T\u00fcrkische Kriegsverbrechen gestern und heute
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Die M\u00fchlen der Justiz mahlen langsam \u2013 das gilt auch f\u00fcr\nnichtstaatliche Gerichte. Mitte M\u00e4rz fand in Paris ein Tribunal du Peuple statt, das den Kriegsverbrechen der Republik\nT\u00fcrkei an den Kurdinnen und Kurden seit Anfang der 1990er Jahre gewidmet war. Es warf einen Blick zur\u00fcck in\ndie Geschichte \u2013 zu einem Zeitpunkt, an dem die \u00d6ffentlichkeit in den Sozialen\nMedien live den Angriff der t\u00fcrkischen Armee samt islamistischer Gruppen auf\nAfrin verfolgte.
Die T\u00fcrkei selbst ermittelt \u2013 wie andere L\u00e4nder auch \u2013 nicht\ngegen ihre eigenen S\u00f6ldner, Soldaten, Polizisten und Geheimdienstler. Der\nEuphemismus der \u201eMorde unbekannter T\u00e4ter\u201c zeigt von vornherein, dass durch die\nstaatliche Justiz der T\u00fcrkei keine Aufkl\u00e4rung stattfindet: Die meisten F\u00e4lle,\ndie mit diesem Begriff gelabelt werden, sind de facto staatlich begangene\nMorde. Der t\u00fcrkische Menschenrechtsverband IHD berichtet\nvon \u00fcber 5.000 derartigen Morden neben weiteren 5.000 extralegalen\nHinrichtungen in den Jahren von 1989 bis 2009, fast alle von ihnen auf\nkurdischen Gebieten an kurdischen B\u00fcrger*innen begangen.
\n\nEine wesentliche Forderung der PKK und insbesondere \u00d6calans\nw\u00e4hrend des Friedensprozesses ab 2013 war die Einrichtung einer Wahrheits- und\nGerechtigkeitskommission, wie sie etwa auch in S\u00fcdafrika nach dem Ende der\nApartheid geschaffen worden war. Die Forderung blieb ein st\u00e4ndiger Streitpunkt\nin den Verhandlungen, weil sich die t\u00fcrkische Seite diesem Ansinnen strikt\nverweigerte.
\n\nSchlie\u00dflich fand auch in internationalem Rahmen bislang\nkeine juristische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen der T\u00fcrkei statt. Der\nInternationale Strafgerichtshof leitete keine Ermittlungen ein, was zum einen\ndaran liegt, dass die T\u00fcrkei das Statut von\nRom erst gar nicht unterzeichnet hat. Zum anderen liegt es aber wohl auch\ndaran, dass die T\u00fcrkei international und den Vertragsstaaten des\nInternationalen Strafgerichtshofes gegen\u00fcber einen zu wichtigen Stellenwert\nhat, um sie derart zu br\u00fcskieren. Der Europ\u00e4ische Menschenrechtsgerichtshof\n(EGMR) wiederum hat zwar die T\u00fcrkei etliche Male verurteilt, jedoch seinerseits\nkeine grundlegende Aufarbeitung der Kriegsverbrechen geleistet. Vielmehr wurden\nin Einzelf\u00e4llen insbesondere Parteiverbote und unfaire Strafverfahren\nkritisiert. Seine Urteile zum\nRecht auf Leben blieben vereinzelt. Da der EGMR \u00fcber keine eigenen\nErmittlungsbeh\u00f6rden verf\u00fcgt, konnte eine Verletzung des Rechts auf Leben zudem\nmeist nicht nachgewiesen werden. Die t\u00fcrkischen Beh\u00f6rden, die stattdessen die\nErmittlungen f\u00fchren sollten, ermitteln nicht gegen eigene Angeh\u00f6rige und so\nkonnte der EGMR nur eine Verletzung des Rechts auf \u201ewirksame Untersuchung eines\nVorfalls\u201c feststellen. (vgl. z.B. Ya\u015fa gg. T\u00fcrkei, Urteil vom 2.9.98).
