Der Irak vor den Wahlen \u2013 eine politische Einsch\u00e4tzung aus linker Perspektive
\nGrundlage dieses Artikels ist der monatliche \u201eIraq Report\u201c von Workers Against Sectarianism (WAS) aus dem Irak. Der Kontakt des re:volt magazine (Berlin) zu Aktivist*innen von WAS ist an einer Marx-Herbst-Schule Ende 2019 in Berlin entstanden, als im Irak gerade die Proteste ausgebrochen sind. Es folgte ein intensiver politischer Austausch mit dem Anspruch, das Verst\u00e4ndnis und die Solidarit\u00e4t mit den irakischen Protesten in Europa zu st\u00e4rken. Ende 2020 traf Maja Tschumi WAS-Aktivist*innen aus Bagdad in Kurdistan/Irak.
Am 21. Januar 2021 ersch\u00fctterte ein doppeltes Bombenattentat Bagdad und forderte laut offiziellen Zahlen 32 Tote und 100 Verletzte (inoffiziell wird von 100 Toten gesprochen). Zwei M\u00e4nner sprengten sich inmitten eines belebten Marktes in die Luft. Es war nach drei relativ ruhigen Jahren das erste Attentat dieses Ausma\u00dfes in Bagdad. Ohne konkrete Beweise vorzulegen, erkl\u00e4rte sich der Islamische Staat (IS) f\u00fcr die Anschl\u00e4ge verantwortlich und ein Gro\u00dfteil der europ\u00e4ischen Presse \u00fcbernahmen diese Behauptung, meist ohne die Anschl\u00e4ge in einen gr\u00f6\u00dferen Kontext der aktuellen Lage im Irak zu stellen. Im Irak gibt es zahlreiche bewaffnete Gruppen. So waren zum Beispiel die vom Iran unterst\u00fctzen Milizen massgeblich beteiligt an der brutalen Niederschlagung der Proteste seit Oktober 2019 (mindestens 700 Tote und 30.000 Verletzte). Ihnen werden Anschl\u00e4ge auf US-Stellungen im Irak und zahlreiche gezielte T\u00f6tungen und Entf\u00fchrungen von Aktivist*innen nachgesagt. Doch der irakische Staat ist nicht in der Lage, diese Milizen daf\u00fcr zur Rechenschaft zu ziehen und sie fungieren zunehmend als eine Art Staat im Staat. Diese pro-iranischen Milizen (\u201eHashd al-Shaabi\u201c) entstanden auf Geheiss des irakischen Gro\u00dfayatollah 2014 im Kampf gegen den IS. Sie wurden finanziell vor allem vom Iran unterst\u00fctzt (zu Beginn auch von den USA). Nach dem Sieg \u00fcber den IS wurden sie ins irakische Milit\u00e4r integriert, von diesem aber nie wirklich unter Kontrolle gebracht. Auch weil sie schiitisch-islamistischen Parteien und dem Iran dazu dienen, ihren politischen Einfluss im Irak auszuweiten.
Hierzulande l\u00f6sten die Bombenanschl\u00e4ge in Bagdad Bef\u00fcrchtungen eines Wiedererstarkens des IS im Irak aus. Laut der Einsch\u00e4tzung von Aktivist*innen der klassenk\u00e4mpferischen Basisorganisation WAS aus Bagdad m\u00fcssen die Bombenanschl\u00e4ge jedoch mehr im Zusammenhang mit den anstehenden, vorgezogenen Wahlen betrachtet werden. Sie waren eine zentrale Forderung der Massenproteste 2019/2020. [1] Denn aufgrund der zahlreichen Checkpoints und Sicherheitskr\u00e4fte in Bagdad zweifeln die Aktivist*innen daran, dass die IS-Attent\u00e4ter so unbemerkt ins Zentrum der Stadt vordringen konnten. Auch wenn dies schwer zu best\u00e4tigende Vermutungen einer Komplizenschaft mit der Regierung sind, weisen sie doch auf eine zentrale Gefahr hin: Schiitisch-islamistische Parteien in der Regierung k\u00f6nnten von einem Terror-Anschlag des IS insofern profitieren, als es ihnen das Argument liefert, schiitisch-islamistischen Kr\u00e4fte st\u00e4rken zu m\u00fcssen, um die Bev\u00f6lkerung vor dem IS zu sch\u00fctzen. Das ist ein Narrativ, welches im Krieg gegen den Islamischen Staat 2014 bis 2017 entstanden ist. Unterdessen sind die pro-iranischen Milizen selbst eine Gefahr f\u00fcr die Sicherheit der Bev\u00f6lkerung geworden. Und tats\u00e4chlich stellte in der Nacht vom 9. Februar 2021 eine Miliz der Sadr-Bewegung in Bagdad, Najaf und Kerbala ihre Waffen zur Schau. [2] Sie sperrten Stra\u00dfen und besetzten sunnitische Stadtviertel. Erneut scheinen sich also die konfessionellen Spannungen im Vorfeld der Wahlen zuzuspitzen.
