Ein staatlich gef\u00f6rderter Feminizid: Das Beispiel Mariana
\nDer nachfolgende Artikel erscheint in Kooperation mit dem Frauen*Streik-Komitee Wedding.
In Mexiko sterben Frauen*, die von M\u00e4nnern ermordet werden einen zweiten Tod durch die juristischen Institutionen. Heute tr\u00e4gt die politische Emp\u00f6rung \u00fcber diese Zust\u00e4nde den Namen einer weiteren Frau: Mariana S\u00e1nchez D\u00e1valos. In ihrem Fall spiegelt sich deutlich die Ungerechtigkeit, unterlassene Hilfeleistung und Grausamkeit, die der Staat und seine Institutionen an den K\u00f6rpern von Betroffenen sexueller Gewalt und Feminiziden ver\u00fcben.
Laut Artikel 325 des Strafgesetzbuches muss jede Frau*, die unter folgenden Umst\u00e4nden zu Tode gekommen ist, als Fall eines Feminizid verhandelt werden: (1) Das Opfer weist Anzeichen von sexueller Gewalt auf; (2) Es gibt eine Vorgeschichte unabh\u00e4ngig von der Art der Gewalt seitens des T\u00e4ters; (3) Es existierte eine emotionale oder vertrauensvolle Beziehung zwischen Opfer und T\u00e4ter; (4) Es gibt Hinweise darauf, dass der T\u00e4ter das Opfer zuvor bedrohte, \u00dcbergriffe oder Vergewaltigung beging; (5) Das Opfer wurde seiner Freiheit beraubt; (6) Der K\u00f6rper des Opfers wurde \u00f6ffentlich zur Schau gestellt. Im Falle einer Verurteilung erwarten den T\u00e4ter zwischen 40 und 70 Jahre Haft. Jede*r mit dem Fall befasste Angestellte des \u00f6ffentlichen Dienstes muss mit bis zu 8 Jahren rechnen, sollte er unzul\u00e4ssigerweise Material zum Fall ver\u00f6ffentlichen oder Ermittlungen behindern.
Ein exemplarischer Fall staatlichen Vertuschens
Die 24-j\u00e4hrige Mariana S\u00e1nchez D\u00e1valos studierte Medizin an der Universidad Aut\u00f3noma de Chiapas (UNACH - deutsch: Freie Universit\u00e4t Chiapas\u2019). Sie absolvierte zum Zeitpunkt ihres Todes das Anerkennungsjahr im \u00f6ffentlichen Krankenhaus der Gemeinde Nueva Palestina (deutsch: Neues Pal\u00e4stina) im Landkreis Ocosingo, Chiapas. Mariana wurde am 28. Januar erh\u00e4ngt in ihrem Studierendenzimmer aufgefunden. Die Todesursache war laut chiapanesischer Staatsanwaltschaft: Erstickung durch Erh\u00e4ngen, da der K\u00f6rper keine weiteren Anzeichen von Gewaltaus\u00fcbung aufwies, obwohl die Mutter Marianas das Gegenteil zu Protokoll gab.
So nahm die chiapanesische Staatsanwaltschaft ohne weitere Untersuchung trotz der Tatsache, dass der Fall mehrere Voraussetzungen zur Untersuchung als Feminizid erf\u00fcllt, einen Suizid an. Und dass obwohl Mariana bereits sechs Monate vor ihrem Tod sexuellen Missbrauch durch einen Kollegen am Krankenhauses erfuhr. Sie hatte zwei Monate zuvor Strafanzeige wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihn gestellt und meldete den Fall auch an ihrer Universit\u00e4t, um Hilfe zu erhalten. Dar\u00fcber hinaus bat sie um Schutz durch das Gesundheitsamt mit einer Versetzung in eine andere Gemeinde.
Vergebens. Von allen drei genannten Institutionen zog nicht auch nur eine auf Basis einer geschlechtsorientierten Perspektive Konsequenzen. Das Gesundheitsamt gab dem Antrag auf Versetzung nicht statt, sondern genehmigte Mariana einen Monat \u201eUrlaub\u201d, allerdings ohne Fortzahlung des Praktikant*innengehalts. Nachtr\u00e4glich wurde sie erneut verpflichtet in der gleichen Gemeinde das Anerkennungsjahr zu absolvieren. Die Staatsanwaltschaft \u00e4scherte nach der Obduktion den K\u00f6rper von Mariana ein, und zwar ohne Erlaubnis der Familie. Das verstie\u00df nicht nur gegen die Menschenrechte des Opfers und der Familie, sondern verunm\u00f6glichte eine nachtr\u00e4gliche Untersuchung als Feminizid. Angesichts der vorliegenden Hinweise seitens der Mutter, der Recherchen feministischer Kollektive und Aussagen ihrer Studierendenkolleg*innen kann davon ausgegangen werden, dass es sich hier nicht um einen Suizid, sondern um einen staatlich beg\u00fcnstigten Frauen*mord handelt.
