Eine feministische Delegation von mehreren Frauen* aus verschiedenen Orten Deutschlands reist drei Monate lang durch Rojava \u2013 mit dem Ziel, die Frauenrevolution in Nord-Ostsyrien sichtbarer zu machen. Wir haben uns \u00fcber einen l\u00e4ngeren Zeitraum mit der Kampagne \u00fcber Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven ausgetauscht, Fragen und \u00dcberlegungen zwischen Europa und Rojava hin- und hergeschickt. Entstanden ist eine sehr umfangreiche Diskussion mit den beteiligten Frauen*, die wir hiermit dokumentieren. Die Reise ist ein Teil der feministischen Kampagne "Gemeinsam K\u00e4mpfen".
Als Delegation trefft ihr euch immer wieder mit unterschiedlichen Teilen der Frauenbewegung in Rojava. Welche Strukturen k\u00f6nnen wir uns darunter vorstellen und wie sind sie organisiert?
Charlotte: Wir konnten auf unserer Delegationsreise unheimlich viel sehen und erfahren. Wir waren neben den Kantonen Heseke, Koban\u00ee und Qamishlo auch in den neu befreiten Gebieten, also Tabqa, Raqqa und Minbic. Dort ist der Aufbauprozess noch ganz frisch und man merkt, mit welcher Begeisterung sich die Frauen dort organisieren. An jedem Ort, an dem wir waren, konnten wir mit Vertreterinnen aus Bildung, Verteidigung, Wirtschaft, Kunst und Kultur und vielem mehr reden. Das hatte eine unglaubliche thematische Vielfalt.
Jana: Man kann sich das so vorstellen, dass das komplette Gesellschaftssystem konf\u00f6deral organisiert ist. Es gibt die Kommunen als kleinste Basis. Eine Kommune umfasst in einer Stadt wie Derik etwa 40 \u2013 60 Haushalte. Danach folgen die R\u00e4te, dann die Stadtverwaltungen und die Landkreisebene. In dieser Struktur, sowie in allen gesellschaftlichen Bereichen, gibt es immer eine autonome Frauenorganisierung. Der Dachverband der Frauenorganisierung f\u00fcr Rojava hei\u00dft Kongreya Star. Darunter sind alle Frauen der Region organisiert, aber oft zus\u00e4tzlich in verschiedenen Komitees der gesellschaftlichen Bereiche. Auch wenn eine Frau in gemischten Strukturen arbeitet, ist sie automatisch Teil von Kongreya Star und hat somit immer die Frauenorganisierung im R\u00fccken. In allen Institutionen, Organisationen, R\u00e4ten und Kommunen aber auch gesellschaftlichen Bereichen gibt es immer einen Co-Vorsitz, also jeweils eine Frau und einen Mann.
Anna: Es wird versucht, alle Angelegenheiten erstmal in der Kommune zu regeln und da wird ganz viel gesprochen und diskutiert. Als Verantwortliche der Kommune geht man in regelm\u00e4\u00dfigen Abst\u00e4nden in alle Familien und fragt nach was gerade ansteht, ob es Probleme gibt, was ben\u00f6tigt wird.
Isa: Die ganze Art der Politik, die angestrebt wird ist eine andere, als wir sie kennen. Ziel ist immer eine gemeinschaftliche L\u00f6sung zu finden. Werte aus matriarchalen Gesellschaften spielen dabei auch immer eine zentrale Rolle: Also der Ansatz, gemeinschaftliche Werte zu schaffen wie Kommunalit\u00e4t, Diskussion im Konsens, ein f\u00fcrsorgliches und verantwortungsvolles Miteinander und so weiter. Das l\u00e4sst sich dann auch nicht nur durch Personen und Strukturen darstellen. Oft f\u00e4llt es hier auch schwer, durch die unterschiedlichen Strukturen zu blicken. Ich habe hier gemerkt, dass mein Blick da oft auch sehr begrenzt ist. Der Kommunalismus, wie er hier aufgebaut wird, ist auch deswegen ein Gegenpol zu sonstigen Gesellschaftsstrukturen, weil er den Blick mehr in die Zwischenr\u00e4ume der Politik lenkt. Damit meine ich, dass darauf geschaut wird, wie sich soziale Beziehungen ver\u00e4ndern, auf Entscheidungsprozesse und auf das Miteinander. Den Grad der Emanzipation kann man eben gerade nicht immer nur daran festmachen, in wie vielen Positionen Frauen jetzt die Rolle der M\u00e4nner einnehmen, sondern vielmehr daran, in welcher Art und Weise Politik gemacht wird und worin Probleme wahrgenommen werden.