\u201eWe want a homeland!\u201c
Im Oktober 2019 ging die junge Generation in Bagdad und in s\u00fcdlichen Provinzen des Irak unter dem Slogan \u201eWe want a homeland\u201c massenhaft auf die Stra\u00dfe, besetzte Pl\u00e4tze und organisierte sich gegen mangelnde wirtschaftliche M\u00f6glichkeiten, ausufernde Korruption, ein sektiererische Parteiensystem und die imperiale Einmischung in die irakische Politik und Wirtschaft. [3] Zentrale Forderungen zu Beginn der Proteste 2019 waren: stabile Elektrizit\u00e4t und Wasser, weniger Korruption und mehr Arbeit (ca. 30 Prozent der M\u00e4nner und ca. 60 Prozent der Frauen* unter 24 Jahren sind arbeitslos). Aufgrund der Repression eskalierte der Protest zu einem nationalen Aufstand mit der umfassenden Forderung, die Regierung zu st\u00fcrzen und den iranischen Einfluss im Irak zu stoppen.
Trotz massiver und brutalster Repression gelang es dem sogenannten October Uprising eine gro\u00dfe Sicherheit auf den besetzten Pl\u00e4tzen zu erreichen. Die Platzbesetzungen wie z.B. auf dem Tahrir Platz in Bagdad waren ein wesentliches Merkmal und eine wesentliche Errungenschaft der Protestierenden. Schlie\u00dflich gelang es ihnen, den seit 2018 amtierenden Premierminister Adil Ab al-Mahdi (seit 2017 unabh\u00e4ngiger schiitischer Politiker, zuvor Mitglieder der iranfreundlichen, schiitisch islamistisch Partei \u201eOberster Islamischer Rat im Irak") im November 2019 zum R\u00fccktritt zu zwingen. Die Entscheidung, vorgezogene Wahlen abzuhalten, wurde dann von der Regierung unter Premierminister Mustafa Al-Kadhimi (ein USA- und Kapital-freundlicher, parteiloser Schiit und Ex-Geheimdienstchef) getroffen, der im Mai als \u00dcbergangpr\u00e4sident eingesetzt wurde. Damit antwortete er auf eine zentrale Forderung der Proteste in der Hoffnung, diese damit zu deeskalieren und ihre Wut auf das sektiererische Politik- und Parteiensystem zu bes\u00e4nftigen.
Seit 2011 hat der Irak in regelm\u00e4ssigen Abst\u00e4nden Proteste erlebt. Die Proteste 2019/2020 gingen allerdings in ihrer Quantit\u00e4t und in ihrer Qualit\u00e4t \u00fcber alle Proteste seit 2003 hinaus. Zum einen lehnte der Gro\u00dfteil der Protestierenden den Fokus auf Identit\u00e4tspolitik mit ihren konfessionelle Spaltungen ab und betonten stattdessen die \u00f6konomischen, sozialen und politischen Missst\u00e4nde. Zum anderen war die Beteiligung von Frauen* am October Uprising bemerkenswert. W\u00e4hrend die protestierenden M\u00e4nner vor allem der Arbeiterklasse und den unteren Schichten angeh\u00f6rten, waren Frauen* verschiedener Schichten und Klassen auf der Stra\u00dfe. Unter den Frauen* konnte man, so berichten WAS, eine klassen\u00fcbergreifende Solidarit\u00e4t feststellen. Dies w\u00fcrde daran liegen, dass der Kampf f\u00fcr Frauen*rechte und politischer Mitbestimmung im sehr patriarchalen Irak Frauen* verschiedener Klassen zusammenschweisst.
