Was wir \u00fcber die anstehenden Kommunalwahlen in Italien wissen sollten
\nAn diesem Wochenende gehen die Menschen in Italien zum zweiten Mal seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie an die Urnen. Am 3. und 4. Oktober 2021 werden rund 14 Millionen von ihnen in 1.342 St\u00e4dten und Gemeinden Italiens ihre B\u00fcrgermeister:innen sowie die Stadt- und Gemeinder\u00e4t:innen w\u00e4hlen.
\u00c4hnlich wie bei den Regionalwahlen im September 2020 handelt es dabei wieder um \u201eunpolitische Wahlen\u201c: Die Wahldebatten im Vorfeld konzentrierten sich vor allem auf pers\u00f6nliche Geschichten der Kandidat:innen, welche Kandidat:innen auf welchen Wahllisten stehen \u2013 und daher welche Klientele hinter welcher politischen Str\u00f6mung stehen \u2013 und auf alle m\u00f6glichen Skandale, in die Einzelpersonen oder Parteien verwickelt sind, anstatt die tats\u00e4chlichen politischen Programme der Parteien und ihrer Kandidat:innen zu thematisieren. In den meisten St\u00e4dten scheint es, als w\u00fcrden die Wahlen \u00fcberhaupt nicht wahrgenommen werden.
Die Zentralregierung der Experten
Dabei finden die Wahlen in einer ziemlich komplexen politischen Situation statt: Seit Februar 2021 hat Italien eine Regierung der so genannten \u201enationalen Einheit\u201c unter der F\u00fchrung des Ministerpr\u00e4sidenten und ehemaligen Chefs der Europ\u00e4ischen Zentralbank, Mario Draghi. Die Hauptaufgabe dieser \u201eRegierung der Experten\u201c ist es, einen Weg aus der aktuellen Krise zu finden. Draghi will zum einen das Wirtschaftswachstum und den Schuldenabbau f\u00f6rdern und die B\u00fcrokratie abbauen, die derzeit angeblich die \u201eFreiheit des Unternehmertums\u201c erschwert \u2013 und zum anderen die Eind\u00e4mmung des Coronavirus gew\u00e4hrleisten.
Obwohl es sich bei dieser sogenannten \u201eRegierung der Besten\u201c um eine technische Regierung handelt, bedeutet dies nicht, dass sie Reformen ohne jede Opposition durchsetzen kann. Ganz im Gegenteil. Politik ist keine technische Frage, sondern eine Frage von Klasseninteressen und Machtverh\u00e4ltnissen. Und Mario Draghi entpuppt sich als verl\u00e4ngerter Arm der Confindustria, des wichtigsten Verbandes der Industrie- und Dienstleistungsunternehmen in Italien, und dessen neoliberaler Politik.
Ende Juni 2021 schaffte Draghi den zu Beginn der Pandemie eingef\u00fchrten K\u00fcndigungsschutz ab. Die Confindustria, die gro\u00dfen Gewerkschaften und die Regierung versprachen gemeinsam, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um eine Entlassungswelle zu vermeiden \u2013 aber die Privatunternehmen nutzten die Abschaffung des Arbeitnehmerschutzes nat\u00fcrlich dazu, um Arbeiter:innen zu entlassen und ganze Produktionsst\u00e4tten in Drittstaaten zu verlagern.
Offiziell hat die Zahl der Arbeitslosen in Italien seit Beginn der Pandemie um eine Million Menschen zugenommen; aktuell steigt die Arbeitslosigkeit weiter an. Es finden wichtige Arbeiter:innenproteste (bei GKN, Whirlpool und vielen anderen Betrieben) und politische Kampagnen gegen Standortverlagerungen statt. Die Regierung z\u00f6gert allerdings, sich gegen die Interessen des Kapitals zu stellen und setzt die neoliberale Politik fort. Aufgrund dieses Widerspruches zwischen tats\u00e4chlichen Bed\u00fcrfnissen der Arbeiter:innen und den politischen Antworten der Regierung nehmen die sozialen Spannungen weiter zu.