Man h\u00f6rt in diesem Kontext auch \u00f6fter den Begriff \u201eJineoloji\u201c. K\u00f6nnt ihr ihn kurz erkl\u00e4ren?
Jana: Grob aus dem Kurdischen \u00fcbersetzt meint der Begriff \u201eWissenschaft der Frau\u201c. Sie versucht, aus der Geschichte \u2013 etwa aus der Geschichte der Frauen \u2013 heraus Antworten zu entwickeln, wie eine geschlechterbefreite Gesellschaft aussehen kann. Insgesamt verfolgt die Jineoloji einen ganzheitlichen und gesellschaftlichen Ansatz.
Charlotte: Ich w\u00fcrde gerne nochmal auf den Begriff der Wissenschaft eingehen. Das klingt erstmal so statisch. Aber es ist wichtig zu begreifen, dass es nicht nur Wissenschaft im westlichen Sinne ist, sondern die Wissenschaft des Lebens. Es geht darum, wieder ein Leben aufzubauen das nicht entfremdet ist. Deshalb schauen wir auch in die Geschichte, um zu sehen, dass der Kampf der Frauen immer ein Kampf f\u00fcr ein herrschaftsfreies Leben war. Die Jineoloji bezieht sich dazu viel auf matriarchale Forschung und die zentrale Rolle der Frau. Man kann sagen, dass die Frauenrevolution in Rojava und alles was hier aufgebaut wird, also die Werte und die Form, aus der Jineoloji kommen. Das alles geht Jahrtausende zur\u00fcck. Das Prinzip der Kovorsitzenden zum Beispiel oder auch die Kommunenorganisierung, dazu gab es schon Funde in arch\u00e4ologischen St\u00e4tten. Allgemein geht es nie nur um Wissensansammlung, sondern um die Frage: Was bedeutet das Wissen f\u00fcr unser Leben.
Welche konkreten politischen Forderungen oder auch Entwicklungen seht ihr denn vor Ort, von denen ihr sagen w\u00fcrdet: Hier wird das praktisch umgesetzt?
Isa: Da gibt es viel. Es finden zum Beispiel Oral History-Forschungen statt: Ganz unterschiedliche Frauen der Gesellschaft hier werden zu ihrem Leben befragt, aber auch dazu, was sie sich f\u00fcr die Zukunft w\u00fcnschen, welche Ver\u00e4nderungen passieren sollen und so weiter. Die Jineoloji Zentren sind sowohl ein Ort der Forschung, aber auch ein Anlaufpunkt. So findet beispielsweise in Derik w\u00f6chentlich eine Veranstaltung f\u00fcr Kinder statt, in der Filme oder M\u00e4rchen geguckt werden und im Nachhinein dar\u00fcber diskutiert und ein kritische Perspektive ge\u00fcbt wird. Jineoloji ist mittlerweile auch ein Unterrichtsfach in den Schulen geworden und an der Universit\u00e4t in Qamishlo gibt es eine Jineolojifakult\u00e4t. Das ist schon unglaublich. Frauen k\u00f6nnen dort studieren und \u00fcber die Widerstandsgeschichte der Frauen lernen.
Charlotte: Jinwar, das Frauendorf, d\u00fcrfen wir auch nicht vergessen. Das ist letzlich auch ein Forschungsprojekt der Jineoloji. Es zeigt sehr gut den Punkt, den ich stark machen wollte: das Wissenschaft auch immer mit dem Leben in Verbindung steht und nicht ohne gedacht werden darf. Die Frage, die dabei immer mitschwingt, ist ja: Was macht ein freies Leben aus? Und was zeigt sich in diesem Mikrokosmos in der Gesellschaft, der von Frauen aufgebaut wird? Was kann daraus f\u00fcr die Gesellschaft in ganz Nord- und Ostsyrien gezogen werden?
Wo seht ihr denn Schwierigkeiten und Herausforderungen, die es ja auch in emanzipatorischen Projekten wie Rojava gibt?
Charlotte: Eine zentrale Herausforderung ist die Kriegssituation. Da geht einfach unheimlich viel an Kraft, materiellen und auch personellen Ressourcen, hinein. Und nat\u00fcrlich ist auch der Aufbauprozess in der Gesellschaft davon gepr\u00e4gt. Eine Frage, die beantwortet werden muss, ist ja, wie man eine langfristige Perspektive bietet. Durch die konstante Bedrohung des Projekts haben die Menschen Angst, dass all die M\u00fchen des Aufbaus umsonst sind oder f\u00fcrchten zum Beispiel, dass die Schulabschl\u00fcsse ihrer Kinder irgendwann nichts wert sind. Manche schicken ihre Kinder deshalb auf Schulen des syrischen Regimes. Die andauernde Bedrohungssituation f\u00fchrt auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft insgesamt. Viele Jugendliche tragen Milit\u00e4rkleidung, die Tradition von Milit\u00e4rparaden wird fortgesetzt und so weiter. Das sehe ich kritisch.