Die Forderungen der Demonstranten liefen von Anfang an unter dem Slogan \u201eWe want a Homeland" zusammen. Er dr\u00fcckt das Gef\u00fchl einer Post-US-Invasion-Generation aus, keine Heimat zu haben \u2013 und zwar im doppelten Sinne: 1. kein lebenswertes Leben f\u00fchren zu k\u00f6nnen und 2. in einem Land zu leben, das seit langem mehr von \u00e4u\u00dferen \u2013 den USA und dem Iran \u2013 als von inneren Kr\u00e4ften gelenkt wird. So wurde die irakische Flagge w\u00e4hrend den Protesten zu einem Symbol. Sie sollte ausdr\u00fccken, dass die Menschen im Irak unabh\u00e4ngig von imperialen Interventionen und Einfl\u00fcssen selber \u00fcber die Zukunft des Iraks entscheiden wollen. Es gab aber auch eine kritische Debatte unter den Protestierenden \u00fcber die Flagge, ob man sie zum Beispiel ver\u00e4ndern soll und wie man sie inklusiver gestalten k\u00f6nnte. Denn im Namen der irakischen Flagge wurde in der Geschichte des Iraks sehr viel konfessionell und ethnisch begr\u00fcndetes Unrecht von Seiten des Staates begangen. Die \u00dcberwindung sektiererischer und ethnischer Spaltungen war aber gerade ein zentrales Anliegen der Protestierenden, dem sich die meisten Bewegungen unterordneten. So betonten zum Beispiel auch Frauen*organisationen, die an den Protesten und den Platzbesetzungen teilnahmen, dass sie nicht in erster Linie eine Frauen*revolution forderten, sondern sich als Teil der gesamten Bewegung verstehen. Dies zeigt aber \u2013 gerade in Bezug auf Frauen*bewegungen \u2013 auch auf, in welchem Verhandlungsspielraum sie sich befinden und dass f\u00fcr sie die Strategie der Solidarisierung im heutigen Irak vielversprechender ist als eine Strategie der Spaltung.
Eine flache Organisationstruktur und gro\u00dfe Partizipation von Frauen*
Der Irak blickt auf eine reiche Geschichte kommunistischer Organisationen und einer lebendigen Frauen*bewegung zur\u00fcck. Unter Saddam Hussein wurde nicht nur eine sehr m\u00e4chtige kommunistische Partei zerschlagen, sondern auch die Frauen*bewegung und die Gewerkschaften auf je eine staatliche Organisation zusammengeschrumpft. Nach 2003 kamen viel Aktivist*innen, die unter Saddam das Land verlassen hatten mit dem Anspruch zur\u00fcck, neue politische Projekte zu initiieren. Es entstanden auch zahlreiche Projekte. Die in der Geschichte des Irak sehr wichtige Arbeiter*innenbewegung sah sich allerdings mit einer schwierigen Lage konfrontiert. So wurden interessanterweise nach dem Sturz Saddams fast alle Gesetze aus der Zeit vor 2003 abgeschafft, aber diejenigen, die sich auf Arbeitnehmer*innenrechte und Gewerkschaften bezogen, \u00fcberlebten und blieben in Kraft. Trotz der widrigen Umst\u00e4nde wurden nach 2003 mehrere neue Gewerkschaften und Verb\u00e4nde v.a. im \u00d6lsektor aufgebaut. Heute sind politische Aktivist*innen aber zunehmend starker Repression durch die Milizen ausgesetzt. Politische Aktivist*innen oder auch Journalist*innen, die die Regierung und v.a. pro-iranische Parteien kritisieren, m\u00fcssen mit Drohungen, Entf\u00fchrungen, Folter und T\u00f6tung rechnen.
