wenn ihr nicht akzeptiert, dass diese\nSubjekte ihre eigenen origin\u00e4ren Dynamiken sowie komplexe und\nunklare Bewusstseine haben und von dieser Realit\u00e4t beginnend Politik\nmacht \u2013 wo und wann macht ihr denn dann Politik?
\nAnmerkungen:
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\n[1]\nMit der \u201ebestimmten Organisation\u201c ist die t\u00fcrkische\nKommunistische Partei (KP) gemeint. Anm. d. Red.
\nMazlum\nZafer ist Aktivist der marxistisch-kommunistischen Organisation\nToplumsal \u00d6zg\u00fcrl\u00fck-Parti Giri\u015fimi\n(T\u00d6PG) (Parteiinitiative Soziale Freiheit). \u00dcbersetzung des Textes von Max Zirngast.
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