Wohnungsfrage reloaded - 150 Jahre Wohnen als Ware
\nIm Jahr 1872/73 schrieb Friedrich Engels einen Aufsatz \u00fcber die Wohnungsnot in den Industriest\u00e4dten des 19. Jahrhunderts, ihre Ursachen und die j\u00e4mmerlichen Versuche der Sozial-Bourgeoisie einer sogenannten L\u00f6sung der Wohnungsfrage. Fast 150 Jahre sp\u00e4ter, im Jahr 2021, gr\u00fcndet sich in Berlin-Friedrichshain eine kleine Anwohner*inneninitiative, die den Luxus-Bauprojekten von Gro\u00dfinvestor*innen im Kiez den Kampf ansagt.
Der folgende Artikel begibt sich \u00fcber Engels\u2018 Aufsatz zu den Urspr\u00fcngen der Wohnungsfrage, die heute erneut zu einem der dr\u00e4ngendsten sozialen Anliegen und dem bestimmenden Wahlkampfthema der Bundestagswahl 2021 geworden ist und zeigt ihre historische Kontinuit\u00e4t auf. Die Aufbereitung von Engels\u2018 Text und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen f\u00fcr gegenw\u00e4rtige Mietenk\u00e4mpfe rahmen dabei ein Interview mit der Mieter*inneninitiative \u201eWem geh\u00f6rt der Laskerkiez?\u201c, die die Wohnungsfrage ganz aktuell und praktisch stellt.
Die Wohnungsfrage im 19. Jahrhundert
\u201eWas man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigent\u00fcmliche Versch\u00e4rfung, die die schlechten Wohnungsverh\u00e4ltnisse der Arbeiter durch den pl\u00f6tzlichen Andrang der Bev\u00f6lkerung nach den gro\u00dfen St\u00e4dten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verst\u00e4rkte Zusammendr\u00e4ngung der Bewohner in den einzelnen H\u00e4usern, f\u00fcr einige die Unm\u00f6glichkeit, \u00fcberhaupt eine Wohnung zu finden.\u201c[1] Dieses Ph\u00e4nomen kommt uns heute mehr als bekannt vor. Die Wohnungsnot ist in aller Munde und selbst marktradikale und konservative Politiker*innen k\u00f6nnen die Augen nicht mehr davor verschlie\u00dfen, dass erschwinglicher Wohnraum zunehmend Mangelware wird. Sie f\u00fcllen daher ihre Wahlkampfprogramme f\u00fcr die kommende Bundestagswahl mit mehr oder (vor allem) weniger sinnvollen Vorschl\u00e4gen, wie das Problem anzugehen sei. Diese drehen sich vornehmlich um Investitionsanreize f\u00fcr privaten Wohnungsbau und die F\u00f6rderung von Wohneigentum und befeuern damit die Mechanismen weiter, die \u00fcberhaupt erst zur massiven Versch\u00e4rfung der Wohnungsfrage gef\u00fchrt haben, wie im Folgenden deutlich wird. Die Besch\u00e4ftigung mit Friedrich Engels\u2018 Text ist dabei lohnenswert, weil er so frappierende Parallelen zur Gegenwart aufzeigt und seine Analyse kaum an Aktualit\u00e4t eingeb\u00fc\u00dft hat.
