\u201eIch bin ein Sozialist, ich verteidige universelle Werte\u201c
\nEine Untersuchungshaft kann in der T\u00fcrkei \u00fcber Jahre gehen,\nohne dass Details der Anklageschrift ver\u00f6ffentlicht werden m\u00fcssen, falls die\nAkte unter Verschluss ist. Nachdem Max Zirngast und parallel zu ihm drei\nGenoss*innen der linken, sozialistischen Organisation Toplumsal \u00d6zg\u00fcrl\u00fck\nParti Giri\u015fimi (T\u00d6PG, dt.: Parteiinitiative\nSoziale Freiheit) am Dienstag, den 11. September um 5 Uhr morgens von\nEinheiten der Antiterrorpolizei festgenommen wurden, vergingen nun ganze 12\nTage, bis die Inhaftierten einem Staatsanwalt und einem Richter vorgef\u00fchrt\nwurden.
\n\n\n\nIn der Zwischenzeit setzte ihn die Antiterrorpolizei psychologischem\nDruck aus. Gemeinsam mit den Unterst\u00fctzer*innen vor Ort skandalisierten\nwir dies sofort und konnten damit erreichen, dass es nicht weiter passierte. Auch\nau\u00dferhalb des Polizeipr\u00e4sidiums drehten die Trolle am Rad: In regierungsnahen\nMedien, und infolge dessen auch in europ\u00e4ischen Zeitungen, wurde verbreitet, Max\nsei Mitglied einer illegalen, bewaffneten Terrororganisation namens \u201eTKP\nK\u0131v\u0131lc\u0131m\u201c (dt.: TKP Funke). Gleichzeitig warfen ihm regierungsnahe Social Media-Trolle \u201ePKK-Unterst\u00fctzung\u201c vor. Konkrete Beweise f\u00fcr diese Anschuldigungen\nlagen und liegen bis jetzt nicht vor \u2013 \u00fcberhaupt wurden noch nicht einmal\nkonkrete Vorw\u00fcrfe gemacht, da die Akte unter Verschluss ist.
\n\n\n\nIs this real? Terror-Cocktails\nund imaginierte Organisationen
\n\n\u00a0Gestern hie\u00df es dann pl\u00f6tzlich, die Inhaftierten w\u00fcrden dem\nStaatsanwalt und dem Haftrichter vorgef\u00fchrt. Einige Unterst\u00fctzer*innen hegten\ndie Hoffnung, es sei mit einer positiven Entscheidung zu rechnen. Leider trat\ndiese gute Wendung nicht ein. Max, sowie die Genoss*innen Mithatcan T\u00fcretken\nund Hatice G\u00f6z, wurden direkt im Anschluss an die Vernehmung in\nUntersuchungshaft gebracht. Kurze Zeit sp\u00e4ter erhielten wir Einblick in Max\u2018\nVernehmungsprotokolle bei Staatsanwalt und Richter sowie in das Entscheidungsschreiben\ndes Richters. Darin zeigt sich der absolute Bankrott des sogenannten\n\u201eJustizsystems\u201c der T\u00fcrkei. Es befindet sich, wie der Anwalt Tamer Do\u011fan auf\nder Pressekonferenz\nin Istanbul vom Donnerstag ganz richtig festhielt, \u201ein den H\u00e4nden der\nAntiterrorpolizei\u201c. Um das Ausma\u00df des Irrsinns nachvollziehbar zu machen, ver\u00f6ffentlichen\nwir im Folgenden einige Szenarien aus den Vernehmungsprotokollen, die durch die\nRedaktion \u00fcbersetzt wurden.