Dar\u00fcber hinaus ist zum Beispiel die Organisation eines Zufluchtsortes f\u00fcr Frauen*, die h\u00e4usliche Gewalt erlebt haben, nach wie vor illegal und deshalb f\u00fcr Aktivistinnen gef\u00e4hrlich. Trotz dieser bestehenden Organisationen und Bewegungen, ging der erste Funke der Proteste im Oktober 2019 von einer jungen Generation aus, die nicht besonders politisiert oder organisiert war. Vielmehr waren diese Proteste ein Auflehnen gegen soziale und \u00f6konomische Missst\u00e4nde, die den Alltag der Jugendlichen erschwert und ihnen keine Zukunftsperspektive gibt. So waren denn anf\u00e4nglich die Forderungen so banal wie: wir wollen ein gutes Leben! Mit der weiteren Entwicklung der Proteste schlossen sich zahlreiche \u2013 schon etablierte \u2013 Organisationen an. F\u00fcr die junge \u2013 noch unpolitische \u2013 Generation spielte das Internet eine grosse Rolle. Wie viele Jugendliche \u00fcberall auf der Welt verbringen sie einen Gro\u00dfteil ihrer Freizeit im Netz \u2013 was durch Arbeitslosigkeit noch verst\u00e4rkt wird. In den sozialen Medien sind sie nicht nur mit verschiedenen Lebensentw\u00fcrfen konfrontiert, sondern k\u00f6nnen sich politisch auch bilden und austauschen. Die Virtualit\u00e4t spielt aber auch noch auf einer anderen Ebene eine wichtige Rolle. So war zu beobachten, dass Jugendliche im Kampf gegen die Sicherheitskr\u00e4fte und die Milizen Strategien aus Videospielen (v.a. PlayerUnknown's Battleground) anwenden und sich mit Kost\u00fcmen aus Videospielen und Filmen verkleideten.
W\u00e4hrend der Proteste gelang es keiner etablierten Organisation, die F\u00fchrung der Protestbewegung an sich zu reissen. Dies ist sicher auch ein Effekt der Erfahrung von 2018, als die Sadr-Bewegung sich als Verteidigerin der Proteste damals aufspielte, damit die Wahlen gewann, aber letztlich kaum Forderungen der Protestierenden umsetzte. So blieben die Proteste 2019/20 in ihrer Organisationsstruktur flach und heterogen. \u00dcbergreifend war allerdings die Idee eines s\u00e4kularen Staates und die Offenheit gegen\u00fcber neuen Geschlechter- und Lebensmodelle. Auch wenn mehrheitlich junge M\u00e4nner an den Protesten beteiligt waren, gab es auf dem Tahrir Platz in Bagdad kaum sexuelle Bel\u00e4stigung, wie Aktivistinnen berichteten (wie es etwa 2011 auf dem Tahrir Platz in \u00c4gypten geschah). Im Gegenteil: sie f\u00fchlten sich dort oft sicherer als zuhause und es h\u00e4tte sogar Frauen* gegeben, die auf dem Tahrir Platz \u00fcbernachtet h\u00e4tten. So etwas sei vorher im Irak undenkbar gewesen. Auch queere Organisationen beteiligten sich an den Protesten.
Die Regierung verspricht Neuwahlen
Die Regierung reagierte \u2013 nach dem Vorbild der Niederschlagung der Proteste im November 2019 im Iran (und vermutlich auch auf Rat von Qassem Soleimani) mit einem Internet-Shutdown. Dadurch sollten die Organisierung und die Verbreitung von Videos der brutalen Repression auf den sozialen Media f\u00fcr einige Wochen verhindert werden. Schnelles Internet ist aber auch in normalen Zeiten nur f\u00fcr Reiche im Irak zug\u00e4nglich. Ein Monat langsames W-lan kostet 30 Dollar im Monat, schnelles kostet 100 Dollar. Die Aktivist*innen wussten sich auch so zu organisieren. Ihre Forderungen trugen sie \u2013 neben den sozialen Medien \u2013 in Form von Transparenten, Graffitis, Kundgebungen und Platzbesetzungen auf die Stra\u00dfe.