Engels verortet die Wohnungsfrage innerhalb der sozialen Frage, die durch die sich zuspitzenden sozialen Widerspr\u00fcche im Kapitalismus aufgeworfen wird. Und auch gegenw\u00e4rtig strahlt in der Debatte um die zunehmende soziale Ungleichheit innerhalb westlicher Gesellschaften ein Spotlight auf die Frage nach erschwinglichem Wohnraum und macht damals wie heute \u201enur soviel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschr\u00e4nkt, sondern auch das Kleinb\u00fcrgertum mit betroffen hat.\u201c Trifft nun der Umstand, dass Kapitalist*innen kein Interesse an sozial vertr\u00e4glichem Wohnungsbau haben, da sich mit Luxusbauten oder Gesch\u00e4ftsgeb\u00e4uden mehr Profit machen l\u00e4sst, auf einen weitestgehend unregulierten Wohnungsmarkt, so ist das Ergebnis stets das Gleiche: Rasch steigende Mietpreise, die zur Verdr\u00e4ngung der ans\u00e4ssigen Bev\u00f6lkerung an den Stadtrand und/oder zur Zusammendr\u00e4ngung der Wenigverdiener*innen in zu kleine Wohnungen f\u00fchrt. Im 19. Jahrhundert zog das zahlreiche \u00fcble Konsequenzen nach sich, wie zum Beispiel die rasante Ausbreitung von Seuchen innerhalb dieser Viertel. Ein \u00dcbergreifen auf gut situierte Stadtteile blieb oft nicht aus und erst dann entdeckte auch die Bourgeoisie ihre Menschenliebe und setzte an, den schlimmsten Missst\u00e4nden Abhilfe zu verschaffen. Ihre Entsprechung finden diese Vorg\u00e4nge in der Gegenwart in den v\u00f6llig \u00fcberbelegten Wohncontainern f\u00fcr Gastarbeiter*innen, die in den b\u00fcrgerlichen Nachrichten und der Politik erst problematisiert wurden, als sie durch Massenansteckungen mit dem Corona-Virus zur Gefahr f\u00fcr alle wurden.
Im Zusammenhang mit den miserablen Wohnverh\u00e4ltnissen der Arbeiterklasse waren schon Engels die b\u00fcrgerlichen Bestrebungen, die Innenst\u00e4dte sch\u00f6ner und wohnlicher zu machen, f\u00fcr die sich die Bourgeois selbst feierten, bekannt, welche allerdings lediglich zu einer Verlagerung sozialer Brennpunkte an einen anderen Ort f\u00fchrten. Engels nannte es \u201ePraxis des Breschelegens\u201c, wir kennen das heute als Gentrifizierung.
Nichtsdestotrotz, so konstatiert Engels, werden die Missst\u00e4nde, die mit der Wohnungsfrage einhergehen, im Kapitalismus mit \u00f6konomischer Notwendigkeit immer wieder neu erzeugt. Mietwucher und die Spekulation mit Wohnraum entspringt nicht bzw. nicht notwendigerweise der mangelnden Moralit\u00e4t der Grundeigent\u00fcmer*innen, wie Formulierungen wie \u201eMiethaie\u201c leicht suggerieren. Vielmehr sind sie Resultat der Konkurrenzsituation auf dem kapitalistischen Wohnungsmarkt, die Eigent\u00fcmer*innen dazu dr\u00e4ngt, aus ihren Wohnungen m\u00f6glichst hohen Profit zu schlagen, um auf dem Markt gut mithalten zu k\u00f6nnen. Insofern gilt: Wo Wohnen Ware ist, herrscht Wohnungsnot.
Wohneigentum kann nicht die Antwort sein
Engels zieht das Fazit, dass sich die Wohnungsfrage innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht l\u00f6sen l\u00e4sst \u2013 vor allem nicht durch die von Politiker*innen verschiedener Spektren gern vorgebrachte Idee, man m\u00fcsse Arbeiter*innen nur in die Lage versetzen, Wohneigentum erwerben zu k\u00f6nnen. Diese Schlussfolgerung ist auf Basis einer materialistischen Gesellschaftsanschauung, also der Betrachtung und Analyse von Gesellschaften anhand der in ihnen herrschenden Produktions- und Klassenverh\u00e4ltnisse, absolut treffsicher: Im Kapitalismus richtet sich die H\u00f6he des Arbeitslohns im Durchschnitt nach den Kosten f\u00fcr die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft. Entfallen durch Wohneigentum die Kosten f\u00fcr Unterkunft der Arbeiter*innen, werden mittel- bis langfristig die L\u00f6hne sinken, weil dadurch die Reproduktionskosten der Arbeitskraft geschm\u00e4lert werden. Eine Verbesserung in den Lebens- und Verm\u00f6gensverh\u00e4ltnissen ist bei einer fl\u00e4chendeckenden Etablierung von Wohneigentum daher nicht zu erwarten. Und weiter: Wohneigentum kettet die Arbeiter*innen an die heimische Scholle und zementiert damit ihre Abh\u00e4ngigkeit von Arbeitgeber*innen bzw. Kapitalist*innen. Das ist durchaus Teil des bourgeoisen Kalk\u00fcls. Je gr\u00f6\u00dfer die Abh\u00e4ngigkeit der Arbeitenden von den Kapitalist*innen, desto mehr Gehorsam ist von ihnen zu erwarten. Letztlich zielt diese Strategie also darauf ab, Klassenk\u00e4mpfe zu unterminieren. Die F\u00f6rderung von Wohneigentum findet sich \u00fcbrigens in unterschiedlicher Ausformung in den Wahlprogrammen aller gro\u00dfen Parteien, au\u00dfer bei die Linke.