\n\nDen Protokollen nach wird Max seitens des Staatsanwalts etwa\nvorgeworfen, dass er viele linke B\u00fccher bes\u00e4\u00dfe. Max verteidigt sich:
\n\n\n\n\u201eZwischen all den\nlinken Publikationen bei mir zu Hause befinden sich im \u00dcbrigen auch viele\nPublikationen, die eher rechter Ideologie zuzuordnen sind. Man kann sogar\nLiteratur und Kunst finden. Ich bin ein Forscher. Bei mir zu Hause gibt es an\ndie 300 B\u00fccher und andere Publikationen. In meiner Wohnung in \u00d6sterreich gibt\nes nochmal doppelt so viele B\u00fccher. Aber die Polizei hat nur B\u00fccher mit Bezug\nzu linker Ideologie mitgenommen.\u201c
\n\n\n\nEin besonderer Stein des Ansto\u00dfes ist der Umstand, dass sich\nunter den eingesammelten B\u00fcchern auch einige des marxistischen Theoretikers Dr.\nHikmet K\u0131v\u0131lc\u0131ml\u0131 (1902-1971) befinden. Max weist darauf hin, dass er zu\nK\u0131v\u0131lc\u0131ml\u0131 im Rahmen eines Uni-Seminars zu \u201ePolitischen Ideologien in der\nT\u00fcrkei\u201c an der Technischen Universit\u00e4t des Mittleren Ostens (ODT\u00dc), vorgetragen\nhabe \u2013 die Theorien sind also Bestandteil universit\u00e4rer Lehre! Der Anwalt Murat\nY\u0131lmaz f\u00fcgt w\u00e4hrend der Befragung hinzu: Hikmet K\u0131v\u0131lc\u0131ml\u0131 sei mittlerweile\neine historische Pers\u00f6nlichkeit geworden, im Staatsfernsehen TRT g\u00e4be es sogar\neinen Dokumentarfilm \u00fcber ihn.
\n\nWir werden in K\u00fcrze einen kurzen historischen Abriss zu\nK\u0131v\u0131lc\u0131ml\u0131, seinem Verh\u00e4ltnis zur Kommunistischen Partei der T\u00fcrkei (TKP) und\nzu der politischen Tradition, die sich auf K\u0131v\u0131lc\u0131ml\u0131 bezieht, ver\u00f6ffentlichen.\nWir wollen unsere Leser*innenschaft damit ermuntern, sich ein eigenes Bild zu\nWirken und Leben des marxistischen Theoretikers zu machen.
\n\nDie gesamte restliche Befragung besteht aus solchen und\n\u00e4hnlichen Absurdit\u00e4ten. Warum er Bilder von diesem oder jenem Militanten einer\n\u201eTerrororganisation\u201c auf seinem Handy habe, was er f\u00fcr das Ismail K\u00fcpeli\nherausgegebene Buch \u201eKampf um Koban\u00ea\u201c geschrieben habe \u2013 Antwort im \u00dcbrigen,\nwie im Internet\nnachzulesen: \u201eDie AKP als neuer Prinz: die Hegemonie des Finanzkapitals und\nihre Widerspr\u00fcche\u201c \u2013, \u00a0ob er Propaganda\nf\u00fcr die PKK betreibe. Max verneint dies. Ein anderes Mal fragt der Staatsanwalt\nganz allgemein, ob er \u201eVerbindungen zu Terrororganisationen wie der DHKP/C,\nMLKP, THKO, PKK und anderen\u201c unterhalte. Fehlte nur noch die Auflistung des IS\nund der \u201eTerrorcocktail\u201c w\u00e4re vollst\u00e4ndig!
\n\nMax muss auch noch tats\u00e4chlich ablehnen, der \u201eAnkara\nVerantwortliche der TKP/K\u201c zu sein. Er verweist darauf, dass er zum einen nie\nin illegale Aktivit\u00e4ten involviert gewesen sei und es zudem eine Organisation\nnamens \u201eTKP/K\u201c gar nicht g\u00e4be, weswegen er auch nicht Mitglied sein oder\nPropaganda f\u00fcr diese betreiben k\u00f6nne. Der Anwalt Murat Y\u0131lmaz legt sp\u00e4ter beim\nRichter sogar Beschl\u00fcsse des Gerichts f\u00fcr Schwerverbrechen in Adana aus dem\nJahre 2015 sowie den Beschluss des 12. Gerichts f\u00fcr Schwerverbrechen in Ankara\nim Rahmen der Verfahrensnummer 2012/5 vor, die beide besagen, dass es \u201eeine\nOrganisation namens TKP K\u0131v\u0131lc\u0131m nicht gibt\u201c.
