Das Staatsbeben in der T\u00fcrkei
\nAm 6. Februar 2023 ersch\u00fctterten zwei Erdbeben der St\u00e4rke 7,8 beziehungsweise 7,7 im Abstand von neun Stunden mit Zentrum in der t\u00fcrkischen Provinz Kahramanmara\u015f massiv den S\u00fcden der T\u00fcrkei und den Norden Syriens. In der T\u00fcrkei war ein Gebiet betroffen, in dem etwa 15 Prozent der Bev\u00f6lkerung leben und das etwa zehn Prozent des BIP des Landes erwirtschaftet. Es entstand ein gesch\u00e4tzter Sachschaden von \u00fcber 84 Milliarden US-Dollar. Mit \u00fcber 41.000 gemeldeten Toten allein in der T\u00fcrkei bis zum 20. Februar und \u00fcber 110.000 zerst\u00f6rten oder nicht mehr reparaturf\u00e4higen Geb\u00e4uden stellen die beiden Erdbeben die bisher verheerendsten in der Geschichte der modernen T\u00fcrkei dar. Ebenso erdr\u00fcckend wie die Ausma\u00dfe der Erdbeben selbst ist jedoch das Ausma\u00df des staatlichen Versagens \u2013 das hei\u00dft, wenn man die \u00f6ffentliche Gesundheit und das Wohlergehen der Bev\u00f6lkerung als Ma\u00dfstab daf\u00fcr nimmt, was mit staatlichen Kapazit\u00e4ten \u00fcberhaupt erreicht werden soll. Die T\u00fcrkei erlebte also nicht nur ein katastrophales Naturereignis, sondern auch ein Staatsbeben: den Zusammenbruch des Staates des Kapitals und des autorit\u00e4ren Staates aus einer popularen Sicht.
Ein t\u00f6dlicher Bauboom
Was den ersten Punkt betrifft, so wurde der Bauboom in der AKP-\u00c4ra allgemein und sein klientelistischer Charakter im Besonderen von kritischen Analyst*innen regelm\u00e4\u00dfig erw\u00e4hnt. In der Tat r\u00fchmt sich das Regime um Recep Tayyip Erdo\u011fan h\u00e4ufig damit, den Bau von Flugh\u00e4fen, Br\u00fccken, U-Bahnen, Autobahnen und vor allem von unz\u00e4hligen Wohneinheiten erm\u00f6glicht zu haben. All dies angeblich gem\u00e4\u00df der sehr strengen Bauvorschriften, die in der T\u00fcrkei erlassen wurden, nachdem schon 1999 ein verheerendes Erdbeben Izmit (in der N\u00e4he von Istanbul) ersch\u00fcttert hatte. Jetzt stellt sich heraus, dass all diese Bauvorschriften blo\u00dfe Papiertiger sind.
Entgegen Erdo\u011fans (unbelegter) Behauptung, fast alle der eingest\u00fcrzten Geb\u00e4ude seien vor 1999 gebaut worden, zeigen indes Daten des Statistikinstituts (T\u00dcIK), dass mehr als 50 Prozent der Bev\u00f6lkerung in der Region in Geb\u00e4uden leben, die nach 2001 gebaut wurden. Im Zentrum von Kahramanmara\u015f \u2013 das bei den j\u00fcngsten Erdbeben mit am heftigsten zerst\u00f6rt wurde \u2013 liegt dieser Anteil sogar bei fast 60 Prozent. Obgleich es zwar noch keine fundierte und umfassende Analyse des Alters der eingest\u00fcrzten Geb\u00e4ude gibt (abgesehen von der Regierungspropaganda, die sich was Zahlen angeht schon fr\u00fcher als sehr \u201ekreativ\u201c erwiesen hat), stellen Satellitenbilder und Berichte von vor Ort \u00fcber bestimmte Geb\u00e4ude Erdo\u011fans Behauptung ernsthaft in Frage. Unter den eingest\u00fcrzten Geb\u00e4uden befanden sich luxuri\u00f6se Wohngeb\u00e4ude und Residenzen, die einst mit Pauken und Trompeten er\u00f6ffnet und als v\u00f6llig erdbebensicher angepriesen wurden. Selbst zentrale Infrastruktureinrichtungen wie der neu errichtete Flughafen von Hatay und wichtige Autobahnen, die f\u00fcr die Katastrophenhilfe und das Rettungsmanagement von entscheidender Bedeutung waren, aber auch Schulen, Krankenh\u00e4user und Gemeindegeb\u00e4ude wurden zerst\u00f6rt oder waren nach dem Erdbeben aufgrund der massiven Sch\u00e4den (zeitweilig) unbenutzbar. Selbst wenn Erdo\u011fans Behauptung stimmen sollte, dann l\u00e4sst sich festhalten: 22 Jahre AKP-Alleinregierung wurden offensichtlich nicht dazu genutzt, erdbebensichere Bausubstanzen von vor 1999 vollst\u00e4ndig oder in gr\u00f6\u00dferem Rahmen zu erneuern.
