Balkanroute r\u00fcckw\u00e4rts - Flucht, Staatlichkeit und Repression (Teil I)
\nWer am\nBahnhof der verschlafenen Gemeinde Spielfeld (slowenisch: \u0160pilje)\nin der \u00f6sterreichischen\nSteiermark ankommt, ahnt nichts von der politischen Bedeutung des\nOrtes. Vom Bahnhof sind es 20 Minuten zu Fu\u00df bis zu der\nGrenzstation, die noch vor zwei Jahren sinnbildlich f\u00fcr die\nMigrationspolitik der EU stand. Bis zum Jahr 2015 war der Ort an der\n\u00f6sterreichisch-slowenischen Grenze eine zentrale Durchreisestation\nf\u00fcr fl\u00fcchtende Menschen auf der sogenannten \u201eBalkanroute\u201c.\nDamals wurden die Durchreisenden zuerst von der slowenischen Polizei\nzur \u201eRegistrierung\u201c in Zelte gef\u00fchrt. Anschlie\u00dfend \u00fcbernahmen\n\u00f6sterreichische Repressionsbeh\u00f6rden die weitere \u201eBegleitung\u201c \u2013\nh\u00e4ufig an die deutsche Grenze. Bis zu 7.000 Fl\u00fcchtende passierten\nauf diese Weise t\u00e4glich die Grenzstation. Im gesamten Jahr 2015\nsollen es rund 300.000 Personen gewesen sein.\n
Vor\ndiesem Hintergrund entwickelte sich Spielfeld f\u00fcr die\nparlamentarische und au\u00dferparlamentarische Rechte in \u00d6sterreich zu\neinem Kristallisationspunkt rassistischer Hetze. Das \u00d6rtchen wurde\nzum Symbol rechter (Wahn-)Vorstellungen von \u201eFl\u00fcchtlingswellen\u201c,\neiner vermeintlichen \u201e\u00dcberfremdung\u201c und dem drohenden \u201egro\u00dfen\nBev\u00f6lkerungsaustausch\u201c. Die gesellschaftliche Anschlussf\u00e4higkeit\nder entsprechenden Diskurse war leider enorm. Nicht zuf\u00e4llig wurde\n\u201eSpielfeld\u201c 2015 zum \u201eOrtsnamen des Jahres\u201c im Land gek\u00fcrt.\nAllerdings blies das politische B\u00fcndnis (u.a. aus der neurechten\n\u201eIdentit\u00e4ren Bewegung\u201c, der neofaschistischen \u201ePartei des\nVolkes\u201c und der faschistoiden FP\u00d6) nicht nur verbal zum Angriff. \n
\nWas sich\n2015 auf den Stra\u00dfen im Ort abspielte, erz\u00e4hlen zwei Wiener\nGenoss*innen, die unsere Reisegruppe am Bahnhof trifft. Sie sind\nMitorganisierende der antifaschistischen Aktionen unter dem Slogan\n\u201eKein Spielfeld f\u00fcr Nazis\u201c, die sich dem rassistischen Treiben\nentgegen stellten. Bis zum November 2015 fanden in Spielfeld mit\nseinen rund 900 Einwohnenden zwei \u00fcberregionale rechte\nGro\u00dfdemonstrationen mit \u00fcber 1000 Teilnehmenden statt. Neben\nNeurechten und Neonazis aus der Bundesrepublik reisten auch\nslowenische und ungarische \u201eBlood&Honour\u201c-Strukturen an. \n
\nW\u00e4hrend\nuns die Genoss*innen aus Wien durch den Ort f\u00fchren, berichten sie\nvon den Auswirkungen der rechten Proteste. Nachdem im Zuge der\nrassistischen Demos bereits eine \u201emenschliche Grenze\u201c errichtet\nwurde, k\u00fcndigte das \u00f6sterreichische Innenministerium im November\n2015 den Bau eines kilometerlangen Grenzzauns an. Reales Vorbild\nd\u00fcrfte nicht zuletzt die brutale Abschottungspolitik des ungarischen\nMinisterpr\u00e4sidenten Victor Orb\u00e1n gewesen sein. Die Errichtung des\nGrenzzauns \u00fcbernahm dabei das Bundesheer. So wurde eine sogenannte\n\u201eFl\u00fcchtlingskrise\u201c zum idealen Anlass einer fortschreitenden\nMilitarisierung nach innen (Militarisierung der polizeilichen\nAufgaben und Au\u00dfengrenzen) und au\u00dfen (Auslandsmissionen).
\nReaktion\u00e4re\nMigrationspolitik als Element umfassender Faschisierung...