Vor dem Hintergrund vorgezogener Neuwahlen entschlossen sich einige Protestierende, mit neuen Parteien an den Wahlen teilzunehmen. Das October Uprising hat bisher drei Parteien hervorgebracht: die Bewegung Emtedad (\u201eErweiterung"), die Bewegung Bidaya (\u201eAnfang") und die Bewegung Al bait al Iraqi (\u201eIrakisches Haus"). Weitere Parteien befinden sich noch im Entstehungsprozess. F\u00fcr sie bedeutete das Zugest\u00e4ndnis der Regierung, Neuwahlen vorzuziehen, ein kleiner Sieg. Nach Einsch\u00e4tzung der Aktivist*innen von WAS k\u00f6nnte die Zustimmung zu vorgezogenen Wahlen auch an der Schw\u00e4chung der Protestbewegung liegen: aufgrund der organisatorischen Schw\u00e4che, Corona und der gezielten Ermordungen von Aktivist*innen durch pro-iranische Milizen im Sommer und Herbst 2020 haben viele die Hoffnung verloren.
Doch die meisten Demonstrant*innen lehnen das Vers\u00f6hnungsangebot der Regierung kategorisch ab und kritisieren auch die neuen aus den Protesten entstandenen Parteien f\u00fcr ihre Kompromissbereitschaft, am sektiererischen Machtapparat teilzunehmen. Sie glaubten nicht daran, dass Neuwahlen die f\u00fcr sie notwendigen Verbesserung der Lebensumst\u00e4nde bringen werden. Sie bestehen weiterhin auf einen radikalen Wandel und den Sturz des gesamten irakischen Regimes. Auch WAS schliesst sich dieser Sicht der Dinge an. Sie sehen die Bedingungen, um faire und transparente Wahlen abzuhalten, als nicht erf\u00fcllt. Darum boykottieren sie die Wahlen mit der Begr\u00fcndung, die Ergebnisse w\u00fcrden so oder so bereits feststehen. Die erneute Verschiebung der Neuwahlen von Juli auf Oktober verstimmte jedoch alle Demonstranten und verbreitete das Gef\u00fchl, hingehalten und nicht ernst genommen zu werden. Gut m\u00f6glich, dass es im Vorfeld oder sp\u00e4testens im Nachgang der Neuwahlen im Irak zu einer neuen Protestwelle kommen wird. Auch wenn die Proteste bisher auf politischer Ebene wenig ver\u00e4ndern konnten, haben sie doch mit den Forderungen nach einem S\u00e4kularen Staat, der \u00dcberwindung sektiererischer Gr\u00e4ben und konservativer/tribalistischer Gender-Vorstellungen und den monatelangen Platzbesetzungen eine soziale Revolution angesto\u00dfen, die noch lange nicht zu Ende ist.
Die finanzielle und politische Krise im Irak spitzt sich zu
Den in der irakischen Bev\u00f6lkerung weit verbreiteten Verdacht, dass die irakische Regierung hinter den Terroranschl\u00e4gen vom 21. Januar 2021 stecken k\u00f6nnte, wird auch von WAS geteilt. Man kenne diese Art von \u201eBombenpolitik" aus der Vergangenheit, die von sektiererischen Parteien vor Wahlen oder wichtigen politischen Ereignissen im Irak nach 2003 eingesetzt wurde. \u00dcber diese Politik der Angst w\u00fcrden Parteien die Unterst\u00fctzung der Bev\u00f6lkerung gewinnen. In der Folge des Anschlags in Bagdad sicherten die USA in einer offiziellen Mitteilung durch ihre Botschaft in Bagdad dem Irak \u2013 neben der \u00fcblichen Lieferung von Milit\u00e4rfahrzeugen \u2013 einen erneuten finanziellen Zuschuss in H\u00f6he von 20 Millionen Dollar zu, um das Regierungsviertel (\u201eGreen Zone\u201c) zu sch\u00fctzen. Damit zeigen die USA, dass sie kein Interesse an den Forderungen der Demonstrant*innen haben und das sektiererische Regime in Bagdad beibehalten wollen.