Indes: Im Widerspruch zu Erdo\u011fans oben erw\u00e4hnter Behauptung hat der Staat mittlerweile rund 150 Staatsanw\u00e4lte angewiesen, gegen mehr als 430 Bauunternehmer, Ingenieure und andere Personen wegen ihrer Verantwortung im Zusammenhang mit der Katastrophe zu ermitteln. Inzwischen sitzen bereits \u00fcber 130 von ihnen im Gef\u00e4ngnis. Einige wurden auf Flugh\u00e4fen festgenommen, als sie versuchten, aus dem Land zu fliehen; darunter auch diejenigen, die f\u00fcr einige der eingest\u00fcrzten, angeblich \u201eerdbebensicheren\u201c Luxusbauten verantwortlich waren. Wie bei den Preisschocks, die die T\u00fcrkei 2018 und seit 2021 durch die Kombination der Krise ihres Akkumulationsregimes mit einem auf kurzfristige Interessen orientierten wirtschaftspolitischen Rahmen um des politischen \u00dcberlebens willen erlebt, versucht das Regime erneut, \u201eeinige b\u00f6se Gesch\u00e4ftsleute\u201c f\u00fcr die Katastrophe verantwortlich zu machen und sich selbst freizusprechen.
Amnestierte Massengr\u00e4ber
Aber die Rentierkapitalisten sind nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist der Staat des Kapitals selbst. Ohne vermeintlich rigide staatliche Kontrollen k\u00f6nnen in der T\u00fcrkei keine Geb\u00e4ude errichtet werden. Es gibt jedoch zahlreiche Beweise daf\u00fcr, dass die Vorschriften und Pr\u00fcfungen nicht ausreichend durchgesetzt wurden und dass Bauherren oft nach vermeintlicher Fertigstellung noch erhebliche \u00c4nderungen an den Geb\u00e4uden vornahmen, die deren Stabilit\u00e4t beeintr\u00e4chtigten. Hinzu kommt, dass viele illegal gebauten Geb\u00e4ude von staatlich gef\u00f6rderten Amnestien profitiert haben: Unter der AKP wurden insgesamt sieben solcher gro\u00dfen \u201eAmnestien\u201c verk\u00fcndet, die letzte im Jahr 2018 im Vorfeld der Parlaments- und Pr\u00e4sidentschaftswahlen, was zu mehr als sieben Millionen Antr\u00e4gen auf \u201eAmnestie\u201c f\u00fchrte. Mit solchen Antr\u00e4gen werden Eigent\u00fcmer*innen und Bauherren gegen eine geringe Geldsumme von jeglichem Vorwurf freigesprochen, ihre Geb\u00e4ude w\u00fcrden gegen das Gesetz oder die Vorschriften versto\u00dfen.