Die Relevanz von Engels\u2018 Aufsatz trotz seines beachtlichen Alters von 150 Jahren ist also augenscheinlich. Die Hervorbringung der Wohnungsnot vollzieht sich \u2013 wenn auch neoliberal modifiziert \u2013 immer noch nach den gleichen kapitalistischen Mechanismen. Ebenso aktuell ist somit der Widerstand gegen die Profitmacherei mit Wohnraum und Baufl\u00e4chen und gegen soziale Verdr\u00e4ngung. In Berlin-Friedrichshain gr\u00fcndete sich in diesem Jahr eine Anwohner*innen-Initiative, die ihren Kiezkampf im folgenden Interview vorstellt.
\u201e\u2026und zwei Wochen sp\u00e4ter lag das Wahlprogramm der FDP im Briefkasten.\u201c
Interview mit Amanda und Timo von "Wem geh\u00f6rt der Lasker Kiez"
re:volt: Eure Mieten-Ini \u201eWem geh\u00f6rt der Lasker Kiez\u201c hat sich Anfang diesen Jahres gegr\u00fcndet. Was war der Anlass und warum braucht es eine weitere Anwohner:innen-Initiative in Berlin?
Timo: Unsere Initiative ist im Lasker-Kiez im S\u00fcden Friedrichshains aktiv. Ich lebe jetzt seit f\u00fcnf Jahren hier und bisher war es immer so, dass dieser S\u00fcdzipfel von Friedrichshain noch nicht so krass von der Gentrifizierung betroffen war wie zum Beispiel die Gegend weiter n\u00f6rdlich um den Boxhagener Platz herum. Ende letzten Jahres fing es an, dass hier einige der alten Autoh\u00e4user abgerissen wurden und irgendwelche steinreichen Unternehmen ank\u00fcndigten, hier Luxusb\u00fcros aus dem Boden zu stampfen. Es ging los mit der Pandion AG, dem viertgr\u00f6\u00dften sogenannten Immobilienentwickler in Deutschland, der hier den \u201eOstkreuz Campus\u201c errichten will. Wir mussten feststellen, dass im Kiez mehrere solcher Luxusb\u00fcrogeb\u00e4ude in Planung waren, zum Beispiel auch neben der alternativen Bar \u201eZukunft am Ostkreuz\u201c. Als wir gemerkt haben, dass das Viertel hier von irgendwelchem Luxusb\u00fcroschei\u00df umringt werden soll, kam der Stein ins Rollen. Gleichzeitig gibt es hier eine ziemlich coole Nachbarschaft \u2013 wir haben das Hausprojekt B\u00f6di um die Ecke, dann eine Bar, in der Veranstaltungen zu linken und sozialen Themen stattfinden, den selbstverwalteten B\u00fcrger:innengarten Laskerwiese, einen Jugendclub, diverse coole Sp\u00e4tis \u2013 und das soll auch so bleiben! Es fehlte eigentlich nur an der Organisierung. Wir waren halt nicht connected und konnten so die Informationen nicht streuen. Unser Ziel war also, die Leute aus der Nachbarschaft an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam gegen diese Bauprojekte vorzugehen. Denn gefragt haben diese Unternehmen nat\u00fcrlich nicht und auch von der Politik hat man erstmal nichts dazu geh\u00f6rt.
re:volt: Von welchen Bauvorhaben sprecht ihr da konkret?