Isa: Die Frage, wie eine Revolution den Menschen eine langfristige Perspektive bieten kann, die eine Sicherheit gibt, kommt immer wieder auf. Es ist schwer, eine bed\u00fcrfnisbefriedigende Infrastruktur zu gew\u00e4hrleisten trotz Kriegsdrohungen, Wirtschaftsembargo, Nicht-Anerkennung durch verschiedene Staaten und ganz konkret auch Fachkr\u00e4ftemangel. Wir haben einige Menschen mit gesundheitlichen Probleme getroffen, die durch das Embargo hier nicht die ad\u00e4quate Gesundheitsversorgung erhalten k\u00f6nnen, die sie brauchen. Wenn sie es sich leisten k\u00f6nnen, m\u00fcssen sie dann lange Wege nach Damaskus oder in den Irak in Kauf nehmen, um diese zu behandeln.
Sarah: Eine gro\u00dfe Herausforderung ist das Thema \u00d6kologie. Im demokratischen Konf\u00f6deralismus ist \u00d6kologie eine der zentralen S\u00e4ulen und ich habe erst hier den ganz praktischen Aspekt davon verstanden. Wenn man in die Geschichte der Region schaut, ist hier durch die Kolonisierung die nat\u00fcrliche Vegetation v\u00f6llig verschwunden. Unter dem Assad-Regime wurde der Monokulturanbau vorangetrieben \u2013 und nun steht man vor einem Brachfl\u00e4che. In der Umgebung der Stadt Rim\u00ealan zum Beispiel gibt es ein riesiges Erd\u00f6lf\u00f6rderungsgebiet, dass damals vom Regime ausgebaut wurde. Nat\u00fcrlich ist \u00d6l keine \u00f6kologische Ressource, aber man kann auch nicht auf die Einnahmen durch den Verkauf des \u00d6ls verzichten. Es gibt auch Pl\u00e4ne f\u00fcr alternative Energieversorgung, aber momentan kaum Kapazit\u00e4ten daf\u00fcr, sie umzusetzen. Da werden dann die Herausforderungen sichtbar. Zudem braucht es viel Bildung, um ein \u00f6kologisches Bewusstsein unter den Menschen zu schaffen. Zum Beispiel auch bei der M\u00fcllentsorgung. Die ist aber gleichzeitig auch ein Beispiel daf\u00fcr, wie sich die Bev\u00f6lkerung aktiv der Herausforderung stellt: Es gibt in manchen St\u00e4dten einmal im Monat eine gemeinsame M\u00fcllsammelaktion, an der bestenfalls die ganze Bev\u00f6lkerung teil nimmt.
Charlotte: Um einen weiteren Punkt aufzumachen: Ich sehe auch immer die Gefahr einer Verstaatlichung, obgleich es ja eigentlich eine Gegenbewegung dazu sein sollte. In Amude allein, einer Kleinstadt hier, gibt es beispielsweise 35 Institutionen. Um Gas zu bekommen, muss man sich erstmal an vier verschiedene Institutionen wenden. Die Vorsitzende der Stadtverwaltung in Derik erz\u00e4hlt uns, dass die Menschen bei Problemen oft erstmal in die Stadtverwaltung kommen \u2013 und nicht versuchen, es in ihrer Kommune zu l\u00f6sen. Das liegt nat\u00fcrlich auch daran, dass die Menschen Strukturen machen, die sie kennen. Es geht hier auch nicht darum, den Staat von null auf hundert abzuschaffen, aber gleichzeitig auch nicht darum, alles wieder zu b\u00fcrokratisieren.
Sarah: Und nat\u00fcrlich ist es ein Problem auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft, wenn Eigentumsverh\u00e4ltnisse fortbestehen. Der Ansatz hier ist aber eben erstmal Bildungen zu machen und Werte zu vermitteln. Das irgendwann die Einsicht auch da heraus kommt, dass es nicht wichtig ist, dass das Feld oder das Gesch\u00e4ft mir geh\u00f6rt.
Jana: Mir ist hier auch bewusstgeworden, wie zentral Bildung ist. Sie ist der Grundstein f\u00fcr eine Ver\u00e4nderung, die eben nicht durch Zwang passieren kann. Durch Bildungen werden Frauen erm\u00e4chtigt, \u00fcber die eigene Rolle zu reflektieren, in ihnen wird der Bev\u00f6lkerung vermittelt, wie ich mich zu meiner Umwelt in Bezug setze, wie ich mit M\u00fcll umgehe und vieles mehr. Es wird auch viel Wert auf Bildungen f\u00fcr M\u00e4nner gelegt, ihre Position in der Gesellschaft zu hinterfragen.