Selbst staatliche Ministerien errechneten in j\u00fcngsten Berichten, dass rund 50 Prozent des t\u00fcrkischen Geb\u00e4udebestands nicht den aktuellen Bauvorschriften entsprechen. Die seit Jahren wiederholten Warnungen vor der hohen Erdbebengefahr in den nun betroffenen Gebieten und den mangelnden Schutz-Vorbereitungen \u2013 etwa von der Kammer der Geologie-Ingenieur*innen und anderer prominenter Wissenschaftler*innen \u2013 wurden v\u00f6llig ignoriert. Der Gipfel der Arroganz und der sicherlich auch durch den Islamismus bedingten Wissenschaftsfeindlichkeit, die dieser Ignoranz zugrunde liegt, wurde vom B\u00fcrgermeister von Kahramanmara\u015f zum Ausdruck gebracht, der dem Chef der Kammer der Geologie-Ingenieur*innen gesagt haben soll, er glaube nicht an die Pal\u00e4oseismologie \u2013 also die Wissenschaft der Analyse sehr alter tektonischer Verschiebungen, um Erkenntnisse \u00fcber aktuelle Erdbeben zu gewinnen. Niemand wei\u00df zudem, was mit den \u201eErdbebensteuern\u201c (insgesamt etwa 38 Mrd. US-Dollar) geschehen ist, die seit dem Erdbeben von 1999 eingenommen wurden und die f\u00fcr die erdbebensichere Sanierung von Geb\u00e4uden verwendet werden sollten. Erdo\u011fan weigerte sich vor drei Jahren, auf Nachfrage Einzelheiten dazu zu nennen. Stattdessen behauptete er nur ver\u00e4rgert, dass das Geld dort eingesetzt wurde, \u201ewo es gebraucht wurde\u201c. Einer Berechnung zufolge h\u00e4tte man mit dem gesammelten Geld fast alle Wohneinheiten der betroffenen Regionen erdbebensicher erneuern k\u00f6nnen.
Kurzum, die Verquickung der Profitinteressen des Rentierkapitals und des Staates bei der Bereitstellung dieser Profite, aber auch des kleinteiligen Wohneigentums, um die Unterst\u00fctzung der Bev\u00f6lkerung zu sichern, war eine Hauptursache f\u00fcr das Ausma\u00df der Katastrophe. Wie Wissenschaftler*innen unerm\u00fcdlich betonen, ist es technisch betrachtet problemlos m\u00f6glich, Geb\u00e4ude zu bauen, die Erdbeben der aktuellen Gr\u00f6\u00dfenordnung standhalten k\u00f6nnen. Offensichtlich war man nicht gewillt, dies zu tun.
72 Stunden auf sich allein gestellt
Neben dem Vers\u00e4umnis, das Gebiet auf die Erdbeben vorzubereiten, gab es auch ein v\u00f6lliges Vers\u00e4umnis, die Verluste an Menschenleben nach dem Erdbeben zu minimieren, das hei\u00dft beim Katastrophenmanagement. In ausnahmslos allen unabh\u00e4ngigen Berichten aus dem Gebiet wird festgehalten, dass der Zentralstaat in den ersten 24 Stunden nach dem ersten Erdbeben kaum mehr als nichts unternommen hat. In St\u00e4dten wie Antakya in der Provinz Hatay dauerte es ganze drei Tage, bis alle Mechanismen des Katastrophenmanagements einsatzf\u00e4hig waren, und auch dann nur in den st\u00e4dtischen Zentren, nicht in der Peripherie oder in den D\u00f6rfern. Es waren 33 gewerkschaftlich organisierte Minenarbeiter*innen, die am 7. Februar professionell mit den Bergungsarbeiten in Antakya begannen, nicht die zentralstaatlichen Institutionen (und die damit den zivilen Helfer*innen zur Hilfe kamen, die teilweise mit blo\u00dfen H\u00e4nden nach Menschen gruben). Hunderte von Professionellen \u2013 \u00c4rzt*innen, Minenarbeiter*innen, internationale Hilfstrupps \u2013 verloren in der ersten Nacht nach dem Beben kostbare Stunden mit planlosem Warten am Flughafen von Adana, weil keine koordinierende Instanz sie zielgerichtet in den Einsatz beordern konnte. Zur Erinnerung: Bei der Bew\u00e4ltigung von Erdbebenkatastrophen gelten die ersten 48 Stunden als die wichtigsten. Insbesondere bei eisigen Temperaturen, wie sie im Katastrophengebiet herrschen \u2013 in Malatya und Elbistan sind es derzeit bis zu -20 C\u00b0 bei Nacht \u2013, sinkt die \u00dcberlebenschance danach rapide.