Timo: Da ist einmal der \u201eOstkreuz Campus\u201c von Pandion, den ich bereits erw\u00e4hnte. Das ist ein Terrain, etwa so gro\u00df wie zwei Fu\u00dfballfelder, auf dem ein B\u00fcrokomplex entstehen soll. Die besondere Widerlichkeit bei Pandion ist, dass sie dreist behaupten, dass ihr Bau gut f\u00fcr das Viertel w\u00e4re. Aber wenn wir ein paar Kilometer weiter in den Nachbarbezirk Kreuzberg blicken, wo Pandion schon Geb\u00e4ude mit so wohlklingenden Namen wie \u201eThe Grid\u201c und \u201eThe Shelf\u201c gebaut hat, k\u00f6nnen wir feststellen, dass schon w\u00e4hrend des Baus dieser High-End-Immobilien die Mieten in den umliegenden Wohnungen massiv angezogen wurden.
Au\u00dferdem will das Unternehmen Trockland zwei B\u00fcrokl\u00f6tze links und rechts neben der Bar \u201eZukunft am Ostkreuz\u201c errichten. Und Adam Europe Real Estate will am Markgrafendamm 400 Mikroapartments und ein als \u201eBoarding House\u201c bezeichnetes hotel\u00e4hnliches Apartmentgeb\u00e4ude bauen. \u201eRFR Development GmbH\u201c baut am Urban-Spree-Komplex weiter, da war noch eine Fl\u00e4che frei. Daneben stehen auch schon Geb\u00e4ude mit Eigentumswohnungen, die jede so etwa eine Million Euro kosten. Es gibt noch ein paar weitere Projekte, aber das sind die gr\u00f6\u00dften Player.
re:volt: Was ist im Speziellen eure Kritik an den Bauprojekten und welche Folgen bef\u00fcrchtet ihr durch ihre Realisierung f\u00fcr den Kiez?
Amanda: Zum einen kritisieren wir, dass die Anwohner:innen, insbesondere von der Politik, nicht einbezogen werden. Gerade die Menschen, die hier wohnen, sollten einfach ein Recht zur Mitsprache und Mitbestimmung haben, ihre W\u00fcnsche \u00e4u\u00dfern k\u00f6nnen. In einer Demokratie sollte das doch selbstverst\u00e4ndlich sein. Die Lebensumst\u00e4nde der hier ans\u00e4ssigen Menschen werden durch Pandions angeblich geplante offene Cafeteria nicht verbessert. Niemand hier braucht \u00fcberteuerten Latte Macchiato. Auf Nachfrage musste Pandion auch zugeben, dass der beworbene begr\u00fcnte Innenhof verschlie\u00dfbar sein wird, um das Hausrecht aus\u00fcben zu k\u00f6nnen \u2013 sprich: unliebsame Personen jederzeit vertreiben zu k\u00f6nnen. Zum anderen ist klar geworden, dass die Investor:innen auch die \u00f6rtliche Infrastruktur verdr\u00e4ngen. Es haben bereits zwei Superm\u00e4rkte dichtgemacht. Hinzu kommt nat\u00fcrlich die Verdr\u00e4ngung lokaler Initiativen wie des Gartens Laskerwiese und des \u201eZukunft am Ostkreuz\u201c. Die R\u00e4umlichkeiten letzterer wurden k\u00fcrzlich gek\u00fcndigt und da reibt sich der Investor Trockland schon die H\u00e4nde und will sich dieses Grundst\u00fcck zwischen seinen zwei geplanten B\u00fcrot\u00fcrmen wahrscheinlich auch noch sichern. Dagegen m\u00fcssen wir uns wehren und ganz klar signalisieren, dass wir das nicht wollen.
re:volt: Der Bezirk ist ja eigentlich seit Jahren gr\u00fcn regiert und die Gr\u00fcnen schm\u00fccken sich auch gern mit einer sozialen Politik, aber wie haben denn nun die politisch Verantwortlichen auf die Bauprojekte und auf eure Initiative reagiert?
