Burkaverbot und Sozialhilfedetektive in der Schweiz
\nAm 7. M\u00e4rz fanden in der Schweiz Volksabstimmungen auf Kantons- und Bundesebene statt. Einige von ihnen waren offen gegen Menschen- und Freiheitsrechte gerichtet. Darunter folgende:
- Eine Abstimmung im Kanton Z\u00fcrich dar\u00fcber, ob die staatsb\u00fcrgerschaftlichen Informationen und die nationale Identit\u00e4t von Personen, die Straftaten begehen oder im Verdacht stehen, Straftaten begangen zu haben, ver\u00f6ffentlicht werden sollen. Diese von der rechten Schweizerischen Volkspartei (SVP) in Gang gesetzte Volksinitiative mit dem Titel \u201eBei Polizeimeldungen sind die Nationalit\u00e4ten anzugeben\u201c wurde mit 43,76 Prozent Ja-Stimmen abgelehnt.
- Eine Abstimmung im Kanton Z\u00fcrich dar\u00fcber, ob Sozialhilfeempf\u00e4nger*innen, die im Verdacht stehen, Betrug oder Missbrauch mit der Sozialhilfe zu begehen, von Detektiven verfolgt werden d\u00fcrfen/sollen. Die vom Kantonsrat Z\u00fcrich vorgeschlagene Gesetzes\u00e4nderung (Sozialhilfegesetz SHG Klare rechtliche Grundlage f\u00fcr Sozialdetektive) wurde mit 67,73 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.
- Eine Schweiz-weite Volksinitiative mit dem Titel \u201eJa zum Verh\u00fcllungsverbot\u201c, die ein Verbot der Gesichtsverh\u00fcllung im \u00f6ffentlichen Raum (Einkaufszentren, Schulen, Stra\u00dfen usw.) forderte. Diese Initiative wurde mit 51,2 Prozent der abgegebenen Stimmen angenommen.
Das, was diese (Gesetzes-)Initiativen eint: Sie sind rassistisch und insbesondere gegen Migrant*innen gerichtet. Als ob die mangelhaften und unhygienischen Bedingungen nicht ausreichten, wurden refugees, die in Lagern lebten, w\u00e4hrend der Corona-Pandemie noch weiter isoliert. Besuche wurden verboten, Ein- und Ausgehen aus den Lagern penibel kontrolliert. Migrantische Arbeitskr\u00e4fte befinden sich mitten in einer sich versch\u00e4rfenden Armuts- und Arbeitslosigkeitsspirale, da die Pandemie diejenigen Wirtschaftssektoren besonders stark trifft, in denen Migrant*innen haupts\u00e4chlich arbeiten. Nat\u00fcrlich sind migrantische Frauen* von diesen Umst\u00e4nden gleich doppelt betroffen. Durch diese Initiativen br\u00f6ckelt der Lebensstandard von Migrant*innen noch weiter und die Mauern, die sie umgeben, werden noch weiter hochgezogen \u2013 und das unter Umst\u00e4nden der Krise und Pandemie. Mit ihnen zeigt sich der rassistische und potenziell antidemokratische Charakter des schweizerischen Staates.
Im Windschatten der Rechten
Die erste Initiative wurde, wie gesagt, von der reaktion\u00e4rsten und rassistischsten Partei der Schweiz, der SVP in Gang gesetzt. Die Logik ist klar: Ausl\u00e4nder*innen begehen viel mehr Straftaten als \u201eEinheimische\u201c. Daher ein Gesetz, das ihrer \u201esauberen, wei\u00dfen Rasse und Hochkultur\u201c die Absolution erteilen soll. Au\u00dferdem soll die Ver\u00f6ffentlichung von Angaben \u00fcber Herkunft rassistische Argumente und migrationsfeindliche Haltungen befeuern. Die Initiative wurde zwar nicht angenommen. Wird sie aber etwas besser organisiert (so wie die Initiative zum Verh\u00fcllungsverbot) und findet kein Widerstand dagegen statt, dann wird auch die SVP-Initiative beim n\u00e4chsten Versuch durchkommen.