F\u00fcr die Unf\u00e4higkeit des Staates, angemessen zu intervenieren, gibt es einen klaren Grund: Nicht das schlechte Wetter, wie von Erdo\u011fan behauptet, sondern die autorit\u00e4re und parteipolitisch motivierte Zurichtung staatlicher Institutionen, gepaart mit neoliberalen Rationalit\u00e4ten, haben zu einem Zustand der L\u00e4hmung des staatlichen Katastrophenmanagements gef\u00fchrt.
Alle Aspekte des Katastrophenschutzes und -managements in der T\u00fcrkei wurden in den letzten Jahren in einer einzigen Institution, dem AFAD (Afet ve Acil Durum Y\u00f6netimi Ba\u015fkanl\u0131\u011f\u0131), zentralisiert, die dazu in typisch neoliberaler Manier Sparma\u00dfnahmen ausgesetzt und mit nur sehr geringen Mitteln ausgestattet wurde. Dar\u00fcber hinaus wurde sie umstrukturiert und mit AKP-Militanten besetzt, die aufgrund ihrer Parteizugeh\u00f6rigkeit und nicht aufgrund ihrer F\u00e4higkeiten f\u00fcr ihre Positionen ausgew\u00e4hlt wurden. Das extremste Beispiel hierf\u00fcr ist sicherlich die f\u00fcr Katastropheneins\u00e4tze zust\u00e4ndige Person: ein Geistlicher ohne jegliche Erfahrung im Katastrophenmanagement. Der Leiter der Beh\u00f6rde hingegen hatte zuvor Gouverneursposten inne und besitzt ebenfalls keine Erfahrung im Katastrophenmanagement. Das Chaos innerhalb des AFAD muss so gro\u00df gewesen sein, dass die Regierung den alten, erfahreneren Chef des AFAD zur\u00fcckbeorderte, um die Kontrolle in der Region Adana zu \u00fcbernehmen. Zuvor war dieser auf einen unwichtigen Posten versetzt worden, weil er sich nicht ganz nach den politischen Interessen des Innenministers richtete.
Anonyme Quellen aus den Reihen des AFAD best\u00e4tigen, dass es vor allem in den ersten 24 Stunden zu einem v\u00f6lligen Mangel an Koordination innerhalb des AFAD kam. Einige AKP-Militante in verantwortlichen Positionen wollten indes aus Angst vor den Reaktionen der \u00d6ffentlichkeit aufgrund ihres langsamen Agierens nicht auf die Stra\u00dfe gehen. Sogar der AFAD selbst hat in einem Pr\u00fcfbericht, den der Vorsitzende der gr\u00f6\u00dften Oppositionspartei (CHP), Kemal K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu, publik gemacht hat, eine lange Liste von Vers\u00e4umnissen, Unf\u00e4higkeiten und mangelnder Koordination in einem Bericht zur Bewertung der Ma\u00dfnahmen bei einem kleineren Erdbeben im letzten Jahr erw\u00e4hnt. Nicht nur, dass der Mangel an F\u00e4higkeiten, Personal und Ausr\u00fcstung ein effektives Katastrophenmanagement verhinderte: Die Abh\u00e4ngigkeit aller im Staat von den Launen Erdo\u011fans verringerte in diesem Fall zus\u00e4tzlich den Willen der Verantwortlichen, Initiative zu ergreifen. Die Armee wurde aus Angst vor ihr und aus dem offensichtlichen Kalk\u00fcl heraus, ihre Beteiligung w\u00fcrde die Legitimit\u00e4t der Regierung schm\u00e4lern, wissentlich nicht ausreichend mobilisiert \u2013 obwohl sie ausreichend Erfahrung und Ger\u00e4te f\u00fcr Bergungsarbeiten sowie f\u00fcr den Aufbau mobiler Hilfsstrukturen (Zelte, Suppenk\u00fcchen usw.) besitzt.