Amanda: Unterschiedlich. Es ist ja Wahljahr und da lie\u00dfen sich auch ein paar Politiker:innen bei unseren Kundgebungen blicken und haben gro\u00dfe Reden geschwungen. Dabei blieb es aber auch. Die Gr\u00fcnen haben sich zwar ge\u00e4u\u00dfert, aber verweisen eigentlich immer nur auf\u2019s Bundesrecht. Sie meinen also, der Bezirk sei nicht zust\u00e4ndig und dass die Frage der Bebauung auf Bundesebene gel\u00f6st werden m\u00fcsse. Sie entziehen sich damit ihrer Verantwortung.
Timo: Das Absurde ist, dass im Grunde keine Partei mehr etwas an den Unternehmenspl\u00e4nen \u00e4ndern kann. Das h\u00e4tte viel fr\u00fcher geschehen m\u00fcssen. Aber die Unternehmen haben diese Fl\u00e4chen vor Jahren erworben und haben das Baurecht. Lediglich eine Einzelperson bei den Gr\u00fcnen hat sich f\u00fcr einen qualifizierten Bebauungsplan eingesetzt, durch den eine teilweise kulturelle Nutzung der Fl\u00e4chen sichergestellt werden soll. Aber letztlich werden diese Luxusbauprojekte halt kommen und keine Partei steht daf\u00fcr ein, sie zu verhindern. Das ist nat\u00fcrlich bitter. F\u00fcr die Nachbarschaft ist es ein Schlag ins Gesicht \u2013 ebenso wie Pandions Behauptung, diesem selbsternannten \u201ePartner f\u00fcr Lebensr\u00e4ume\u201c, etwas Gutes f\u00fcr den Kiez zu tun.
re:volt: Was h\u00e4lt denn eure Initiative von diesem qualifizierten Bebauungsplan?
Timo: Der Bebauungsplan ist vermutlich nicht schlecht, kommt aber eigentlich zu sp\u00e4t. Unsere Ini steht f\u00fcr einen absoluten Baustopp. Es geht um schei\u00df Unternehmen, die hier niemand haben will. Das ist bei vielen Gespr\u00e4chen unsererseits mit Nachbar:innen und bei Haust\u00fcrgespr\u00e4chen sehr deutlich geworden. Und es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass die Menschen, die hier leben, nicht mitentscheiden d\u00fcrfen, auf die wir \u00f6ffentlich aufmerksam machen wollen. Nicht eine Person, mit der wir gesprochen haben, hat sich f\u00fcr diese Luxus-Offices ausgesprochen und deshalb stehen wir konsequent daf\u00fcr, diese und \u00e4hnliche Bauvorhaben zu verhindern. Aber von der Politik wird diese M\u00f6glichkeit nicht in Betracht gezogen. Letztendlich gibt es f\u00fcr die Verantwortlichen ja auch rechtlich diese M\u00f6glichkeit nicht mehr. Unsere Taktik ist deshalb, am Image dieser Unternehmen wie Pandion anzusetzen und sie zu demaskieren \u2013 also zu zeigen: das sind hier nicht die netten Freunde der Nachbarschaft, sondern es sind die, die daf\u00fcr sorgen, dass wir in ein paar Jahren wegziehen m\u00fcssen.
re:volt: Wie lie\u00dfen sich denn diese Fl\u00e4chen besser nutzen und was w\u00fcnscht ihr euch f\u00fcr die kommende Zeit?
Amanda: Was Ballungsr\u00e4ume wie Berlin wirklich brauchen, sind Gr\u00fcnfl\u00e4chen. Hier im Kiez gibt es nur einen begr\u00fcnten Platz, den Rudolfplatz, und das reicht nicht. Es gibt zwar noch den B\u00fcrger:innengarten Laskerwiese, der aber f\u00fcr Lidl-Parkpl\u00e4tze vor einiger Zeit verkleinert wurde. Dabei sind es Gr\u00fcn- und Erholungsfl\u00e4chen, die die Lebensqualit\u00e4t der Menschen, die hier leben, erhalten und steigern.