Was seht ihr mit einem feministischen Fokus auf die Anforderungen, die es in Rojava zu stemmen gibt?
Jana: Ich sehe auf jeden Fall eine Schwierigkeit in der Doppelbelastung der Frauen, die durch die politische Organisierung entsteht. Das ist auf Dauer eine Herausforderung, neben den vielen Treffen noch Haushalt und die Kinder zu managen. Denn das ist leider auch Realit\u00e4t: Rojava ist noch ein junges Projekt und man merkt, wie lange es dauert, bis sich gerade diese Rollenverteilung aufl\u00f6st. Durch die Bildungen wird den Frauen dann erz\u00e4hlt, was f\u00fcr eine zentrale Rolle die Mutter hat und ich sehe die Gefahr, dass das dann falsch gedeutet wird \u2013 also, dass die Mutterschaft verherrlicht und dadurch auf die einzelne Frau abgelegt wird.
Anna: Ich verstehe deinen Punkt. Aber das mit der Verherrlichung der Mutter ist zu einfach gesagt. Bei dieser Analyse geht es ja um die Werte, die mit dem Begriff Mutterschaft verbunden sind, und nicht um die Person an sich. Es geht nicht darum, die Super-Mama zu sein oder neben deinem Job noch das Yoga mit Kind zu wuppen. Es geht darum, dass alle in der Gesellschaft die Werte der Mutter annehmen. Also Selbstlosigkeit, Achtsamkeit, Gemeinschaftlichkeit. Eine Mutter liebt alle ihre Kinder gleich und an diesen Werten m\u00fcssen wir uns alle orientieren. Das ist doch die Aussage dahinter.
Sarah: Das Problem h\u00e4ngt mit den bestehenden patriarchalen Strukturen zusammen. Es h\u00e4ngt nicht an der Frau, die zu den Treffen muss, sondern an dem Mann, der nicht die gleiche Rolle \u00fcbernimmt. In jeder Familie muss eben eine Revolution passieren und das sind 1000 kleine Revolutionen jeden Tag. Das ist ja auch ein Prozess dahin, die Rolle der Mutter nicht in einem biologischen Sinn zu begreifen.
Charlotte: Das ist ein anderer Ansatz. Er weicht von einem eurozentrischen Blick auf Frauenbefreiung ab. Besonders in der b\u00fcrgerlichen wei\u00dfen Frauenbewegung wollte man ausbrechen aus dem Haus und die Rolle der Mutter ablehnen. Wie Nina Hagen gesagt hat: \u201eIch bin nicht deine Fickmaschine\u201c. Da hat man zum Beispiel auch Teile der schwarzen Frauenbewegung ignoriert, wenn man f\u00fcr \u201ealle Frauen\u201c gesprochen hat. F\u00fcr sie konnte das Haus auch R\u00fcckzug vor der wei\u00dfen Unterdr\u00fcckung bedeuten. In Rojava wird der Ansatz versucht, alle die Werte \u201eder Mutter\u201c in der Gesellschaft wieder auf unser gesamtes Zusammenleben \u00fcbertragen.
Anna: All diese Herausforderungen zeigen, dass Revolution ein Prozess ist und Widerspr\u00fcche dazugeh\u00f6ren. Sie sind ja gerade der Ausdruck von Wandel. Wir m\u00fcssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass eine Revolution kommt und dann ist alles super.
Sarah: Generell ist die Situation der Frau ein gro\u00dfes Thema in der Gesellschaft. Viele berichten von einer Verbesserung im Vergleich zu Regimezeiten oder nat\u00fcrlich zum Leben unter Daesh. Frauen k\u00f6nnen ohne Probleme das Haus verlassen, sich bilden und in die Schule gehen, sie k\u00f6nnen zentrale Positionen einnehmen und so weiter. Die Fortschritte wurden von den Frauen mit der gr\u00f6\u00dften Anstrengung erk\u00e4mpft, das haben wir immer wieder an ganz unterschiedlichen Orten geh\u00f6rt und miterlebt. Ihre Errungenschaften sind aber in Gefahr, durch die Kriegsdrohungen wieder platt gemacht zu werden. Man merkt das bei den Demonstrationen gegen die Angriffe. Es gibt eine riesige Beteiligung von Frauen, die Stimmung ist zum Teil sehr k\u00e4mpferisch.
Welche Auswirkungen die Angriffsdrohungen der T\u00fcrkei auf Rojava bekommt ihr mit?