\nAuch\nzwei Jahre sp\u00e4ter pr\u00e4gen die Auswirkungen einer sich verst\u00e4rkenden\nrassistischen Grundstimmung die (politische) Situation in \u00d6sterreich.\nIm Angesicht der anstehenden Nationalratswahl im Oktober 2017\nerkl\u00e4rten die Genoss*innen, wie aus der rassistischen\nInstrumentalisierung der Einreise von Fl\u00fcchtenden Wahlkapital\ngeschlagen wurde. Analog zur deutschen Debatte um \u201eObergrenzen\u201c\n\u00fcberbieten sich die \u00f6sterreichischen Parteien seit 2015 mit\npolitischen Abschottungsfantasien. Am st\u00e4rksten profitiert sich\ndabei die mindestens protofaschistische FP\u00d6. Auch die Forderungen\nnach einer \u201eNull-Obergrenze\u201c oder der \u201eMinuszuwanderung\u201c\nbescherten ihr am 15. Oktober 2017 gro\u00dfe Gewinne an den Wahlurnen.\nMit einem Zuwachs von \u00fcber f\u00fcnf Prozent holt die FP\u00d6 insgesamt\nfast 26 Prozent der g\u00fcltigen Stimmen. Als st\u00e4rkste Partei ging die\nkonservative \u00d6VP unter Sebastian Kurz mit einem Stimmanteil von 31\nProzent aus den Wahlen hervor. Ihr Erfolg ist jedoch ebenfalls dem\nunverhohlenen Bedienen der bestehenden rassistischen Ressentiments\ngeschuldet. Im M\u00e4rz 2017 bezeichnete der \u00d6VP-Spitzenkandidat die\nSeenot-Rettungsaktionen im Mittelmeer als \u201eNGO-Wahnsinn\u201c. Noch\nzwei Tage vor der Wahl, am\n13. Oktober,\nversprach der \u201eMacron des Ostens\u201c, den \u201eMissbrauch und die\nEinwanderung in unsere Sozialsysteme zu beenden\u201c. Au\u00dferdem werde\ner alles tun, um die \u201eillegale Migration\u201c zu stoppen, damit es\nwieder \u201emehr Ordnung und Sicherheit\u201c gebe. Gepaart mit einer\nerbarmungslosen neoliberalen Agenda ist der \u00d6VP-Sieg eine klare\nKlassenkampfansage von oben mit ordentlich rassistischer Note. Doch\nwelche Rolle wird die FP\u00d6 dabei spielen?
\nW\u00e4hrend\nim Jahr 2000 noch EU-Sanktionen im Falle einer Regierungsbeteiligung\nder FP\u00d6 unter J\u00f6rg Haider angedroht wurden, ist heute an solche\nMa\u00dfnahmen nicht mehr zu denken. Vor dem Hintergrund erstarkender\nreaktion\u00e4rer Staatsregierungen in ganz Europa und weltweit wird\nselbst ein Heinz-Christian Strache zum m\u00f6glichen Regierungspartner.\nDabei ist der aktuelle Bundesparteiobmann der FP\u00d6 politisch deutlich\nweiter rechts anzusiedeln als J\u00f6rg Haider. Doch weder die\nMitgliedschaft in der faschistischen \u201eFreiheitlichen Arbeiter\nPartei\u201c (FAP), noch Wehrsport\u00fcbungen oder Kontakte zu bekannten\nFaschisten haben Strache Stimmen gekostet. Die jahrzehntelange\nTradition der Normalisierung faschistischer Ph\u00e4nomene setzt sich auf\ndiese Weise fort. Hartn\u00e4ckig h\u00e4lt sich beispielsweise der\nrevisionistische Mythos, dass \u00d6sterreich durch den Anschluss an das\nfaschistische Deutschland \u201edas erste Opfer der Nazis\u201c sei. Im\nZusammenspiel mit der Verkl\u00e4rung des zeitlich vorgelagerten\nAustrofaschismus (von 1933 bis 1938) ergibt sich eine umfassende\nideologische Entsorgung der faschistischen Vergangenheit.
\nBefeuert\nvon der Beschw\u00f6rung einer vermeintlichen kulturellen und sozialen\nDeklassierung durch fl\u00fcchtende Menschen war die Schlie\u00dfung der\nGrenzen Teil einer umfassenden Faschisierung. Trotz oder gerade wegen\ndes gewaltsamen Stopps der Fluchtbewegungen \u00fcber den Balkan befindet\nsich \u00d6sterreich in einem \u201eOrb\u00e1nisierungs-Prozess\u201c. Dabei stellt\ndie wahrscheinliche \u00d6VP-FP\u00d6-Regierung eine politisch\nhochgef\u00e4hrliche Mischung dar: ein neoliberaler Konservatismus (\u00d6VP),\nder Anschluss an einen v\u00f6lkischen Neoliberalismus (FP\u00d6) sucht.\nNicht nur f\u00fcr die Genoss*innen aus \u00d6sterreich fragen sich, wer\ninhaltlich vor wem hergetrieben wird. Vor dem Hintergrund\nantimuslimischer Propaganda, rassistischer Gesetzesversch\u00e4rfungen\nund der vermutlich zunehmenden Repression gegen\u00fcber progressiven\nLinken stellt ein weiterer Machtzuwachs der \u201eBlauen\u201c eine reale\nGefahr f\u00fcr zahlreiche gesellschaftliche Gruppen dar. Gleichzeitig\nf\u00e4llt mit der wahrscheinlichen Regierungsbeteiligung v\u00f6lkischer\nKr\u00e4fte ein letztes Tabu postfaschistischer Gesellschaften. Im\nHinblick auf die gegenw\u00e4rtigen Wahlerfolge der AfD erscheint ein\nsolches Szenario auch in der BRD nicht mehr nur als rein dystopische\nZukunftsvision.