COVID-19-Beschr\u00e4nkungsma\u00dfnahmen
Den offiziellen Statistiken zufolge hat Italien eine der h\u00f6chsten Impfraten in Europa. Diese Tatsache ist auf die rigorose Impfpolitik von Premierminister Draghi zur\u00fcckzuf\u00fchren. Letzte Woche wurde damit begonnen, gef\u00e4hrdeten Personen die dritte Impfdosis zu verabreichen; zudem f\u00fchrte die Regierung einige Ma\u00dfnahmen ein, um noch mehr Menschen zum Impfen zu bewegen: Die COVID-19-Impfbescheinigung ist in Restaurants und im Fernverkehr erforderlich und wird ab dem 15. Oktober f\u00fcr Angestellte des \u00f6ffentlichen Dienstes obligatorisch sein.
Die restriktiven Ma\u00dfnahmen gegen COVID-19 f\u00fchren zu sozialen und politischen Spaltungen. Regelm\u00e4\u00dfig kommt es zu sozialen Protesten, die von der so genannten Anti-Vax-Bewegung organisiert werden. Auch wenn sie nicht sehr zahlreich sind, ziehen sie die allgemeine gesellschaftliche Unzufriedenheit aufgrund der zunehmenden Erwerbslosigkeit und der Verarmung einer breiten Bev\u00f6lkerungsschicht an. Au\u00dferdem nutzt die extreme Rechte die Stra\u00dfenaktionen gegen die Linie der Regierung dazu, sich in die Proteste einzumischen und ihre reaktion\u00e4ren Positionen zu verbreiten.
An diesen restriktiven Ma\u00dfnahmen entz\u00fcndet sich die Spaltung der institutionellen Rechten. Matteo Salvinis Partei Lega, die lange Zeit die wichtigste Partei in der politischen Landschaft Italiens war, ist intern in Fraktionen gespalten: die erste versucht, aus der allgemeinen sozialen Unzufriedenheit der Menschen im Zusammenhang mit den restriktiven Ma\u00dfnahmen und der Impffrage Kapital zu schlagen. Sie sind darauf aus, mit der \u201eRegierung der nationalen Einheit\u201c zu brechen und vorgezogene Neuwahlen zu forcieren. Die zweite stellt sich st\u00e4rker auf die Seite der technischen Regierung von Mario Draghi, um auf diese Weise die Rechte der Arbeiter:innen abzubauen und die wirtschaftlichen Interessen des Kapitals zu verteidigen.
Rekonfiguration von Mitte-Links und Mitte-Rechts
In diesem allgemeinen Kontext werden die wichtigsten italienischen St\u00e4dte ihre neuen B\u00fcrgermeister:innen und Stadtr\u00e4t:innen w\u00e4hlen. Vor allem in St\u00e4dten wie Mailand, Turin, Bologna, Rom und Neapel werden die Wahlen ein Indikator f\u00fcr das Vertrauen der Bev\u00f6lkerung in die f\u00fchrenden Parteien sein.
Die 5-Sterne-Bewegung (M5S), die lange als die populistische Option Italiens galt und bei den nationalen Wahlen 2018 die st\u00e4rkste Partei war (sie konnte damals 32,68 Prozent der Stimmen auf sich vereinen), hat in den letzten zwei Jahren an Zustimmung verloren. Umfragen sch\u00e4tzen ihr aktuelles Stimmenpotenzial auf etwa 15 bis 16 Prozent ein. Als die Koalition mit der Lega im September 2019 (die erste Regierung von Guiseppe Conte (M5S)) zerbrach, r\u00fcckte eine erhebliche Anzahl von Abgeordneten nach rechts. In Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei (PD) (zweite Conte-Regierung, von September 2019 bis Februar 2021) setzten sie eine Mitte-Links-Koalition durch und wurden zu einem festen Bestandteil davon. Es war die R\u00fcckkehr des Bipolarismus in Italien.