Doch die irakische Regierung befindet sich in einer tiefen finanziellen Krise. Und 20 Millionen US-Dollar sind da nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Die irakische Rentier-\u00d6konomie ist zu 90 Prozent von ihren \u00d6l-Einnahmen abh\u00e4ngig. Nach 2003 vermochte der Irak aufgrund der harten imperial-neoliberalen Gesetzte und den sektiererischen Kriegen keine Industrie und Landwirtschaft wiederaufzubauen, die den Irak von der \u00d6labh\u00e4ngigkeit entlastet h\u00e4tte. Der \u00d6lpreiszerfall seit 2020 st\u00fcrzte den Irak dann in eine tiefe Finanzierungskrise. Zus\u00e4tzlich zu alles durchdringenden Korruption und den hohen irakischen Staatsschulden bei der Weltbank, ger\u00e4t die irakische Regierung an den Rand eines finanziellen Kollapses. So hat sie in der Region Kurdistan mehr als 6 Monate und im restlichen Irak mehr als zwei Monate lang keine Geh\u00e4lter mehr ausgezahlt. Das versch\u00e4rft den Unmut und die Not in der Bev\u00f6lkerung massiv und hat langfristige katastrophale Auswirkungen auf die unteren Klassen der Gesellschaft.
So kam es zu Beginn 2021 erneut zu Protesten \u2013 diesmal vor allem in der autonomen Region Kurdistan. Die Proteste wurden von der kurdischen Regierung mit scharfer Munition schnell niedergeschlagen. Die Regierung hat dann einen Kredit beim Internationalen W\u00e4hrungsfonds aufgenommen, um die Gehaltszahlung f\u00fcr ein Jahr sicherzustellen. Zudem senkte die Regierung den Kurs des irakischen Dinars im Verh\u00e4ltnis zum US-Dollar, um mehr Geld f\u00fcr die Auszahlung der Geh\u00e4lter zu haben. 2019 entsprachen 100 US Dollar noch 120.000 irakischen Dinar. Heute sind es 145.000 Dinar und es wird erwartet, dass sich der W\u00e4hrungszerfall im Laufe des Jahres weiter zuspitzt. Die Preise f\u00fcr Gem\u00fcse, Obst und andere Waren, die der Irak aus dem Ausland importiert, sind dadurch drastisch gestiegen. Arbeiter*innen, insbesondere diejenigen, deren Einkommen zwischen 8 und 5 Dollar pro Tag liegt, Arbeitslosen und Staatsangestellte verlieren durch dieses Fiskalpolitik Geld und kommen in existenzielle Not.
Internationale Solidarit\u00e4t \u2013 auch mit dem irakischen Klassenkampf
Aus all diesen Gr\u00fcnden ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis die n\u00e4chste Protestwelle ausbrechen wird. Es ist aber zu erwarten, dass nicht nur die Protestierenden dazugelernt haben, sondern auch die konterrevolution\u00e4ren Kr\u00e4fte (u.a. die Sadristen) und die Repressionsapparate. Doch der jungen Generation fehlt es nach wie vor an Perspektive, an Jobs und an Selbstbestimmung. In den Protesten 2019/20 hat sie \u2013 trotz Repression \u2013 an Selbstvertrauen und Radikalit\u00e4t gewonnen. Angesichts der politischen und \u00f6konomischen Krise, in die das Land schlittert, wird der Kampf um eine bessere Zukunft noch einige Runden dauern.
Gegenw\u00e4rtig wird hier viel geschrieben zum 10-j\u00e4hrigen Geburtstag der sogenannten \u201earabischen Revolutionen". Auch im Irak gab es 2011 Proteste. Doch der Irak wurde schon damals f\u00e4lschlicherweise als ein Land wahrgenommen, das \u2013 zwar tragischerweise durch eine Invasion, aber dennoch \u2013 bereits 2003 \u201evom Diktator befreit\u201c worden sei. Die darauffolgende sektiererische Gewalt wurde hierzulande \u00fcberwiegend als vom Irak selbstverschuldet angesehen und eine breite, anhaltende Solidarisierung mit den linken K\u00e4mpfen im Irak blieb verhalten. Der Diskurs des \u201earabischen Fr\u00fchlings" war zu dieser Zeit vor allem ein politischer Diskurs im Sinne \u201edas Volk gegen den b\u00f6sen Diktator". In dieser Perspektive l\u00e4sst sich der Irak zu leicht abhacken. Nimmt man allerdings die \u00f6konomische und soziale Lage dieser L\u00e4nder in den Blick, gibt es viele Gemeinsamkeiten mit den anderen arabischen L\u00e4ndern, die einen \u201earabischen Fr\u00fchling" durchgemacht haben. Gerade, wenn man 10 Jahre sp\u00e4ter dar\u00fcber nachdenkt. Die US-Invasion hat die Lebensbedingungen der Iraker*innen nicht verbessert. Die Menschen haben immer noch existenzielle sozio-\u00f6konomische Probleme, die jenen in \u00c4gypten, Tunesien oder Syrien gleichen.