\n\nAll dies f\u00fchrt dazu, dass kaum publiziertes Wissen \u00fcber die\nKriegsverbrechen der T\u00fcrkei besteht. M\u00f6glicherweise war dies der Grund, weshalb\ndas Permanent\nPeoples\u2019 Tribunal (PPT) den\nVorschlag akzeptierte, hier\u00fcber eine Sitzung zu halten. Das PPT wurde in\nAnlehnung an die Russell-Tribunale 1979 gegr\u00fcndet und untersucht seitdem eine\nVielzahl staatlicher (und teilweise nichtstaatlicher) Verbrechen, beginnend mit\nder West-Sahara und Argentinien bis zuletzt zu Sri Lanka 2010 und Mexiko 2012.\nDie Anklage gegen die T\u00fcrkei wurde von den Rechtsanw\u00e4lt*innen Sara Montinaro\nund Jan Fermon erarbeitet.
\n\nVon staatlich\norchestrierten Hinrichtungen in Paris\u2026
\n\nFermon bedauerte gleich zu Beginn seiner Rede, dass die\nDauer des Tribunals \u00fcber nur zwei Tage eine starke Auswahl der zu\nuntersuchenden Vorf\u00e4lle bedingte. Vieles konnte gar nicht thematisiert werden.\nSo tauchten etwa die \u201eMorde unbekannter T\u00e4ter\u201c oder auch die Verbrennungen\nhunderter D\u00f6rfer Anfang der neunziger Jahre nur am Rande auf. Die beiden\nRechtsanw\u00e4lt*innen widmeten sich schwerpunktm\u00e4\u00dfig den Verbrechen im Zusammenhang\nmit den Ausgangssperren nach dem Ende des Friedensprozesses 2015 und 2016. Ein weiterer Schwerpunkt bestand in dem Vorwurf des Mordes an den\ndrei kurdischen Aktivistinnen Sakine Cans\u0131z (Sara), Fidan Do\u011fan (Rojb\u00een) und\nLeyla \u015eaylemez (Ronah\u00ee) im Januar 2013 im kurdischen Kulturzentrum in Paris.
\n\nDer mutma\u00dfliche T\u00e4ter, \u00d6mer G\u00fcney, starb im Dezember 2016 im\nGef\u00e4ngniskrankenhaus an einem Gehirntumor \u2013\u00a0\nwenige Wochen vor Beginn des Verfahrens gegen ihn. Damit war der Prozess\ngeplatzt, es hatte, auch in Frankreich, keine Aufkl\u00e4rung der Exekution\nstattgefunden. Der Fall ist brisant: Bereits wenige Wochen nach der Verhaftung\n\u00d6mer G\u00fcneys waren im Internet Mitschnitte von Telefonaten zwischen G\u00fcney und\nMitarbeitern des t\u00fcrkischen Geheimdienstes MIT aufgetaucht.
\n\nZuletzt kam Bewegung in den Fall durch einen Coup der\nLeitung der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans). Im August 2017\nhatten Agenten des t\u00fcrkischen Geheimdienstes MIT im Nordirak versucht, \u00fcber\neinen Trick in die N\u00e4he des KCK-Ko-Vorsitzenden und PKK-Mitbegr\u00fcnders Cemil\nBay\u0131k zu gelangen, um diesen zu liquidieren. Allerdings hatten die\nSicherheitsmitarbeiter der kurdischen Befreiungsbewegung wohl selbst ein\ndoppeltes Spiel gespielt und die Agenten in der Autonomiezone der KCK im\nKandilgebirge zun\u00e4chst festgesetzt und dann verh\u00f6rt. Die umfangreichen Aussagen\nder Agenten wurden auf Video aufgenommen und ver\u00f6ffentlicht\nund legen eine Einbindung der F\u00fchrungsebene des MIT in die Ermordung der drei\nAktivistinnen sehr nahe.