Und was soll man zur Gesetzesinitiative des Kantons Z\u00fcrich sagen, die es erm\u00f6glicht, dass Sozialhilfeempf\u00e4nger*innen durch Detektive nachspioniert werden kann? Die SVP ist eine klar rassistische Partei, aber warum hat der Z\u00fcricher Kantonsrat das Bed\u00fcrfnis, eine solche Gesetzesinitiative vorzuschlagen? Einige Politiker*innen sagen, das sei deshalb gemacht worden, um einer viel h\u00e4rteren Gesetzesinitiative der SVP zuvorzukommen und diese somit abzuwehren. Das ist eine wirklich interessante Argumentationsweise f\u00fcr die Politik in einem Land, das sich selbst zu den demokratischsten und liberal-freiheitlichsten der Welt z\u00e4hlt.
Es ist offensichtlich, dass dieses vage formulierte und daher in alle Richtungen dehnbare Gesetz einzig daf\u00fcr gut sein wird, den Zugang zur Sozialhilfe, die angesichts der Pandemie-bedingten Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut der einzige Ausweg f\u00fcr viele Menschen ist, weiter zu erschweren. Wenn man sich vor Augen h\u00e4lt, wer in der Schweiz am meisten Sozialhilfe beantragen muss, erkennt man auch sofort den rassistischen Charakter des Gesetzes. Der Kanton Z\u00fcrich, der in der Pandemie versagt hat, zwingt mit dieser Gesetzesinitiative Migrant*innen in den Niedriglohnsektor, in die Armut und letztlich dazu, das Land zu verlassen.
Das Verh\u00fcllungsverbot
Mag der rassistische und migrant*innenfeindliche Charakter der ersten beiden Abstimmungen unzweifelhaft erscheinen, so sind die Dinge etwas vertrackter, wenn es um das als Verh\u00fcllungsverbot deklarierte \u201eBurkaverbot\u201c geht. Vor allem f\u00fcr M\u00e4nner.
Die SVP hat einige Begr\u00fcndungen f\u00fcr diesen Gesetzesvorschlag ins Feld gef\u00fchrt. Zum einen wird der Islam mit Terrorismus gleichgesetzt und das Gesetz so auch als Ma\u00dfnahme gegen Terror bezeichnet. Anscheinend sind wir Frauen* f\u00fcr den Terror verantwortlich, ohne davon zu wissen. Es w\u00fcrde mich wirklich interessieren, wie genau Terroranschl\u00e4ge verhindert werden, wenn es Frauen* untersagt wird mit einer Burka das Haus zu verlassen.
Aber damit nicht genug, sie erkl\u00e4ren uns auch, dass sie die Freiheit der Frauen* f\u00fcr wichtig befinden und dieses Gesetz es den Frauen* erleichtern soll, sich im \u00f6ffentlichen Raum zu bewegen. Weil jetzt nat\u00fcrlich ganz bestimmt alle betroffenen Frauen* pl\u00f6tzlich ihre Burka ablegen und nach drau\u00dfen rennen werden\u2026
Es w\u00e4re absurd anzunehmen, dass eine rassistische Partei wie die SVP tats\u00e4chlich auch nur einen einzigen Finger r\u00fchrt f\u00fcr die Frauen*befreiung. Sie waren ja auch diejenigen, die sich am st\u00e4rksten gegen den Frauen*streik gestellt und sogar dagegen organisiert haben. Sie haben kein anderes Ziel als Frauen*rechte zur\u00fcckzunehmen und zwar beginnend mit den Rechten migrantischer Frauen*. Sie f\u00fcrchten sich vor der Befreiung der Frau*. Sie f\u00fcrchten sich vor der Befreiung und der Organisation der migrantischen Frauen*, die die prek\u00e4ren, am schlechtesten bezahlten Jobs ohne soziale Absicherung machen, die die Schweizer*innen nicht machen wollen und genau dadurch aber daf\u00fcr sorgen, dass die Schweiz jeden Morgen erneut aufsteht und den Tag beginnt.
Wir d\u00fcrfen auch nicht \u00fcbersehen, dass mit dem Fokus auf die Burka gleichzeitig der in ganz Europa wachsende antiislamische Rassismus in der Schweiz seinen Ausdruck findet. Dadurch, dass muslimische Frauen* zur Zielscheibe erkl\u00e4rt werden, werden vermittelt alle Frauen* zur Zielscheibe erkl\u00e4rt.