Die Proteste 2019/20 im Irak dr\u00fcckten ihre Solidarit\u00e4t gegen\u00fcber den gleichzeitig stattfindenden Protesten im Iran, im Libanon und in Hong Kong aus. Nicht immer war der Irak so verbunden mit dem Rest der (\u201earabischen") Welt. Das scheint sich allm\u00e4hlich zu \u00e4ndern, meinen die Aktivist*innen von WAS. Die Protestierenden im Irak w\u00fcrden mehr und mehr wahrnehmen, dass sie zu einem gemeinsamen geopolitischen Raum geh\u00f6ren, in dem verschiedene L\u00e4nder mit \u00e4hnlichen Problemen k\u00e4mpfen. Probleme, die verursacht wurden durch Neoliberalismus, Korruption, repressive Regierungen, fehlende Infrastruktur, hohe Arbeitslosigkeit und einer schwierigen bzw. stark vom westlichen Kapital abh\u00e4ngigen Wirtschaft. WAS haben sich neben der Organisation von arbeitslosen Jugendlichen ebendiesen Aufbau eines internationalen Solidarit\u00e4tsnetzwerks auf die Fahne geschrieben. Die Gruppe entstand im Oktober 2019, sie ist also \u2013 wie viele andere politische Gruppen \u2013 ein Kind des October Uprisings.
Es ist wichtig, die klassenk\u00e4mpferische Linke im Irak auch hier wieder mehr in den Fokus zu bekommen. Der Irak ist zu einem geostrategischen und \u00f6konomischen Schlachtfeld geworden zwischen imperialen M\u00e4chten. Aus der Distanz droht die Bev\u00f6lkerung vor dem Hintergrund der Kritik am Imperialismus vergessen zu gehen. Darum ist es wichtig, als kl\u00e4ssenk\u00e4mpferische Linke, wieder in einen Dialog zu kommen, der seit Jahren abgebrochen zu sein scheint. Um zu verstehen, welche Solidarit\u00e4t hier f\u00fcr die K\u00e4mpfe dort wichtig ist, m\u00fcssen wir im Austausch die gegenseitigen politischen Projekte und M\u00f6glichkeiten kennen lernen. Umso wichtiger ist es, mit klassenk\u00e4mpferischen linken Organisationen und Aktivist*innen vor Ort Kontakt aufzunehmen und zusammen zu wachsen. Eine andere M\u00f6glichkeit ist eine gr\u00f6ssere Anteilnahme der deutschen ausserparlamentarischen Linken an den zahlreichen Initiativen und Projekten der irakischen Diaspora in Deutschland.
Es bleibt nur die revolution\u00e4re Option
Die Corona-Einschr\u00e4nkungen haben auch die irakische Protestbewegung seit letztem Sommer lahmgelegt. Doch die \u00f6konomische und politische Situation hat sich in dieser Zeit eher verschlechtert und \u00fcber die sozialen Media wird bereits f\u00fcr n\u00e4chste Proteste motiviert. In Bezug auf die Wahlen bleibt die Protestbewegung gespalten. Heute befinden sich viele Iraker*innen laut den Aktivist*innen von WAS wegen dieses Konflikts zwischen den beiden imperialen M\u00e4chten USA und Iran in einem Zustand der Panik. Sie wollen einen Irak ohne Gewalt und beschw\u00f6ren auch eine gewaltlose Protestform. Die vorgezogenen Neuwahlen haben eine Spaltung unter den Demonstrant*innen hervorgerufen. F\u00fcr die klassenk\u00e4mpferische Bewegung WAS, die sich ebenso gegen die USA als auch den Iran wendet, gibt es zwei m\u00f6gliche Wege f\u00fcr einen politischen Wandel im Irak.
Der erste Weg w\u00e4re f\u00fcr sie die revolution\u00e4re Option: die popularen Massen in den Wohngebieten und an den Arbeitspl\u00e4tzen zu organisieren und dadurch eine politische Partei mit einer Massenbasis zu bilden, durch die sie die politische Macht ergreifen und die neue irakische Republik errichten kann.