Was ich mir deshalb w\u00fcnsche ist, dass der Druck auf die Politik auch nach der Wahl gro\u00df bleibt. Sie sollen Politik f\u00fcr die Menschen machen und nicht f\u00fcr sich selbst oder die Immobilienlobby. So sieht es im Moment aber leider nicht aus. Hier im Viertel soll es demn\u00e4chst eine massive Nachverdichtung geben, bei der zwischen den H\u00e4usern noch weitere Wohnh\u00e4user gebaut werden. Da sind zwar auch Sozialwohnungen dabei, aber bei Weitem nicht so viele, wie es br\u00e4uchte.
F\u00fcr unsere Ini w\u00fcnsche ich mir, dass wir uns weiter vernetzen \u2013 wir sind hier im Kiez auch schon dabei.
Timo: Die Sozialwohnungen, die Amanda angesprochen hat, sind vielen Anwohner:innen hier ein wichtiges Anliegen. Es ist kein Geheimnis, dass Berlin einen erheblichen Mangel an bezahlbarem Wohnraum hat. Die Schaffung von kommunalem, bezahlbarem Wohnraum ist also eine wichtige politische Forderung f\u00fcr uns. Nat\u00fcrlich w\u00fcnschen wir uns auch einen Mietendeckel auf Bundesebene. Unsere WG hat durch den Berliner Mietendeckel 200 \u20ac im Monat gespart. Dann wurde er gekippt, es gab diese krasse Nachzahlung und zwei Wochen sp\u00e4ter lag das Wahlprogramm der FDP im Briefkasten. So ging es hier Vielen. Wir unterst\u00fctzen auch die Enteignungsbestrebungen von \u201eDeutsche Wohnen und Co. enteignen\u201c.
Auf gesellschaftlicher Ebene w\u00fcnschen wir uns, den Menschen nahebringen zu k\u00f6nnen, dass Gentrifizierung ein komplexes Problem ist. Das hei\u00dft, dass es bei den Bauprojekten im Kiez zwar aktuell nicht um die Wohnungen der Menschen geht, dass diese Gentrifizierungsprozesse sie aber trotzdem betreffen. Pandion, Trockland und Adam Europe bauen zwar gerade auf diesen Freifl\u00e4chen, aber in der Folge wird das Viertel aufgewertet und der Mietspiegel steigt. Und in ein paar Jahren werden dann vielleicht nicht genau diese, aber x-beliebige andere Investor:innen die Wohnh\u00e4user der Menschen kaufen und sie durch Wuchermieten verdr\u00e4ngen. Unser Ziel ist es, das aufzuzeigen, die Menschen auf der Stra\u00dfe, in den Sp\u00e4tis usw. anzusprechen. Wir w\u00fcnschen uns, als Ini gr\u00f6\u00dfer zu werden und letztendlich diese schei\u00df Unternehmen aus dem Kiez zu vertreiben.
Die Initiative \u201cWem geh\u00f6rt der Lasker-Kiez\u201c wird bei der Mietenstopp-Demo am 11.09. mit einem Redebeitrag vertreten sein.
Au\u00dferdem findet ihr sie auf Twitter, Facebook und Instagram.