\n\nNeben besagten Videos wurden dem Gericht \u2013 das leider nur\naus Wei\u00dfen, gr\u00f6\u00dftenteils zudem aus\nM\u00e4nnern bestand \u2013 auch Zeugenaussagen zweier Mitarbeiter des kurdischen Kulturzentrums,\ndes Nebenklagevertreters in dem Strafverfahren gegen G\u00fcney und andere Belege\nf\u00fcr die Einbindung des MIT vorgelegt. Vor allem der Anwalt Antoine Comt\u00e9 legte\nminuti\u00f6s dar, wie der MIT Flugtickets, Mobiltelefone und SIM-Karten f\u00fcr G\u00fcney\nerworben und zudem mit G\u00fcney in st\u00e4ndigem Kontakt gestanden hatte. Er mutma\u00dfte,\ndass G\u00fcney von vornherein f\u00fcr die Aufgabe ausgesucht worden war, da sein\nGehirntumor und die damit zusammenh\u00e4ngende begrenzte Lebenserwartung bereits\ndamals festgestanden hatten. Die Morde k\u00f6nnten eine Strategie des sogenannten\nTiefen Staates (t\u00fcrkisch: derin devlet) gewesen sein, um den beginnenden\nFriedensprozess zwischen der AKP und der kurdischen Befreiungsbewegung zu\nunterminieren.
\n\nDer Strafverteidiger in mir h\u00e4tte sich wohl gew\u00fcnscht, dass\ndie Verh\u00f6rmethoden, mit denen die Videoaussagen der MIT-Agenten zustanden\ngekommen waren, thematisiert worden w\u00e4ren. So ist schwer vorstellbar, wie die\nGeheimdienstmitarbeiter, obwohl sie dies in die Kameras versicherten,\nfreiwillig ihre Aussagen machten. Jedenfalls: Das Puzzle der drei Exekutionen\nin Paris kann mittlerweile einige Schritte weiter zusammengesetzt werden.
\n\n\u2026bis in die Keller\nvon \u00c7izre
\n\nAm Vortag lag der Schwerpunkt der Beweisaufnahme auf den\nAusgangssperren, die der t\u00fcrkische Staat in den kurdischen Gebieten in der\nzweiten Jahresh\u00e4lfte 2015 und der ersten H\u00e4lfte 2016 verh\u00e4ngt hatte. Nachdem\nder Friedensprozess zwischen der PKK und dem t\u00fcrkischen Staat von\nStaatspr\u00e4sident Erdo\u011fan im Fr\u00fchling 2015 (kurz vor den Wahlen im Juni 2015) f\u00fcr\nbeendet erkl\u00e4rt wurde, hatte wohl wiederum der MIT zun\u00e4chst den Anschlag von\nSuru\u00e7 im August 2015 erm\u00f6glicht und dann die T\u00f6tung zweiter Soldaten in\nCeylanp\u0131nar als PKK-Aktion unter false\nflag inszeniert. Unmittelbar danach stiegen wieder t\u00fcrkische Kampfflugzeuge\nauf und bombardierten nicht nur im Nordirak, sondern auch auf \u201eeigenem\u201c\nTerritorium kurdische Gebiete. Die Guerilla reagierte, in dem sie erstmals in\nden kurdischen St\u00e4dten Jugendliche unterst\u00fctzte und organisierte, die als\nYDG-H, sp\u00e4ter als YPS den einr\u00fcckenden Milit\u00e4rs selbstgebaute Barrikaden und\nGr\u00e4ben entgegensetzten. Letztlich war dies milit\u00e4risch eine Fehleinsch\u00e4tzung.\nDas t\u00fcrkische Milit\u00e4r und insbesondere die Spezialeinheiten der Gendarmerie\n(J\u00d6H) und der Polizei (P\u00d6H) gingen erbarmungslos vor und schossen auf alle, die\nsich in den Gebieten bewegten. Der t\u00fcrkische Staat verh\u00e4ngte Ausgangssperren in\nvielen St\u00e4dten, die l\u00e4ngste davon in der historischen Altstadt Ameds (t\u00fcrkisch:\nDiyarbak\u0131r), Sur. Das Tribunal in Paris konzentrierte sich indes auf die\n100.000-Einwohner-Stadt Cizre, in der es zu den gr\u00f6\u00dften Massakern an der\nBev\u00f6lkerung gekommen war. Insbesondere von drei Kellern berichteten mehrere\nZeugen dem Tribunal: In diese waren \u00fcber 200 Menschen gefl\u00fcchtet und dort von\nder t\u00fcrkischen Armee verbrannt worden. Die B\u00fcrgermeisterin von Cizre, Leyla\nImret, der Abgeordnete der HDP f\u00fcr den Wahlkreis \u015e\u0131rnak, Faysal Sar\u0131y\u0131ld\u0131z, und\nmehrere andere Augenzeug*innen berichteten von Kindern, die sp\u00e4ter beim Spielen\nam Tigris Menschenknochen fanden und von M\u00fclls\u00e4cken, in denen die wenigen Kilos\nmenschliche \u00dcberreste aus den Kellern entsorgt wurden.
