\u201eVor der Gr\u00fcndung der Gewerkschaft waren wir unsichtbar. Jetzt sind wir das nicht mehr.\u201c
\nLola Villanova [revolt]: In Barcelona sind die Stra\u00dfenh\u00e4ndler*innen, sogenannte \u201eManteros\u201c, \u00fcberall in der \u00d6ffentlichkeit anzutreffen. Was bedeutet das Projekt der Gewerkschaft der Stra\u00dfenh\u00e4ndler*innen?
Daouda Dieye: Das Sindicato Popular de Vendedores Ambulantes de Barcelona (Gewerkschaft der fliegenden Stra\u00dfenh\u00e4ndler*innen in Barcelona \u2013 Anm. LV) entstand mit dem Ziel, f\u00fcr die Rechte von illegalisierten Menschen und Menschen mit prek\u00e4rem Aufenthaltsstatus zu k\u00e4mpfen. [1] Die Mitbegr\u00fcnder*innen der Gewerkschaft hatten zum Zeitpunkt der Gr\u00fcndung keine Papiere und keine Rechte. Die Polizei hat uns t\u00e4glich auf den Stra\u00dfen verfolgt. Das war der Kontext, in dem wir die Gewerkschaft gegr\u00fcndet haben, um B\u00fcrgerrechte, das Recht auf Arbeit und das Recht auf Freiz\u00fcgigkeit zu verteidigen. Das ist selbstredend ein politisches Projekt. Au\u00dferdem sind wir zu einer Anlaufstelle f\u00fcr illegalisierte Menschen geworden, die in der Stadt ankommen. Wir zeigen ihnen: ihr seid nicht alleine.
Die Stra\u00dfenh\u00e4ndler*innen aus Barcelona waren die ersten im spanischen Staat, die sich organisiert haben. Im vergangenen Oktober habt ihr euren f\u00fcnften Gr\u00fcndungstag gefeiert. Wie war die Reaktion der \u00d6ffentlichkeit auf eure Gr\u00fcndung im Jahr 2015?
Die Nachbar*innen haben uns mit viel Liebe aufgenommen. Au\u00dferdem haben viele Aktivist*innen aus Barcelona von Anfang an mit uns zusammengearbeitet, vor allem aus dem Stadtteil El Raval. Die Mehrheit der Kollektive im Kiez haben uns seit unserer Gr\u00fcndung bis heute unterst\u00fctzt. Wir haben uns im Kampf nie alleine gef\u00fchlt. Organisationen wie SOS Racisme, Tras La Manta und viele andere stehen an unserer Seite und laden uns zu Veranstaltungen und politischen Diskussionen ein. Vor der Gr\u00fcndung der Gewerkschaft waren wir unsichtbar. Jetzt sind wir das nicht mehr. Wir erkl\u00e4ren in der \u00d6ffentlichkeit und in den Medien wer wir sind und wof\u00fcr wir k\u00e4mpfen. Das ist sehr wichtig f\u00fcr uns, da wir von der institutionellen Politik oft als Sicherheitsproblem dargestellt werden. Dabei haben das kapitalistische System und die globale Ausbeutung dazu gef\u00fchrt, dass unsere Herkunftsl\u00e4nder zerst\u00f6rt werden und wir zum \u00dcberleben hierherkommen m\u00fcssen.
Du hast vorhin die polizeiliche Repression erw\u00e4hnt, die die Stra\u00dfenh\u00e4ndler*innen erleiden. Wie nehmt ihr den institutionellen Rassismus in Spanien wahr und wie kann dieser bek\u00e4mpft werden?