Dar\u00fcber hinaus f\u00fcgt die SVP auch noch hinzu, dass ein Vermummungsverbot es der Polizei bei Demonstrationen erleichtert, \u201eStraft\u00e4ter\u201c schnell ausfindig zu machen. Obwohl die Initiative offiziell als Vermummungsverbot betitelt ist, l\u00e4sst aber schon die Werbung der Initiator*innen, die eine Frau* mit Burka zeigt, keinen Zweifel daran, worum es wirklich geht: ein Verbot der Burka.
Jetzt ist aber die Fehlannahme, dass ein solches Gesetz die Frauen* befreien wird, nicht allein bei der SVP, rassistischen Parteien und konservativen Schweizer*innen verbreitet. Einige liberale, linke, ja sogar linksradikale M\u00e4nner und Frauen* haben auch f\u00fcr das Gesetz gestimmt. Die dahingehende Argumentation von Frauen* deutet eher auf Angst und Manipulation im Zuge steigenden Drucks hin. Sie meinen, dass die Verh\u00fcllung der Frauen* ein Freiheitsproblem und der Islam eine Religion sei, die Frauen* unterdr\u00fcckt und dieses Gesetz den Druck auf Frauen* vermindern w\u00fcrde. Hingegen denken viele Frauen* aus dem Mittleren Osten, dass der Islam eingeschr\u00e4nkt werden muss, nicht zuletzt deshalb, weil sie unter dessen repressiven Charakter leiden und sich davon befreien wollen. Daher stimmten auch sie dem Gesetz zu. Diese Argumente m\u00f6gen richtig oder falsch sein, ich kann sie jedenfalls nachvollziehen. Frauen*, die \u00fcber dieses Gesetz abstimmen, denken zugleich auch an sich. Sie treffen eine Entscheidung hinsichtlich ihrer eigenen Kleidung. Sie kommentieren dadurch ihre Geschlechtsgenoss*innen. Aber diese Argumentation muss man strikt von der Argumentation der wei\u00dfen europ\u00e4ischen b\u00fcrgerlich-patriarchalen M\u00e4nner trennen, die eine sowohl in Form wie auch Inhalt rassistische Argumentation vorbringen.
Und die M\u00e4nner?
M\u00e4nner, denen \u2013 mit Ausnahme von gewissen Institutionen und LGBTIQ+-Erfahrungen \u2013 noch nie in ihrem Leben in ihre Kleidung hineingeredet wurde, haben keinen Begriff davon, was es hei\u00dft, aufgrund einer bestimmten Kleidung nicht auf die Stra\u00dfe oder ins Einkaufszentrum gehen zu k\u00f6nnen beziehungsweise sich daf\u00fcr umziehen, ein Kleidungsst\u00fcck aus- oder anziehen zu m\u00fcssen. Und wie sie keinen Unterschied zwischen der freien Wahl eines Kleidungsst\u00fccks aus religi\u00f6sen Gr\u00fcnden und dem erzwungenen Tragen eines Kleidungsst\u00fccks sehen, so sehen sie auch nicht, dass das erzwungene Ablegen eines Kleidungsst\u00fccks eben auch nur ein weiterer Zwang ist.
Nun gut, M\u00e4nner, die f\u00fcr die Frauen*befreiung eintreten und mit denen wir in vielen Bereichen gemeinsamen marschieren, hinterfragen also religi\u00f6s konnotierte Kleidungsst\u00fccke und wollen sie im Namen der Frauen*befreiung verbieten. Aber hinterfragen sie auch ihre eigene M\u00e4nnlichkeit, die vom Patriarchat beherrschten Religionen, oder das b\u00fcrgerliche Verst\u00e4ndnis von Mode, das oft stark vom Geschmack der M\u00e4nner beeinflusst ist?
Das Einzige, was M\u00e4nner hinsichtlich dieser Abstimmung verstehen sollten, ist Folgendes: Es ist \u00fcberhaupt nichts Emanzipierendes daran, wenn die Kleidung von Frauen* zum Politikum wird und eine Abstimmung dar\u00fcber auch M\u00e4nnern offen steht. Dieses Recht gibt ihnen der patriarchale Schweizer Staat. Dass nun vor allem M\u00e4nner, die in vielen politischen Initiativen mit uns Seite an Seite stehen, diesen Unsinn im Namen der Befreiung der Frauen* verteidigen und daf\u00fcr stimmen, ist eine inakzeptable linke M\u00e4nnerkrankheit. Es ist zugleich der Versuch das zu verschleiern, was die Frauen* wirklich unterdr\u00fcckt und ausbeutet.