\n\nJuristisch ging es den beiden \u201eAnkl\u00e4ger*innen\u201c insbesondere\ndarum, darzulegen und zu beweisen, dass es sich bei dem Konflikt zwischen der\nPKK und dem t\u00fcrkischen Staat um einen \u2013 blo\u00dfe \u201eScharm\u00fctzel\u201c \u00fcberschreitenden \u2013\nanhaltenden bewaffneten Konflikt handele, f\u00fcr den damit das Kriegsrecht\nanwendbar sei. Daher verzichteten sie darauf, wie Fermon auf Nachfrage einer\nder sieben Richter*innen erl\u00e4uterte, neben den Kriegsverbrechen gem\u00e4\u00df Artikel 8\ndes r\u00f6mischen Statutes auch die ebenfalls naheliegenden Verbrechen gegen die\nMenschlichkeit gem\u00e4\u00df Artikel 7 anzuklagen. Sie konzentrierten sich vielmehr auf\ndie Voraussetzungen f\u00fcr einen bewaffneten Konflikt sowie darauf, darzulegen,\ndass es sich um ein rassistisches Vorgehen gegen die kurdische Bev\u00f6lkerung\nhandele.
\n\nDies zeigt zugleich auch das Paradox auf, in dem sich die\nkurdische Befreiungsbewegung befindet. W\u00e4hrend sie die Idee eines eigenen\nkurdischen Nationalstaates schon seit langem nicht mehr verfolgt und \u00d6calan das\nKonzept des Demokratischen Konf\u00f6deralismus als dem Staatsprinzip\nentgegengesetzt entwickelte, wird sie nur dann ernst genommen, wenn sie\nterritoriale Gebietsanspr\u00fcche darlegen kann. Ein bewaffneter Konflikt, auf den die Regeln des humanit\u00e4ren V\u00f6lkerrechts Anwendung finden, liegt nach der Rechtssprechung des Internationalen Strafgerichtshofs erst dann vor, wenn eine organisierte bewaffnete Gruppe in der Lage ist, eine l\u00e4nger anhaltende, intensive Auseinandersetzung mit den staatlichen Streitkr\u00e4ften zu f\u00fchren. Eine der daf\u00fcr ma\u00dfgeblichen Fragen ist, ob der Konflikt auf einem gr\u00f6\u00dferen Territorium gef\u00fchrt wird. Erst dann findet das Statut von Rom, finden die Vorschriften \u00fcber Kriegsverbrechen, Anwendung. Das bedeutet aktuell: Nur dann, wenn die kurdische Bewegung wie in\nRojava ein Territorium mit Waffengewalt kontrolliert und verteidigt, wird sie\nals Akteurin wahrgenommen, w\u00e4hrend das fortschrittliche Konzept des\nDemokratischen Konf\u00f6deralismus nicht nur von staatlichen Akteuren nicht ernst\ngenommen wird, sondern zudem auch von internationalen Statuten benachteiligt\nwird. Die Abschaffung von Staatlichkeit wird wohl nicht in einem einzelnen\nGebiet, losgel\u00f6st von globalen Kontexten, sondern nur insgesamt stattfinden\nk\u00f6nnen.
\n\nDas Tribunal war insgesamt ein\nwertvoller Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der Massaker der T\u00fcrkei an\nder kurdischen Bev\u00f6lkerung Anatoliens. Viele gesammelte Berichte von\nZeitzeug*innen wurden der \u00d6ffentlichkeit erstmals zug\u00e4nglich gemacht. Das Urteil des Tribunals unter Vorsitz des Richters des\nfranz\u00f6sischen Kassationshofes, Philippe Texier, wird im April in Br\u00fcssel vor\nAbgeordneten des europ\u00e4ischen Parlaments verk\u00fcndet.
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