Obgleich M5S und die PD die Mitte-Links-Koalition der Regierung von Mario Draghi unterst\u00fctzen, treten sie in drei von f\u00fcnf Gro\u00dfst\u00e4dten bei den aktuellen Kommunalwahlen getrennt an. In den St\u00e4dten, in denen die 5-Sterne-Bewegung in der letzten Legislaturperiode das B\u00fcrgermeisteramt errungen hat, etwa in Turin (Chiara Appendino) und Rom (Virginia Raggi), wird sie nun aller Voraussicht nach eine vernichtende Niederlage erleiden \u2013 und riskieren, beide St\u00e4dte an die Mitte-Rechts-Kandidaten zu verlieren.
Die Demokratische Partei beschloss indes, in Mailand allein anzutreten. Der derzeitige B\u00fcrgermeister Beppe Sala wird dort best\u00e4tigt werden, wahrscheinlich sogar in der ersten Runde. In Neapel und Bologna, wo die beiden Parteien jeweils in einer Koalition mit einem B\u00fcrgermeisterkandidaten der PD antreten, wird ihre Mitte-Links-Koalition wahrscheinlich die Wahlen gewinnen. Die Ergebnisse werden ein starkes koalitionsinternes Signal sein und die dominante Rolle der Demokratischen Partei in der Mitte-Links-Koalition st\u00e4rken.
Nicht zuletzt: In allen gr\u00f6\u00dferen St\u00e4dten treten die Rechten in einer Mitte-Rechts-Koalition aus den drei gro\u00dfen Parteien Forza Italia, Lega und Fratelli d\u2019Italia (Br\u00fcder Italiens, unter der F\u00fchrung von Giorgia Meloni) an. In den j\u00fcngsten nationalen Umfragen erreichten die drei Parteien etwa 45-47 Prozent der Stimmen, wobei die neofaschistischen \u201eBr\u00fcder Italiens\u201c Salvinis Lega \u00fcberholt haben und \u00fcber 20 Prozent erreichen. Diese Verschiebung hat weniger Bedeutung f\u00fcr die aktuellen Kommunalwahlen als f\u00fcr die k\u00fcnftigen nationalen Wahlen, bei denen Giorgia Meloni die F\u00fchrung von Matteo Salvini in der Mitte-Rechts-Koalition herausfordern wird.
Weiterreichende Auswirkungen der Kommunalwahlen
Neben der Analyse der allgemeinen Zustimmungen f\u00fcr die Parteien gibt es bei diesen Kommunalwahlen zwei weitere wichtige Herausforderungen. Erstens: Wer auch immer die Kommunalwahlen gewinnt, wird sich als potenziell f\u00fchrende Partei f\u00fcr die f\u00fcr 2023 geplanten nationalen Wahlen best\u00e4tigen. Ein gutes Ergebnis bei diesen Kommunalwahlen wird den Weg in die n\u00e4chste Legislaturperiode ebnen.
Der zweite Punkt betrifft die Verteilung der Gelder aus dem Europ\u00e4ischen Konjunkturprogramm/Next Generation EU. Die italienische Regierung hat einen Nationalen Konjunktur- und Resilienzplan (Pnrr) ausgearbeitet, der im Wesentlichen ein Investitionsplan f\u00fcr die 191,5 Milliarden Euro ist, die von der Europ\u00e4ischen Union zur \u00dcberwindung der aktuellen Krise, zur Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums und zur Anpassung der institutionellen Settings bereitgestellt werden.
Ein gro\u00dfer Teil des Geldes ist f\u00fcr Infrastrukturprojekte, den \u00f6kologischen Umbau sowie den \u00dcbergang hin zu einer gr\u00fcnen Wirtschafts- und Stadtentwicklung vorgesehen. Der Investitionsplan wird zwar auf nationaler Ebene entworfen; die Verwaltung der Mittel erfolgt aber auf regionaler und lokaler Ebene. Mit anderen Worten: Diese Mittel zu verwalten bedeutet, eine enorme Geldmenge zu kontrollieren. Das wiederum bedeutet, sich mit dem Geld parlamentarische Mehrheiten gew\u00e4hrleisten zu k\u00f6nnen und diejenigen Klientele zu bedienen, die die Stimmen gegeben haben.