Die Wohnungsfrage heute
Der historische Vergleich zwischen Engels\u2018 Beobachtungen und der heutigen Wohnungsfrage zeigt zweierlei. Zum einen wird schnell klar, dass das konkrete Erscheinungsbild der Wohnungsnot sich gewandelt hat. W\u00e4hrend Arbeiter*innen im 19. Jahrhundert, so wie es Engels auch ausf\u00fchrlich in seinem Werk \u201eDie Lage der arbeitenden Klasse in England\u201c am Beispiel Manchester beschreibt, noch in v\u00f6llig \u00fcberf\u00fcllten, verschmutzten und krank machenden Behausungen leben mussten, haben sich die Wohnbedingungen zumindest der Menschen, die eine Wohnung haben, demgegen\u00fcber verbessert. Als wenig ruhmreiches Gegenbeispiel sei an dieser Stelle allerdings noch einmal auf die Container-Wohnungen f\u00fcr Gastarbeiter*innen verwiesen, die nicht nur als Wiederkehr des industriekapitalistischen Cottage-Systems[2] gelten k\u00f6nnen, sondern insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie eine reale Gesundheitsgef\u00e4hrdung der Arbeiter*innen durch beengte Wohnverh\u00e4ltnisse darstellen.
Was im Vergleich aber auch deutlich wird ist, dass die Mechanismen, die zu explodierenden Mieten, Wohnungsnot und erheblichem existenziellen Druck insbesondere auf die unteren Klassen f\u00fchrt, nach wie vor dieselben sind, wie zu Engels\u2018 Lebzeiten. Das liegt daran, dass ihnen die gleichen grundlegenden sozialen Verh\u00e4ltnisse zugrunde liegen, n\u00e4mlich die der kapitalistischen Klassengesellschaft.
Schulterschluss in der sozialen Frage
Damals wie heute wird der Wohnungsmarkt gr\u00f6\u00dftenteils der Spekulation und Profitmacherei Weniger \u00fcberlassen, was zu einem immer knapper werdenden Angebot preiswerter Wohnungen insbesondere in den Gro\u00dfst\u00e4dten f\u00fchrt. Betroffen sind davon nat\u00fcrlich vor allem Prekarisierte, wie Geringverdiener*innen, Erwerbslose, Rentner*innen und (oft in mehrfacher Hinsicht strukturell benachteiligte) Migrant*innen, in immer weiter zunehmendem Ma\u00dfe aber auch b\u00fcrgerliche Gesellschaftsschichten mit durchschnittlichem Verdienst. Genau darin liegt das transformatorische Potenzial der Mieter*innenbewegung. Wenn selbst ein \u201enormales\u201c Gehalt nicht mehr ausreicht, um eine erschwingliche Wohnung zu finden, steigt das Problembewusstsein f\u00fcr die kapitalistische Wohnungsspekulation in der Gesellschaft und folglich auch der Druck, Ver\u00e4nderungen herbeizuf\u00fchren. Erst im April diesen Jahres zeigte eine spontane Gro\u00dfdemonstration in Berlin anl\u00e4sslich des gekippten Mietendeckels mit zehntausenden Teilnehmer*innen die enorme Mobilisierungskraft, die die Problematik inzwischen hat.
Damit sind gro\u00dfe und breit aufgestellte Mietendemos und die vielen Mieter*inneninitiativen zwar noch nicht der Beginn einer Revolution, aber doch ein deutliches Zeichen f\u00fcr einen gesellschaftlichen Schulterschluss in der sozialen Frage, in deren Zentrum die Wohnungsfrage erneut ger\u00fcckt ist. Die politischen Folgen sind noch nicht ausgemacht. Denkbar ist zum einen die Anwendung einer sozialen Befriedungsstrategie durch die Herrschenden, bei der Konzessionen in beide Richtungen \u2013 der Mieter*innen und der Wohnungseigent\u00fcmer*innen \u2013 gemacht werden und bei der die unteren Klassen wiederum leer ausgehen, w\u00e4hrend das Kleinb\u00fcrgertum beruhigt ist. Ebenso k\u00f6nnen die seit Jahren laufenden Solidarisierungsprozesse in der Mieter*innenbewegung zusammen mit dem zunehmenden gesellschaftlichen Druck jedoch auch den Weg zu einer bedarfsgerechten, sozial vertr\u00e4glichen Wohnungspolitik von unten ebnen, die die \u00c4rmsten mit einschlie\u00dft.