In den letzten Jahren und u.a. durch den Aufschwung der rechtsradikalen Partei VOX habe ich den Eindruck, dass der institutionelle Rassismus in Spanien nicht mehr so stark verborgen ist. Das ist etwas, wof\u00fcr wir auch seit langem k\u00e4mpfen: Zu zeigen, dass es in Spanien einen strukturellen und institutionellen Rassismus gibt. Den sozialen Rassismus k\u00f6nnen wir \u00fcberstehen. [4] Wenn wir auf der Stra\u00dfe z.B. wegen unserer Hautfarbe beleidigt werden oder uns gesagt wird, dass wir zur\u00fcck in unser Land sollen, k\u00f6nnen wir uns in solchen Situationen entscheiden, ob wir uns mit der Person auseinandersetzen m\u00f6chten oder nicht. Aber bei institutionellem Rassismus handelt es sich um den Rassismus der M\u00e4chtigen. Es ist schrecklich, dass er f\u00fcr viele B\u00fcrger*innen solange verborgen geblieben ist. Wenn Rassismus ein Baum w\u00e4re, w\u00e4re der soziale Rassismus die Bl\u00e4tter des Baumes. Mit der Zeit k\u00f6nnen die Bl\u00e4tter vertrocknen, wenn die Menschen z.B. damit konfrontiert werden, dass Rassismus und Vorurteile gegen\u00fcber Migrant*innen falsch sind. Aber der institutionelle Rassismus sind die Wurzeln des Baums, er ist tief verfestigt und schwer zu bek\u00e4mpfen. Wir werden von Teilen der Politik oft als Rebellen bezeichnet. Wenn sie uns so nennen, hei\u00dft das, dass wir es bis zur Wurzel des Baums geschafft haben. Seit unserer Gr\u00fcndung wussten wir, dass unser wichtigster Feind der institutionelle Rassismus ist, der u.a. durch das Ausl\u00e4ndergesetz (Ley de Estranger\u00eda) und die CIEs (staatliche Aufnahmelager \u2013 Anm. LV) (re-)produziert wird. [2]
Wenn wir in Europa ankommen wird uns gesagt, dass wir illegal sind. Die Tatsache ist, dass es keine illegalen Menschen gibt. Ich bin in einem Krankenhaus geboren, ich habe eine Geburtsurkunde, ich habe einen Namen, ich habe eine Identifikation. Warum bin ich illegal? Was unterscheidet mich in diesem Sinne von Europ\u00e4er*innen? Wenn die Manteros in Spanien ankommen, haben sie keinen Wohnsitz. Aber wir sind nicht illegal. VOX hat einen sehr harten Narrativ gegen sogenannte \u201eillegale Migrant*innen\u201c und dies tr\u00e4gt dazu bei, den strukturellen und institutionellen Rassismus in Spanien, der bisher eher verborgen blieb, aufzudecken und offensichtlicher zu machen. Auf irgendeine Weise freuen wir uns, dass das so ist, und dass viele Menschen endlich gemerkt haben, dass es auch in Spanien einen heftigen Rassismus gibt.
Wie sieht der Alltag eines Manteros aus?
Ein Mantero verl\u00e4sst morgens seine Wohnung und wei\u00df nicht, ob er zur\u00fcckkommen wird. Es handelt sich um Personen, die sich jeden morgen fragen, ob sie an dem Tag ihre Ware verkaufen oder verlieren werden. Das ist der Alltag der Stra\u00dfenh\u00e4ndler*innen. Als ich als Mantero arbeitete, sagte ich zu meinen Genoss*innen: Wenn ich abends nicht wieder daheim bin, braucht ihr mich nicht suchen. Ich werde im Polizeirevier sein. Manteros setzen jeden Tag ihr Leben aufs Spiel. Vielleicht verlierst du deine Ware, vielleicht verletzt du dich, wenn du versuchst vor der Polizei zu fliehen, vielleicht endest du an diesem Tag in der Zelle. Einige H\u00e4ndler*innen und Gewerbevereine sagen, dass wir einen unlauteren Wettbewerb f\u00fchren. Ich frage mich, wie sie von Konkurrenz reden k\u00f6nnen. Sie gehen jeden Tag mit Sicherheit und Ruhe arbeiten, mit Arbeitsrechten und Krankenversicherung und am Ende des Monats haben sie einen Lohn. Das sieht f\u00fcr uns ganz anders aus. Manteros setzen t\u00e4glich ihr Leben aufs Spiel und riskieren sogar abgeschoben zu werden.