Der zweite Weg w\u00e4re der demokratische Weg: die Bildung einer politischen Partei durch Demonstrant*innen. Diese Partei k\u00f6nnte dann die Bedingungen f\u00fcr die Teilnahme an den Wahlen festlegen, zum Beispiel: 1. L\u00f6sen Sie alle Milizen auf. 2. Ein Prozess f\u00fcr die M\u00f6rder der Demonstrant*innen. 3. Internationaler Schutz und \u00dcberwachung der Wahlen. 4. Ein faires Wahlgesetz. 5. Ein faires Parteiengesetz. 6. Faire Finanz- und Medienfinanzierung zwischen den Parteien f\u00fcr den Wahlkampf.
Dass die Regierung auf diese Forderungen eingehen wird und tats\u00e4chlich eine Situation erschaffen kann, unter denen faire Wahlen stattfinden k\u00f6nnen, bezweifeln die Aktivist*innen von WAS. Daher bleibt f\u00fcr sie nur der Boykott der Wahlen und eine Revolution die einzige Option f\u00fcr die irakische Gesellschaft, sich von diesem modernden, korrupten und sektiererischen System zu befreien.
Anmerkungen
[1] Die Basis-Organisation Workers Against Sectarianism ist ein 2019 gegr\u00fcndeter Zusammenschluss junger, arbeitsloser Menschen in verschiedenen St\u00e4dten und Regionen des Irak (inklusive der autonomen Region Kurdistan/Irak). Sie organisieren sich, um gegen Arbeitslosigkeit, gegen Sektierertum, Korruption und f\u00fcr eine revolution\u00e4re Perspektive im Irak zu k\u00e4mpfen. Dabei sprechen sie sich ebenso gegen den Einfluss des Irans wie auch jener der USA im Irak aus. Sie versuchen, eine Perspektive von unten auf die Proteste im Land zu geben und ein internationales Solidarit\u00e4tsnetzwerk von Aktivist*innen aufzubauen. Sie geh\u00f6ren zur klassenk\u00e4mpferischen Linken im Irak.
[2] Sadr-Bewegung: Ist eine irakische islamistisch nationale Bewegung um den Kleriker Muqtada al Sadr. Die schiitische religi\u00f6s-populistische Bewegung mit engen Verbindungen zum Iran hat eine breite Unterst\u00fctzung in der jungen schiitischen Bev\u00f6lkerung im Iraker. Ihr Ziel ist eine durch eine Kombination von religi\u00f6sen Gesetzen und Stammesbr\u00e4uchen geordnete Gesellschaft. 2018 gelang es ihnen, sich zur Stimme der Stra\u00dfenproteste aufzuschwingen. Darauf erzielten sie in der Koalition mit u.a. der Kommunistischen Partei den Sieg in den Parlamentswahlen. In den Protesten 2019 war die \u201eMahdi-Armee", eine von Sadrs Vater begr\u00fcndete paramilit\u00e4rische Streitkraft, als konterrevolution\u00e4re Kraft an der Repression der Proteste beteiligt, nachdem es der Sadr-Bewegung nicht gelungen ist, die Proteste 2019/20 f\u00fcr sich zu instrumentalisieren.
[3] Sektiererisches Parteiensystem: Die Verfassung von 2005 bindet gewisse politischen \u00c4mter im Irak an konfessionelle Zugeh\u00f6rigkeiten. Dies ging aus einem ethno-konfessionellen, und f\u00f6deralistischen Post-Invasions-Plan der USA (u.a. Joe Biden) f\u00fcr den Irak hervor. Ziel war es, ein konfessionelles Gleichgewicht zu schaffen, indem man den jahrzehntelang unterdr\u00fcckten Schiiten den m\u00e4chtigsten Posten des Ministerpr\u00e4sidenten gab. Die Kurden bekamen das Amt des Staatspr\u00e4sidenten und die Sunniten bekamen vor dem Hintergrund einer Entbaathisierung den eher symbolischen Posten des Parlamentssprechers. Aufgrund des nach wie vor bestehenden riesigen Beamtenapparats als einem der immer noch wichtigsten Arbeitgeber im Irak, entstand vor diesem Hintergrund ein korrupter Klientelismus.