Charlotte: Mit den Angriffen auf Afr\u00een gab es einen gro\u00dfen Zusammenhalt der Bev\u00f6lkerung. In ganz Rojava gibt es Kundgebungen, Demonstrationen und Aktionen. Wir haben uns an vielen beteiligt. Es wird derzeit auch versucht, eine fl\u00e4chendeckende Selbstverteidigung der Zivilgesellschaft aufzubauen. Von der Gro\u00dfmutter auf dem Dorf bis zu den Jugendzentren, alle erhalten Trainings in Erste-Hilfe-Ma\u00dfnahmen, Verhalten bei Luftangriffen sowie Ausbildungen an der Waffe, um sich selbst verteidigen zu k\u00f6nnen.
Anna: Krieg, Flucht und Tod sind Themen, die wir bei allen Menschen hier immer wieder h\u00f6ren. Viele haben Angeh\u00f6rige, die im Kampf gegen Daesh oder die T\u00fcrkei gefallen sind. In jeder Stadt gibt es einen Friedhof f\u00fcr die Gefallenen. F\u00fcr viele ist das auch der Grund und die Motivation, warum sie sich organisieren.
Welche Aufgaben k\u00f6nnen internationalistische Frauendelegationen in Rojava \u00fcbernehmen, wie kann man sich denn einen Alltag von euch dort vorstellen?
Charlotte: Unser Alltag ist schon ein ganz anderer als in Deutschland. Hier machen wir alles zusammen. Wir stehen auf, machen gemeinsam Sport, Essen gemeinsam, verteilen unsere Arbeiten zusammen und schlafen in einem Raum. Damit in diesem engen Zusammenleben keine Konflikte entstehen, setzen wir uns regelm\u00e4\u00dfig zusammen, kritisieren uns selbst und die anderen. Das ist auch eine Methode der kurdischen Bewegung.
Jana: Ich war noch nie so lange nur mit Frauen unterwegs. Besonders in einem politischen Kontext. Und bei mir hat das nochmal ein ganz tiefes Vertrauen in meine Genossinnen erwachsen lassen. In unserer Sozialisation lernen wir, nicht die F\u00e4higkeiten und das K\u00f6nnen anderer Frauen zu sehen. Wie sehr dieses Denken trotz jahrelanger feministischer Arbeit in mir drin ist, habe ich erst hier gemerkt. Umso sch\u00f6ner finde ich unser gemeinsames Leben hier. Diese Liebe zu meinen Freundinnen zu entwickeln und zu sehen, wieviel wir voneinander lernen k\u00f6nnen.
Sarah: Abseits von Interviews konnten wir uns auch ganz praktisch die Gesellschaftsarbeit angucken. Wir konnten zum Beispiel an den Familienbesuchen von Kongreya Star teilnehmen oder die Arbeit der Mala Jin mitbekommen, die sich um Probleme der Frauen k\u00fcmmern. Unsere Delegation war nat\u00fcrlich auch von der aktuellen Lage gepr\u00e4gt. Wir nahmen an den Hungerstreiks teil, bei Demos, Konferenzen oder den Aktionen der lebenden Schutzschilder in Serekaniye. Wir haben oft bei Familien geschlafen und haben das Leben dort mitbekommen. Je nachdem, in welcher Stadt und wie die dortige Sicherheitslage war, konnten wir uns auch auf uns selbst gestellt bewegen.
Anna: Wir haben gemerkt, dass es ist wichtig ist, dass Frauen hierherkommen. Denn wir kommen hier alle nicht nur als Einzelpersonen hin, wir kommen hierher, um zu lernen und unser Wissen, Informationen und Werte nach Hause zu tragen und sie unseren Freund*innen, Genoss*innen und Familien und generell der \u00d6ffentlichkeit zu erz\u00e4hlen. Unsere Erfahrung war, dass prozentual sehr viel mehr M\u00e4nner herkommen und besonders internationalistische R\u00e4ume dadurch sehr m\u00e4nnerdominiert sind. Allerdings gibt es auch andere R\u00e4ume, wie YPJ International, und dort passiert neben der milit\u00e4rischen Ausbildung sehr viel Pers\u00f6nlichkeitsarbeit. Wichtig sind auch Frauen dort, die in ganz praktischen Dingen ausgebildet sind \u2013 das geht von Ingenieurinnen zu Krankenpflegerinnen zu Elektrikerinnen.
Ihr sprecht \u00d6ffentlichkeitsarbeit an. Wie werden eurer Ansicht nach denn die Entwicklungen in Rojava in der \u201ewestlichen\u201c \u00d6ffentlichkeit wahrgenommen?