Dieser Mangel an Initiative steht in krassem Gegensatz zu dem, was im Anschluss an das Erdbeben von 1999 geschah. Obwohl das damalige Erdbeben in \u00e4hnlicher Weise die gef\u00e4hrlichen Folgen des neoliberalen Baubooms und des Versagens der Zentralregierung aufzeigte, erkannten Mitglieder der Regierung und eine parlamentarische Untersuchung diese Vers\u00e4umnisse an und kritisierten sie. Viele zivilgesellschaftliche und staatliche Institutionen wie die Armee ergriffen die Initiative und handelten sofort, relativ autonom und ohne zentralstaatliche Weisung \u2013 und die Medien waren frei genug, um die Regierung zu gei\u00dfeln. Heute \u00fcberlagern autorit\u00e4re Hybris und die Notwendigkeiten des politischen \u00dcberlebens selbst die geringste Selbstkritik, w\u00e4hrend die eiserne Faust des Staates versucht, jede unabh\u00e4ngige Berichterstattung zu unterdr\u00fccken. Wie bei der Corona-Pandemie war auch diesmal der Staat in seiner Reaktion laut der Propagandamaschinerie des Regimes Weltklasse. Und wenn es zu Zerst\u00f6rungen kam, dann war das laut Erdo\u011fan \u201eTeil des Plans des Schicksals\u201c oder das Ergebnis einer riesigen Naturkatastrophe, gegen die niemand etwas tun k\u00f6nne. Kritiker*innen wurden mit harter Vergeltung bedroht: jetzt sei nicht die Zeit der Politik, sondern die der nationalen Einheit. Ironischerweise kritisierten islamistische Medien und Personen, die heute hohe \u00c4mter bekleiden, 1999 die Vorstellung einer \u201enationalen Einheit\u201c scharf und wiesen darauf hin, dass diese Art von Narrativ nur dazu diene, die Verantwortung von Staat, Politiker*innen und Bauherren an der Katastrophe zu relativieren. Man mache sich mitschuldig, wenn man diese Relativierung mittrage. Erdo\u011fan selbst hatte 2003 anl\u00e4sslich eines anderen, kleineren Erdbebens schnell die fr\u00fcheren Regierungen und Bauherren gegei\u00dfelt und den Begriff des Schicksals entschieden zur\u00fcckgewiesen. L\u2019enfer, c\u2019est les autres (die H\u00f6lle, das sind die anderen, \u00dcbers. Red.).
Ein Gespenst geht durch die T\u00fcrkei...