Ein Staat gegen sein eigenes Gesetz
Der Staat, das hei\u00dft in diesem Fall die chiapanesische Staatsanwaltschaft, die Freie Universit\u00e4t und das Gesundheitsamt sind mitverantwortlich f\u00fcr diesen Frauen*mord, weil sie wegschauten, als sich eine vergewaltigte Studentin an sie wandte. Nicht nur handelten sie gegen das Gesetz, sie verpflichteten sie auch an den Arbeitsplatz ihres Vergewaltigers zur\u00fcckzukehren. Der Vergewaltiger, der bereits durch Aussagen der Mutter Marianas identifiziert werden konnte, nahm ihr das Leben. Aber der Staat und seine Institutionen verurteilten sie zum Tode durch unterlassene Hilfeleistung.
Bedingt durch den seit vergangener Woche anschwellenden \u00f6ffentlichen Druck in der nationalen und internationalen Presse, und im Besonderen in Chiapas, entschied sich die Staatsanwaltschaft bereits, es in Betracht zu ziehen, den Fall nun doch als Feminizid zu untersuchen. Nur ohne untersuchbare Leiche, werden sie den Fall schnell unter den Teppich kehren k\u00f6nnen, wie sie es bereits in anderen F\u00e4llen getan haben. Die Geschichte wiederholt sich, die Ungerechtigkeit in Chiapas bleibt und tr\u00e4gt zahlreiche Namen von ermordeten Frauen* und Kindern, die allesamt Opfern von Feminiziden sind. Namen wie Lissette Paulina G\u00f3mez Zenteno, Jade Guadalupe Yuing G\u00f3mez, Miryana Iveth Salda\u00f1a Castillo stehen, ebenso wie Mariana f\u00fcr Feminizide, die trotz der Tatsache, dass sie den gesetzlichen Voraussetzungen entsprachen, nie als Feminizide untersucht wurden. Auch hier schloss die chiapanesische Staatsanwaltschaft den Fall mit der Einstufung als \u201eSuizid\u201d und kehrte ihn damit unter den Teppich.
Nur der Widerstand garantiert die Gerechtigkeit
Die staatliche Straflosigkeit geht weiter. Nur wenn die Angeh\u00f6rigen sich organisierten und k\u00e4mpften, konnten in der Vergangenheit F\u00e4lle als Feminizide untersucht und verhandelt, T\u00e4ter verfolgt und bestraft werden. Doch selbst dann, wenn der T\u00e4ter tats\u00e4chlich bestraft wird, findet sich im Zuge der Haft oftmals ein Richter, der ihn vorzeitig entl\u00e4sst \u2013 angeblich aus \u201eMangel an Beweisen\u201d. In Chiapas, wie auch im Rest des Landes, herrschen Ungerechtigkeit und Straflosigkeit in den Institutionen, die den Schutz von Betroffenen von sexueller Gewalt garantieren sollten. Es existiert in Mexiko kein Rechtsstaat f\u00fcr Frauen*.
Die Student*innen verschiedener Fakult\u00e4ten der Freien Universit\u00e4t Chiapas\u2019 f\u00fchren zur Zeit eine Bestreikung des Online-Unterrichts durch. Zugleich mobilisieren sie unter dem Motto \u201eJusticia y Destituci\u00f3n de los Directivos!\u201c (deutsch: \u201eGerechtigkeit und R\u00fccktritt der Verantwortlichen!\u201c) auf die Stra\u00dfen zu Kundgebungen und Demonstrationsz\u00fcgen. Ihre Forderung: Dass Mariana Gerechtigkeit widerf\u00e4hrt. F\u00fcr die Mutter Marianas f\u00e4ngt nun die H\u00f6lle staatlicher Repression erst richtig an, die staatliche Organe regelm\u00e4\u00dfig gegen Familienangeh\u00f6rige aus\u00fcben, die sich organisieren und Gerechtigkeit verlangen. Vor einigen Tagen meldete sich die Universit\u00e4tsleitung mit einer Pressekonferenz zu Wort und verk\u00fcndete ihre Bereitschaft, zur Aufkl\u00e4rung des Falles beizutragen. Das Gleiche ist nun vom verantwortlichen Gesundheitsamt zu vernehmen. Aber es sind diese Institutionen, die sich heute als gel\u00e4utert pr\u00e4sentieren und ihren Ruf wahren wollen, die den Tod von Mariana mit zu verantworten haben. Unterlassene Hilfeleistung t\u00f6tet \u2013 als staatlich gef\u00f6rderter Feminizid.