\n\n\n\nSolidarit\u00e4t hei\u00dft f\u00fcr Freiheit k\u00e4mpfen
\n\nSeine politische Haltung h\u00e4lt Max auch in der Vernehmung nicht\nhinter dem Berg, dies hat er noch nie getan. Zum Richter sagt er: \u201eIch bin ein\nSozialist, ich verteidige universelle Werte.\u201c Beim Staatsanwalt f\u00fcgt er hinzu:
\n\n\u00a0\u201eEs gibt keine Partei\nin der T\u00fcrkei, die zu mir passt. Ich unterst\u00fctze die, die mir gedanklich nahe\nstehen. Das mache ich hier und das tue ich in \u00d6sterreich. Die politische\nGeschichte der T\u00fcrkei hat mich interessiert. Deshalb bin ich in die T\u00fcrkei\ngezogen.\u201c
\n\nEr hebt hervor, dass er f\u00fcr die Zeitschrift der T\u00d6PG schrieb\nund Aktivit\u00e4ten der T\u00d6PG besuchte, wo sie ihn interessierten und zu seinen\nForschungen beitrugen. Und er bejaht, dass er selbstverst\u00e4ndlich die zeitgleich\nmit ihm inhaftierten Mitglieder der T\u00d6PG, Mithatcan T\u00fcretken und Hatice G\u00f6z,\nkannte. Alles altbekannt, nichts davon versteckt, nichts davon rechtswidrig\noder gar illegal. Im gesamten Protokoll gibt es nichts, was ein Beweis f\u00fcr\nirgendeine Straftat herhalten k\u00f6nnte, nichts, was darauf hinweist, dass er auch\nnur irgendwie in illegale Aktivit\u00e4ten involviert sein oder etwa Straftaten\nbegangen haben k\u00f6nnte. Und trotzdem entscheidet der Richter, dass Max, Mithatcan\nT\u00fcretken und Hatice G\u00f6z festzunehmen seien. Er begr\u00fcndet dies mit dem Umstand,\ndass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien (!), es einen starken\nVerdacht (!) auf Schuldigkeit g\u00e4be und die Wahrscheinlichkeit der Flucht hoch\nsei.
\n\nEs ist offensichtlich, dass diese Entscheidung eine rein\npolitische ist, die den Aktivismus und die politische Identit\u00e4t von Max und den\nanderen Genoss*innen kriminalisieren will. Das despotische Regime in der T\u00fcrkei\nbefindet sich schon seit geraumer Zeit in einer sich versch\u00e4rfenden Spirale der\nFaschisierung, um mit den permanent aufbrechenden Krisen fertig zu werden.\nHierf\u00fcr beabsichtigt sie auch eine vollst\u00e4ndige Ausl\u00f6schung jedweder\nOpposition, um einen Diktaturfrieden herzustellen. Es ist geradezu zentral f\u00fcr\nDemokratie und Freiheit in der T\u00fcrkei, dass dies dem Regime nicht gelingt. In\nden letzten 13 Tagen haben wir, als re:volt-Kollektiv, ohne Unterlass\ndaf\u00fcr gewirkt, die v\u00f6llig absurde Verhaftung von Max Zirngast zu\nskandalisieren, Fehlinformationen entgegenzutreten, Solidarit\u00e4t mit ihm zu st\u00e4rken\nund sichtbar zu machen. Wir waren dabei nicht allein. Familienangeh\u00f6rige, ein\nUnterst\u00fctzer*innenkreis in der T\u00fcrkei wie au\u00dferhalb sowie viele solidarische\nMenschen, Organisationen und in der Tat auch Kolleg*innen k\u00e4mpften wir f\u00fcr die\nFreilassung von Max. Das ist uns nicht gelungen \u2013 noch nicht gelungen. Jetzt\nist es unsere Aufgabe, eine breite Solidarit\u00e4tsarbeit f\u00fcr Max Zirngast\ngemeinsam mit allen solidarischen Menschen auf die Beine zu stellen, um das\nnachzuholen. Das erste Treffen zur Gr\u00fcndung einer Solidarit\u00e4tskampagne findet\nn\u00e4chsten Mittwoch um 19 in Wien statt der Ort wird noch bekannt gegeben.
\n\n\n\nFreiheit f\u00fcr Max Zirngast!
\n\nFreiheit f\u00fcr alle politischen Gefangenen!
\n\n
Anmerkung:
\n\n1.] Das Bild stammt von einer Veranstaltung der jungen linken am 20. September in Wien.
2.] Folgt f\u00fcr Informationen zur Solidarit\u00e4tskampagne dem Account @freemaxzirngast auf Twitter.