\n\u2026 und\nals Teil gesamteurop\u00e4ischer Abschottung
\nGerade\nin Bezug auf die au\u00dfenpolitische Ausrichtung haben die Debatten um\nSpielberg das destruktive Potential einer konservativ-v\u00f6lkischen\nAllianz deutlich gemacht. Allerdings ist die nationalstaatliche\nAbschottungspolitik nur ein Grund, warum heutzutage in Spielberg und\nanderen fr\u00fcheren Grenzorten de facto keine Menschen mehr ankommen\nk\u00f6nnen. Sie geht Hand in Hand mit einer umfassenden Versch\u00e4rfung\nder gesamteurop\u00e4ische Grenzpolitik einher. Direkte Folgen sind die\nVorverlagerungen der EU-Au\u00dfengrenzen (bspw. T\u00fcrkei, Libyen,\n\u00c4gypten) sowie der Aufbau von immer repressiveren Grenzregime in\n\u201eneuen\u201c oder potentiellen EU-Mitgliedsstaaten.
\nDie\nSpielberger Grenzstation ist im Jahr 2017 weitgehend verwaist. Nur\ndie gro\u00dfen Zelte und Bauz\u00e4une sind noch Zeugnisse aus dem Sommer\n2015. Wer nicht auf lebensgef\u00e4hrlichen Wegen \u00fcber das Mittelmeer\noder das Schwarze Meer angewiesen ist, steckt heutzutage fast\nhoffnungslos in Serbien oder Mazedonien fest. Dort m\u00fcssen\nFl\u00fcchtende, ausgeschlossen von der Gesellschaft, um ihr \u00dcberleben\nk\u00e4mpfen.
\nDoch die\nAbschottung ist nur einseitig, denn Fluchtursachen werden weiterhin\n\u00fcber neue und alte Grenzen hinweg \u201eexportiert\u201c. Die\nUnterst\u00fctzung autorit\u00e4r-repressiver Regime, die Ausbeutung von\nRohstoffen, milit\u00e4rische Interventionen oder der Unterhalt von\nProduktionsketten zugunsten menschenunw\u00fcrdiger Arbeitsverh\u00e4ltnisse\nsind nur einige Beispiele neo-imperialistischer\n(Wirtschafts-)Politik. Fluchtbewegungen, wie wir sie derzeit in\nEuropa erleben, sind ein direktes Produkt kapitalistischer\nVerh\u00e4ltnisse. Den Preis zahlen die Betroffenen und das auf doppelte\nWeise. Diese Prozesse aufzuzeigen und die dahinterliegenden Klassen-\nund Herrschaftsverh\u00e4ltnisse sowie deren Widerspr\u00fcche zu\nthematisieren, bleibt Aufgabe der antikapitalistischen Linken.
\nAufgrund\nder uns zur Verf\u00fcgung stehenden Privilegien setzen wir die Reise\n\u201e\u00fcber die Grenze hinweg\u201c im zweiten Teil der Reihe fort, hin zu\nder europ\u00e4ischen Au\u00dfengrenze zwischen Kroatien und Serbien. \n
\nWeiterf\u00fchrende\nLinks:\n
Weitere\nInformationen zur antifaschistischen Kampagne \"Kein\nSpielfeld f\u00fcr Nazis\":
\nMobilisierung\ngegen die FP\u00d6-Regierungsangelobung: Tag\nX .
\u201eBalkanroute\nr\u00fcckw\u00e4rts - Flucht, Staatlichkeit und Repression\u201c\n
Im\nOktober 2017 nahm re:volt - Autor Felix Broz an einer Bildungsreise des\nVereins \u201eHelle Panke e.V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin\u201c\ndurch S\u00fcdosteuropa teil. Im Vordergrund stand die aktuelle Situation\nauf der sogenannten \u201eBalkanroute\u201c. Nachdem Ende 2015 ein Gro\u00dfteil\nder regionalen Staatsgrenzen weitestgehend geschlossen wurden,\nstecken tausende Menschen auf der Flucht in verschiedenen Staaten\nEx-Jugoslawiens sprichw\u00f6rtlich fest. Das repressive europ\u00e4ische\nGrenzregime mit seiner umfassenden Sicherheitsarchitektur unterbricht\nihre Flucht an den unmittelbaren EU-Au\u00dfengrenzen sowie den\nnationalen Grenzen m\u00f6glicher Beitrittskandidaten (Serbien,\nMazedonien). Was sie dann erleben m\u00fcssen, ist Stigmatisierung,\nIllegalisierung und eine umfassende gesellschaftliche Ausgrenzung. In\nder dreiteiligen Artikelserie f\u00fcr das re:volt magazine zeichnet Felix\nBroz die aktuelle Situation um Flucht, Staatlichkeit und Repression\nauf der Route \u00d6sterreich / Slowenien, Kroatien / Serbien und\nMazedonien nach.