Was Frauen* wirklich gefangen h\u00e4lt
Aus meiner Sicht ist es zentral zu hinterfragen, was es denn nun wirklich ist, das Frauen* so unterdr\u00fcckt und gefangen h\u00e4lt, dass sie nicht einmal ihre Kleidung frei w\u00e4hlen k\u00f6nnen. Die islamische Religion, die einige gesellschaftliche Regeln zusammenfasst und gewisse Glaubenswerte zum Ausdruck bringt? Oder ist es doch eher die Tatsache, dass diese Religion von patriarchalen Strukturen gepr\u00e4gt wurde und dass sich M\u00e4nner das Recht herausnehmen ihre Regeln zu bestimmen, die dann wiederum das Leben der Frauen* in ein Gef\u00e4ngnis verwandeln?
Es ist eine Realit\u00e4t, dass der Islam, wie alle Religionen, unter starkem patriarchalen Druck gepr\u00e4gt wurde und deshalb der freie Wille der Frauen* immer beiseite geschoben wurde. Wir sind mit einer Situation konfrontiert, wo Frauen* nicht nur \u00fcber ihre Kleidung nicht frei entscheiden k\u00f6nnen, sondern auch ihren Glauben nicht frei leben k\u00f6nnen. Was hier die Freiheit der Frauen* wirklich beschr\u00e4nkt, ist also nicht ein St\u00fcck Stoff, sondern das Patriarchat. Patriarchale Strukturen haben sich in allen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sph\u00e4ren festgesetzt und \u00fcber Arbeit und K\u00f6rper der Frauen* ein Herrschaftssystem errichtet.
Wenn es aber um die Frauen*emanzipation geht, dann k\u00f6nnen wir erst dann von einer wirklichen Freiheit sprechen, wenn Frauen* einzig und allein selbst dar\u00fcber entscheiden k\u00f6nnen wie sie ihren K\u00f6rper verh\u00fcllen. Wir sind nicht allein dadurch freier, dass wir Kleidung tragen, die mehr von unserem K\u00f6rper zeigt. Wir sind frei, wenn wir unsere eigenen Entscheidungen selbst und ohne Manipulation treffen k\u00f6nnen. Erst in einer Situation, wo wir also v\u00f6llig selbstst\u00e4ndig und frei von Manipulation entscheiden k\u00f6nnen, was wir tragen wollen, sind Shorts und Burka gleicherma\u00dfen tats\u00e4chlich nur mehr Stoffst\u00fccke.
Kurz gefasst: Sich f\u00fcr die Emanzipation der Frauen* einzusetzen hei\u00dft, sich f\u00fcr die Entwicklung des freien Willens der Frauen* und f\u00fcr die Aufhebung des patriarchalen Drucks auf Frauen* zu k\u00e4mpfen. Ein solches Gesetz zu entwerfen und zur Abstimmung zu bringen hei\u00dft jedoch, ein Angriff auf die Rechte und Freiheiten der Frauen* als Menschen (was nicht selten vergessen wird und unbedingt betont werden muss) zu lancieren.
Leider konnten die linken, feministischen Gruppen in der Schweiz, die den Gesetzesentwurf abgelehnt haben, vor der Abstimmung keine starke Initiative dagegen organisieren. Aber wenn wir Frauen* nicht wollen, dass sich M\u00e4nner (oder ein von M\u00e4nnern beherrschtes System) das Recht herausnehmen, sich in die Kleidung von Frauen* einzumischen und irgendwann auch gegen unsere Shorts wettern, dann m\u00fcssen wir uns klar gegen diese patriarchale Haltung stellen und einen Gegenstandpunkt organisieren.
Meral \u00c7\u0131nar ist eine feministische Aktivistin aus der Schweiz. Sie ist auch eine Mibegr\u00fcnderin der migrantischen Selbstorganisation ROTA.
Anmerkungen:
Der Text erschien zu erst am 11. M\u00e4rz auf T\u00fcrkisch im feministischen Onlinemagazin feminerva. Aus dem T\u00fcrkischen ins Deutsche \u00fcbersetzt von Alp Kayserilio\u011flu und Max Zirngast.