Isa: Das unterscheidet sich zwischen linker bis linksradikaler \u00d6ffentlichkeit und Mainstreammedien. In letzteren kommt das Thema abseits von YPG und neuen Entwicklungen im Kampf gegen Daesh quasi nicht vor. Es gibt kaum eine Berichterstattung dar\u00fcber, dass hier eine Alternative aufgebaut wird und welche Rolle Frauen darin einnehmen. In einer linken \u00d6ffentlichkeit bewegt man sich h\u00e4ufig zwischen Idealisierung und Fetisch \u2013 Paradebeispiel die schwarzhaarige junge Frau mit Kalasch \u2013 oder Abgrenzung. Im Fokus ist auch dort oft nur der milit\u00e4rische Widerstand. In Gespr\u00e4chen oder Anfragen von Journalist*innen haben wir gemerkt, dass gerade im milit\u00e4rischen Bereich das Interesse gro\u00df ist, aber nicht an dem Projekt selbst.
Sarah: Ich finde das auch absurd. In linken Medien wird zwar immer wieder \u00fcber die Selbstverwaltung oder das Konzept des demokratischen Konf\u00f6deralismus geredet. Aber das Frauenbefreiung ein zentraler Pfeiler ist, findet wenig Erw\u00e4hnung. Frauen \u00fcbernehmen hier eine Vorreiterinnenschaft, das l\u00e4sst sich nicht anders sagen. Und das sind nat\u00fcrlich die Frauen der YPJ, aber auch die M\u00fctter bei den menschlichen Schutzschildern oder die Frauen bei HPC Jin, den Verteidigungsstrukturen der Kommunen.
An welchen Bildern wollt ihr noch etwas ver\u00e4ndern?
Anna: Das Bild der vermeintlich rein kurdischen Revolution. Die Strukturen hier setzen sich aus allen zusammen, die hier wohnen \u2013 und das sind nicht nur die Kurd*innen. Gerade kursiert in den sozialen Medien etwa das Bild einer kurdischen Frau mit Kalaschnikow und darunter steht \u201esupport the kurds and their allies\u201c. Besonders seit der Befreiung der haupts\u00e4chlich arabisch bewohnten Gebiete sind solche Bilder schlichtweg falsch. Das haben wir auch in unseren Besuchen in Tabqa und Rakka gemerkt. Diese Vorstellung, der Demokratische Konf\u00f6deralismus sei einzig ein \u201eKurdenprojekt\u201c, die stimmt einfach nicht.
Jana: Ich m\u00f6chte auch dieser Revolutionsromantik gerne etwas entgegensetzen. Es ist hier nicht perfekt. Aber gleichzeitig w\u00e4re es auch komisch, wenn dem so w\u00e4re. Hier wird mit einer unheimlichen Anstrengung an allen Ecken und Enden etwas aufgebaut. Das hat nat\u00fcrlich Fehler und die geh\u00f6ren dazu.
Isa: Da haben wir ja mit Antipropaganda noch gar nicht angefangen. Ich habe schon mehrfach in Artikeln gelesen, dass die Bewegung hier eigentlich total autorit\u00e4r und menschenverachtend sei und die Befreiung der Frau nur als Vorwand n\u00e4hme, um dies zu verschleiern. Das ist wirklich vollkommen haneb\u00fcchen und sexistisch. Es zeichnet wieder ein Bild der Frau, die nicht f\u00fcr sich selbst entscheiden kann.
Sarah: Auch die Linke muss auch ihren Blick auf Revolution \u00e4ndern. Viele sagen, das Projekt in Rojava sei keine Revolution, da der erste Schritt hier die Frauenbefreiung und nicht die \u00f6konomische Umverteilung ist. Bei dem Blick auf die Bewertung von Rojava scheint die Unterscheidung in Haupt- und Nebenwiderspruch noch sehr in den Menschen drin zu sein.
Was nehmt ihr pers\u00f6nlich aus dem Austausch f\u00fcr eure K\u00e4mpfe in Europa mit?
Jana: Mir ist die Relevanz einer autonomen Frauenorganisierung nochmal deutlicher geworden. Vor allem, wie das auch im Gro\u00dfen aussehen kann. Im gleichen Zuge merke ich, dass es nicht dabei stehen bleiben kann. Eine feministische Analyse und Erkenntnisse muss sich in einem zweiten Schritt auch auf die Arbeit mit unseren m\u00e4nnlichen Genossen ausweiten. Die Frauen hier behalten immer die gesamtgesellschaftliche Perspektive im Auge. In den Gespr\u00e4chen hier habe ich schon oft die Frage gestellt: \u201eWie schafft ihr das? Ihr musstet so viele K\u00e4mpfe mit euren V\u00e4tern, Br\u00fcdern und Genossen f\u00fchren, wie habt ihr es geschafft, die gemeinsame Perspektive zu behalten und ihnen zu verzeihen?\u201c Und die Antwort war wirklich immer: \u201eEs geht nicht anders. Es w\u00fcrde uns nichts bringen, wenn wir sie einfach zur\u00fccklassen\u201c. Das war in meinen feministischen Zusammenh\u00e4ngen nicht so. Dort war die Antwort oftmals eher: \u201eIch habe schlechte Dinge mit M\u00e4nnern erlebt und jetzt arbeite ich nicht mehr mit ihnen\u201c. Aber was ist dann unsere Perspektive?