Was der Staat trotz der \u00e4u\u00dferst schweren Umst\u00e4nde in der T\u00fcrkei nicht getan hat, haben die Menschen selbst getan. Eine wahrhaft erstaunliche Welle der Solidarit\u00e4t schwappte \u00fcber das Land und die Diaspora und mobilisierte Menschen, Material und Geld, die dann ihren Weg in das Katastrophengebiet fanden. Unz\u00e4hlige Freiwillige beteiligen sich an den Bem\u00fchungen in der Region und dar\u00fcber hinaus, und st\u00e4ndig fahren Lastwagen voller dringend ben\u00f6tigter G\u00fcter aus allen Landesteilen und dem Ausland in Richtung des Katastrophengebiets. In Antakya haben Kommunist*innen verschiedener Richtungen eine f\u00fchrende Rolle bei der Organisation von Solidarit\u00e4tsstrukturen, des \u201eErdbebenkommunismus\u201c (Ali Ergin Demirhan), \u00fcbernommen. Sie sind so gut und effizient vor Ort organisiert, dass sich die Gendarmerie bei der Verteilung zwischenzeitlich eintreffender staatlicher Hilfsg\u00fcter auf die Kommunist*innen verl\u00e4sst. Auch die feministischen Strukturen in der Region wie etwa Mor Dayan\u0131\u015fma (Lila Solidarit\u00e4t) k\u00f6nnen aufgrund ihrer zielgerichteten Arbeit hohen Zulauf vermelden \u2013 einen eindr\u00fccklichen Einblick gibt \u0130rem Kay\u0131kc\u0131s Bericht "Im Frauenzelt". Die Spenden an unabh\u00e4ngige Einrichtungen oder politische Organisationen sind in die H\u00f6he geschnellt, ein Symptom f\u00fcr das tiefe Misstrauen der Bev\u00f6lkerung gegen\u00fcber den zentralstaatlichen Institutionen. F\u00fcr viele f\u00fchlt sich dies wie eine Wiederbelebung des Geistes von Gezi und eine Manifestation der immer latent vorhandenen \u201eanderen T\u00fcrkei\u201c an. Diese Bewegung ist so stark, dass selbst der Staat sie nicht vollst\u00e4ndig aufhalten konnte, auch wenn er versucht, sie einzuschr\u00e4nken und unabh\u00e4ngige Einrichtungen bedroht.
Nach dem anf\u00e4nglichen Chaos versucht das Regime nun, die Initiative wiederzuerlangen und politische Schadensbegrenzung zu betreiben. Sie wissen sehr genau, dass das Blut von Zehntausenden an ihren H\u00e4nden klebt, und handeln dementsprechend, damit sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dem gesamten Auftreten Erdo\u011fans sieht man geradezu das eiskalte Kalk\u00fcl des politischen Machterhalts an: Die einzige Emotion, die er zeigt, ist die Wut dar\u00fcber, dass das Ausma\u00df der Katastrophe seine Kalk\u00fcle durchkreuzen k\u00f6nnte. Das Regime wird sein Bestes tun, um das Staatsbeben als Naturkatastrophe und als eine gro\u00dfartige Geschichte, ja sogar theatralische Inszenierung der nationalen Einheit und der staatlichen Leistungsf\u00e4higkeit darzustellen. Schon jetzt wirft Erdo\u011fan erneut die Geldpresse an f\u00fcr die Betroffenen und dar\u00fcber hinaus und verspricht, das gesamte Gebiet innerhalb eines Jahres aufzubauen. Derzeit ist noch nicht klar, ob \u201eErdo\u011fan einem unaufhaltsamen Tsunami der Unzufriedenheit gegen\u00fcbersteht\u201c. Die Einblicke in die \u00f6ffentliche Stimmung bleiben noch l\u00fcckenhaft. Bisher war Erdo\u011fan immer in der Lage, Katastrophen so einzurahmen, dass er die Oberhand behielt, wenn auch nur knapp. In Verbindung mit der Wirtschaftskrise f\u00fcr die Massen und der allgemeinen Unzufriedenheit steht er dieses Mal mit Sicherheit vor der gr\u00f6\u00dften Herausforderung seiner Regentschaft. Dennoch: einzig eine richtige politische Strategie und Taktik k\u00f6nnen der Unzufriedenheit eine Richtung geben, die seinen Sturz herbeif\u00fchrt.
Anmerkung:
Dieser Artikel ist eine ver\u00e4nderte und l\u00e4ngere Version eines Artikels, der unter dem Titel \u201eTurkey\u2019s Statequake\u201c am 21. Februar im Magazin Sidecar erschienen ist.