Und die Linke?
Die italienische Linke w\u00e4hlt bei diesen Wahlen zwei verschiedene Optionen. Eine davon ist Sinistra Italiana, eine politische Partei, die 2017 aus einer Abspaltung von der Demokratischen Partei, einem Zusammenschluss mit Sinistra Ecologia e Libert\u00e0 und unter Beteiligung von ehemaligen Politiker:innen der 5-Sterne-Bewegung entstanden ist. Sinistra Italiana hat sich in die Wahllisten der linken Mitte integriert, um, wie der Parteivorsitzende Nicola Fratoianni es ausdr\u00fcckte, \u201eeine unabh\u00e4ngige linke politische Option in einer Koalition mit der Demokratischen Partei und der 5-Sterne-Bewegung\u201c aufzubauen.
Mit der Unterst\u00fctzung der Mitte-Links-Koalition wird Sinistra Italiana allerdings zur Kr\u00fccke des links angemalten Neoliberalismus der Demokratischen Partei. Sie ignoriert die Wende, die die PD in den letzten zwanzig Jahren vollzogen hat: W\u00e4hrend ihrer Regierungszeit baute sie Arbeiter:innenrechte ab, unterst\u00fctzte gr\u00f6\u00dfenwahnsinnige und unn\u00f6tige Infrastrukturprojekte, trug zur Umweltzerst\u00f6rung bei und errichtete Mauern gegen Migrant:innen. In der Mitte-Links-Koalition gibt es keinen Platz f\u00fcr eine alternative linke Politik.
Die Partei Potere al Popolo hat stattdessen beschlossen, entweder allein (Mailand, Bologna, Rom) oder in Koalition mit progressiven Listen, die unabh\u00e4ngige B\u00fcrgermeisterkandidat:innen unterst\u00fctzen (Turin und Neapel), an den Wahlen teilzunehmen. Unabh\u00e4ngig von der taktischen Erw\u00e4gung, allein oder in einer unabh\u00e4ngigen Koalition anzutreten, besteht der Grundgedanke darin, eine Alternative zum entstandenen Bipolarismus zu schaffen: eine Alternative zur konservativen und neofaschistischen Mitte-Rechts-Politik und eine Alternative zum Neoliberalismus von Mitte-Links. Beides sind unterschiedliche Seiten ein und derselben Medaille.
Potere al Popolo macht deutlich, dass es nicht m\u00f6glich ist, eine solche Alternative einzig mittels Vereinbarungen zwischen zentralen Figuren linker Parteien und Wahlkoalitionen aufzubauen. Eine linke Alternative braucht ein neues politisches Projekt, das im sozialen Gef\u00fcge verwurzelt ist, welches Kommunist:innen organisieren wollen: prek\u00e4r besch\u00e4ftigte Arbeiter:innen, Frauen*, Migrant:innen und andere.
So gesehen haben Wahlen eine doppelte Aufgabe: Erstens, die \u00f6ffentliche Aufmerksamkeit von Wahlen zu nutzen, um von den Menschen wahrgenommen zu werden. Das bedeutet, die popularen K\u00e4mpfe zu intensiveren und das politische Programm der Partei in Bezug auf die Menschen auszurichten; zweitens, in die Kommunalparlamente gew\u00e4hlt zu werden, um den Alltag des b\u00fcrgerlichen Spektakels zu st\u00f6ren und so die mediale Aufmerksamkeit zu nutzen, um die Stimme des Volkes und der sozialen K\u00e4mpfe in die Institutionen zu bringen. Es ist genau dieses politische Spannungsfeld, in dem sich Potere al Popolo heute bewegt.
Anmerkung:
Der Artikel erschien am 29. September 2021 bei Peoples\u2019 Dispatch \u201eWhat to know about the upcoming local elections in Italy\u201d. Er wurde von Johanna Br\u00f6se ins Deutsche \u00fcbersetzt und an einigen Stellen vom Autor erg\u00e4nzt.