Anna: Wir waren hier, als der Krieg angek\u00fcndigt wurde und alle dachten, das wird in den n\u00e4chsten Tagen passieren. Was ich da mitnehme ist, dass trotz dessen die Arbeiten weitergehen. Hier war keine Paralyse zu merken. Man hat weitergemacht und sich nicht davon bestimmen lassen. Da kann man auch viel f\u00fcr zuhause lernen. Es kann Kraft geben. Wenn man sich zum Beispiel monatelang in irgendeinem Kaff in Sachsen mit Feuerwehr-Politik gegen Rechts abarbeitet \u2013 und das ist nat\u00fcrlich wichtig und gar nicht anders m\u00f6glich \u2013 w\u00e4hrenddessen nicht Aufbauarbeiten und Perspektiven zu vergessen.
Isa: Das hat auch viel mit Hoffnung und Verbindlichkeit zu tun. Damit, auch in schwierigen Zeiten den Mut nicht zu verlieren. Daf\u00fcr m\u00fcssen wir eine gemeinsame Kraft entwickeln. Hier sterben so viele Menschen und das hinterl\u00e4sst nat\u00fcrlich immer ein Loch \u2013 aber die Angeh\u00f6rigen ziehen daraus auch ihre Kraft, weiter an der Sache zu arbeiten. Denn diese Menschen sind f\u00fcr eine andere, eine befreite Welt gestorben und diesen Kampf wollen sie weitertragen. Das h\u00e4ngt auch mit Verbindlichkeit dem Widerstand gegen\u00fcber zusammen. Je mehr Geschichten und Gespr\u00e4che man h\u00f6rt, desto unwahrscheinlicher wird es zu sagen: \u201eIch habe keinen Bock mehr auf Politik\u201c. Als w\u00e4re das eine Entscheidung. Wir hatten hier ein Interview mit einer engen Freundin von Anna Campbell. Das hat mich sehr ber\u00fchrt. Sie hat uns erz\u00e4hlt, dass sie nach ihrem Tod einfach nicht mehr sagen kann, ich ziehe mich jetzt raus oder ich habe keine Lust mehr.
Sarah: Dazu geh\u00f6rt auch, eine gemeinsame Perspektive und gemeinsame Werte zu entwickeln. Sich nicht von Konflikten spalten zu lassen, sondern Methoden zur Konfliktl\u00f6sung und zur Zusammenarbeit zu finden. Das h\u00e4ngt zum einen viel mit der Arbeit an sich selbst und andererseits mit der Herangehensweise an Genossenschaftlichkeit (Hevalt\u00ee) zusammen. Damit ist Vorstellung gemeint, gemeinsam in einem revolution\u00e4ren Prozess zu wachsen. Das habe ich auch in meinem Umgang mit M\u00e4nnern gemerkt. Ich k\u00f6nnte nat\u00fcrlich sagen: \u201eSchei\u00df drauf, ich kann den nicht ab\u201c. Aber dann ist da nur ein Mann mehr, der sich nicht \u00e4ndert. Wir m\u00fcssen daran glauben, dass auch Typen sich \u00e4ndern k\u00f6nnen und wollen, dass auch sie wachsen und sich ver\u00e4ndern.
Charlotte: Was ich auch f\u00fcr meine K\u00e4mpfe mitnehme, ist ein ver\u00e4ndertes Konzept von Freiheit. Das mir meine pers\u00f6nliche, individuelle Freiheit nichts bringt, wenn andere nicht frei sind. Zum Beispiel kann ich zwar oberk\u00f6rperfrei im Berghain tanzen gehen, aber dennoch wird zwei H\u00e4user weiter eine Frau von ihrem Mann geschlagen. Wir m\u00fcssen aufh\u00f6ren, nur Schritte f\u00fcr uns zu gehen, und nicht f\u00fcr alle.
Wie ist die Kapitalismus- und Patriarchatskritik von Rojava auf europ\u00e4ische L\u00e4nder \u00fcbertragbar, und wo seht ihr Schwierigkeiten?