Der Vorschlag, den individuellen Erwerb von Wohnungseigentum zu forcieren, anstatt sich der Mietenproblematik anzunehmen, ist jedenfalls \u00e4hnlich unsinnig wie zu Engels\u2018 Lebzeiten: nicht nur ist diese Forderung f\u00fcr die meisten Menschen, also die mit kleinen bis mittleren Einkommen, wegen der ebenfalls enormen Kaufpreise f\u00fcr Immobilien reiner Hohn, wobei die Preise bei gr\u00f6\u00dferer K\u00e4ufer*innennachfrage sogar in noch schwindelerregendere H\u00f6hen steigen d\u00fcrften. Auch wirkt diese Form der \u201eProbleml\u00f6sung\u201c anachronistisch angesichts sich flexibilisierender Lebensmodelle, innerhalb derer sich immer weniger Menschen dauerhaft an einen Ort binden (wollen).
Mietenproteste als Absage an die herrschenden Verh\u00e4ltnisse
Deutlich klar wird durch die historische Kontinuit\u00e4t und die \u00dcberschneidungen zwischen den Zust\u00e4nden in den fr\u00fchen 1870er Jahren und heute aber, dass eine sozial gerechte L\u00f6sung der Wohnungsfrage, bei der das Recht auf Wohnen nicht der Spekulation preisgegeben wird, innerhalb kapitalistischer Gesellschaften nicht zu erwarten ist. Sei es nun die gezielte Aufwertung von Vierteln durch Luxusbebauung, wie es der Friedrichshainer S\u00fcden gerade erlebt, oder die direktere Form der Verdr\u00e4ngung, n\u00e4mlich der Ankauf von Wohnimmobilien durch finanzstarke Investor*innen und die folgende Entmietung, (Luxus-)Sanierung und teure Neuvermietung \u2013 die Mechanismen, die zur Wohnungsnot f\u00fchren, vollziehen sich innerhalb dieses spezifischen Gesellschaftsverh\u00e4ltnisses stetig neu. Einhergehen kann das mit einer versch\u00e4rften \u00f6konomischen Ausbeutung von Lohnabh\u00e4ngigen in den betroffenen Gebieten, z.B. indem wegen steigender Ladenmieten die Arbeit intensiviert wird, um das Gesch\u00e4ft profitabel zu halten. Im Lasker-Kiez wurden mit Beginn der Luxus-Bauprojekte zwei Lebensmittell\u00e4den geschlossen und abgerissen. In der Folge muss ein kleiner Supermarkt tausende Haushalte versorgen, was zur v\u00f6lligen \u00dcberlastung der dort Besch\u00e4ftigten f\u00fchrt.
Die Proteste durch Mieter*innen-Inis wie der aus dem Lasker-Kiez sind daher letztlich immer auch eine Absage an die herrschenden Verh\u00e4ltnisse. Ihr Potenzial und ihre Relevanz f\u00fcr die Menschen unserer Gesellschaft treten durch die historische Einordnung deutlich hervor: Es geht um\u2019s Ganze.
Oder mit Engels\u2018 Worten: \u201eSolange die kapitalistische Produktionsweise besteht, solange ist es Torheit, die Wohnungsfrage oder irgendeine andre das Geschick der Arbeiter betreffende gesellschaftliche Frage einzeln l\u00f6sen zu wollen.\u201c Um schnelle Abhilfe zu schaffen und weil man irgendwo ja anfangen muss, liefert uns Engels auch einen Vorschlag f\u00fcr den ersten Schritt: Die Enteignung von Wohnraum und anschlie\u00dfende Nutzung entsprechend der Bed\u00fcrfnisse der Menschen, die ihn brauchen.
[1] Alle Zitate sind Engels\u2018 Text \u201eZur Wohnungsfrage\u201c von 1872/73 entnommen.
[2] Im Cottage-System mussten Arbeiter*innen in den daf\u00fcr bereitgestellten Wohnungen ihrer Fabrikherren wohnen. Dieses Vorgehen erzeugte Gehorsam: streikten die Arbeiter*innen mussten sie nicht nur um ihren Arbeitsplatz, sondern auch um ihr Dach \u00fcber dem Kopf f\u00fcrchten.