Wie ist die arbeitsrechtliche Situation der Manteros und warum ist es so schwierig f\u00fcr sie, in Spanien legal zu arbeiten?
Das spanische Gesetz sagt, dass eine Person, die illegal in Spanien einreist, erst nach drei Jahren Aufenthalt die Papiere f\u00fcr eine Arbeitserlaubnis beantragen kann. W\u00e4hrend diesen drei Jahren darfst du weder arbeiten noch studieren, du darfst nichts machen. Wovon soll man drei Jahre lang leben? Soll man stehlen? Das ist der Grund, warum wir, als wir angekommen sind, Produkte gekauft haben, um sie auf der Stra\u00dfe zu verkaufen. Manteros m\u00fcssen drei Jahre unter diesen Bedingungen durchhalten, um \u00fcberhaupt die M\u00f6glichkeit zu haben, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Aber das reicht allein nicht. Um die Arbeitserlaubnis nach drei Jahren beantragen zu k\u00f6nnen, muss man auch nachweisen, dass ein Arbeitsangebot mit einem mindestens einj\u00e4hrigen Vertrag vorliegt. [3] Das ist unsere Realit\u00e4t und die Situation, in der wir uns politisch organisieren.
Wie hat sich der Alltag der Manteros und der Gewerkschaft durch die COVID-19-Pandemie ver\u00e4ndert?
Die Pandemie trifft uns hart. W\u00e4hrend des Lockdowns in Spanien durften Manteros aufgrund der Ausgangssperre nicht auf die Stra\u00dfe und konnten so nichts verkaufen. Sie bekamen als Illegalisierte nat\u00fcrlich keine Hilfen vom Staat. Viele hatten weder Geld f\u00fcr Essen noch konnten sie ihre Familien in den Herkunftsl\u00e4ndern finanziell unterst\u00fctzen. Als die Pandemie anfing haben wir als Gewerkschaft eine Lebensmittelbank eingerichtet und Essen an Stra\u00dfenh\u00e4ndler*innen in Barcelona verteilt. Wir haben das Projekt durch Spenden finanziert. Au\u00dferdem haben zwanzig Manteros Masken und Kittel gen\u00e4ht. Diese haben wir in den Krankenh\u00e4usern verteilt. Diese Menschen, die sich w\u00e4hrend der Pandemie engagiert haben, sind dieselben die vor der Pandemie von der Polizei auf den Stra\u00dfen der Stadt verfolgt wurden.
Innerhalb der Gewerkschaft habt ihr ebenfalls den solidarischen Laden Top Manta aufgebaut, wo ihr politische T-Shirts designt und herstellt. Eines der letzten Designs tr\u00e4gt den Slogan \u201eMein Traum war nicht Mantero zu sein. Ich bin Fischer\u201c. Was steckt dahinter?