Isa: Ein Punkt \u00fcber den ich viel nachdenke, ist die Analyse, dass die Frau die erste Kolonie ist. Ich gehe da zwar mit, aber ich denke, die Auswirkungen auf die politische Praxis in Europa oder westlichen L\u00e4ndern muss eine andere sein. Wir kommen aus L\u00e4ndern, die kolonisiert haben. Das d\u00fcrfen wir nicht vergessen, wenn wir diese Analysen anwenden. Rassismus ist bei uns ein zentraler Unterdr\u00fcckungsmechanismus. Wir k\u00f6nnen also nicht sagen, die Kategorie Frau ist die zentrale Kategorie f\u00fcr eine Organisierung. Damit machen wir nur selbst wieder Haupt- und Nebenwiderspr\u00fcche auf.
Charlotte: Wir haben in Europa auch eine andere Grundlage, wenn wir von kommunalem Leben reden. Hier geht es zum Beispiel darum, kommunales Leben zu verteidigen und zu erhalten. In Europa m\u00fcssen wir das wieder ausgraben und aufbauen. Wir befinden uns im Herzen der Bestie und deshalb brauchen wir auch andere Konzepte.
Sarah: Ich finde allerdings, dass es auch wichtig ist, die Gemeinsamkeiten zu betonen. Sonst verlieren wir den Blick f\u00fcr das Ganze und konzentrieren uns wieder nur darauf, was uns trennt. Ich finde die Analyse der kurdischen Bewegung dazu sehr hilfreich, also die Begriffe der demokratischen Moderne und der kapitalistischen Moderne. Also zu sehen, dass es nat\u00fcrliche Gesellschaften \u00fcberall gab und diese bek\u00e4mpft wurden. Werte wie Gemeinschaft, der Bezug zur Natur, ein humanistisches Gewissen \u2013 das ist etwas wof\u00fcr wir alle k\u00e4mpfen und wir k\u00f6nnen uns nicht nur Sexismus oder Rassismus herausgreifen und dann nur gegen einen Mechanismus k\u00e4mpfen. Da gilt es auch, den Metropolenchauvinismus zu bek\u00e4mpfen.
Isa: Es besteht immer auch die Gefahr, gewisse politische Realit\u00e4ten zu vergessen und auch die eigenen Hintergr\u00fcnde zu vergessen. Das wir dann zum Beispiel dar\u00fcber diskutieren, aber nicht dar\u00fcber, dass wir hier in einer Gruppe aus wei\u00dfen Frauen sitzen.
Anna: In Europa und gerade auch Deutschland wurden systematisch matriarchale Gesellschaftsmodelle und Frauen*bilder zerst\u00f6rt. Wir reden viel zu wenig dar\u00fcber, dass wir an dem Ort leben, an dem so viele Frauen als Hexen verbrannt wurden. Da lohnt sich auch wirklich die Lekt\u00fcre von Silvia Federicis Caliban und die Hexe. Damit wurde sich in der zweiten Frauenbewegung unheimlich viel besch\u00e4ftigt und heute beziehen wir uns viel zu wenig darauf.
Heute ist internationaler Frauen*kampftag, und in vielen Orten international und in Deutschland finden feministische Streiks statt. Habt ihr eine Botschaft f\u00fcr eure streikenden Genossinnen*?
Anna: Wir stehen vor vielen Herausforderungen. Wir leben in einer Welt voller Grenzen und Mauern. Manchmal so, dass wir uns nicht erreichen k\u00f6nnen und uns nicht gegenseitig kennen lernen k\u00f6nnen, um Schulter an Schulter dagegen zu k\u00e4mpfen. Eine internationalistische Perspektive \u00fcberschreitet und durchbricht diese Grenzen. Und das bedeutet, die Notwendigkeit zu erkennen, dass wir unsere K\u00e4mpfe miteinander verbinden. Dass wir an jedem Ort an dem wir sind, f\u00fcr wirkliche Freiheit und Gerechtigkeit k\u00e4mpfen und verstehen, welche Rolle wir in diesem Kampf einnehmen k\u00f6nnen.
Jana: Ich m\u00f6chte meinen Schwestern \u00fcberall auf der Welt viel Kraft f\u00fcr ihre K\u00e4mpfe schicken und dass dieser Widerstand ein Widerstand ist, den wir seit Jahrhunderten f\u00fchren. Denn: \u201ewir sind die Enkelinnen der Hexen, die sie nicht verbrennen konnten\u201c!
Die Kampagne \u201eGemeinsam K\u00e4mpfen\u201c entstand aus feministischen und internationalistischen Zusammenh\u00e4ngen in Deutschland. Sie m\u00f6chte globale feministische Perspektiven f\u00fcr basisdemokratische Gesellschaftsformen entwickeln.
Link zu Blogbeitr\u00e4gen der Delegation auf der Webseite der Kampagne.
Das Artikelbild zeigt eine Demonstration gegen die Afrin-Invasion in Derik am 20.1.2019.
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