Die EU schloss ein Fischereiabkommen mit Senegal ab, dass den europ\u00e4ischen Industrieschiffen den Fischfang an der senegalesischen K\u00fcste erm\u00f6glicht. Die Fischer*innen in Senegal haben nun keine Arbeit mehr. Sie k\u00f6nnen mit den europ\u00e4ischen Industrieschiffen nicht konkurrieren und haben kaum noch Fisch, weder zum Essen noch zum Verkaufen. Sie nehmen uns die Ressourcen weg. Was soll man dann machen? Wir k\u00f6nnen nicht in einer Ecke sitzenbleiben und warten. Viele Manteros in Barcelona waren fr\u00fcher auch Fischer*innen. Unser Traum war, Geld durch unseren Beruf in unseren Herkunftsl\u00e4ndern zu verdienen. Auch die, die die Masken und Kittel gen\u00e4ht haben: Sie sind Schneider*innen und hatten nicht vor, auf der Stra\u00dfe zu verkaufen. Das sind die Konsequenzen der Globalisierung. Uns werden Ressourcen weggenommen, unsere Herkunftsl\u00e4nder werden ausgebeutet, danach kommen wir nach Spanien und wir werden als illegale Menschen eingestuft. Im Hafen von Arguineguin auf den Kanaren kamen in den letzten Monaten zahlreiche Cayucos an ( Cayucos sind einfache Holzboote, die oft von Migrant*innen f\u00fcr die Flucht nach Europa genutzt werden \u2013 Anm. LV). Viele junge Leute haben in ihren Herkunftsl\u00e4ndern keine Zukunft und kommen daher nach Europa. Die Medien zeigen in der Regel die Bilder der Migrant*innen, wenn sie ankommen und vom Roten Kreuz behandelt werden, aber selten was danach passiert. Ich bin selbst 2006 auf den Kanaren angekommen und wurde danach 40 Tage in einem CIE aufgehalten, ohne zu wissen, was danach passieren w\u00fcrde, ob ich auf freiem Fu\u00df gesetzt oder abgeschoben werde. Das war hart.
Wie ist eure Beziehung zur institutionellen Politik? Habt ihr als Gewerkschaft auf lokaler Ebene Einfluss gehabt oder euch am Prozess der Entscheidungsfindung beteiligen k\u00f6nnen?
Die, die an der Macht sind, sind Cham\u00e4leons. Sie \u00e4ndern ihre Farbe st\u00e4ndig. Auf die kannst du dich nicht verlassen. Wir haben oft mit lokalen Institutionen gesprochen, wir haben mehrmals \u00fcber die Situation der Stra\u00dfenh\u00e4ndler*innen verhandelt. Es war immer sehr schwierig. Wir fordern in erster Linie das Recht auf Arbeit und das war auch der Grund, warum wir unseren eigenen Laden gegr\u00fcndet haben, um T-Shirts zu verkaufen und unabh\u00e4ngig zu sein. Politiker*innen haben uns nie geholfen und werden das auch nie tun.
Zum Abschluss einen Blick in die Zukunft: Was sind eure n\u00e4chsten Ziele und geplante Aktionen?
In den n\u00e4chsten Monaten m\u00f6chten wir in unserem Laden mit der Produktion von Schuhen anfangen. Auf politischer Ebene werden wir f\u00fcr die Legalisierung der Menschen und f\u00fcr das Recht auf w\u00fcrdige Arbeitsverh\u00e4ltnisse weiterk\u00e4mpfen.
Anmerkungen:
[1] Stra\u00dfenh\u00e4ndler*innen verkaufen ihre Produkte meistens auf gro\u00dfen, ausgebreiteten Decken, die sie auf die Stra\u00dfen legen. Wegen ihrer Decke \u2013 auf Spanisch \u201emanta\u201c \u2013 werden sie \u201eManteros\u201c genannt. Das ist nicht nur eine umgangssprachliche, sondern auch eine Selbstbezeichnung der Gruppe.
[2] Die Centros de Internamiento de Extranjeros (CIE) sind Aufnahmelager f\u00fcr Migrant*innen, die in Spanien illegal einreisen. Die Migrant*innen leben dort in unw\u00fcrdigen Verh\u00e4ltnissen und erfahren Diskriminierung und Rassismus. Politische Initiativen k\u00e4mpfen seit Jahren f\u00fcr die Schlie\u00dfung dieser Lager, in denen nicht selten Menschenrechte verletzt werden.
[3] Diese Art der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis hie\u00dft \u201earraigo social\u201c.
[4] Mit \u201esozialem Rassismus\u201c sind hier rassistische Ausf\u00e4lle von Individuen der Gesellschaft gemeint.