Migrantifa 2020
\nHeute ist der rechte Terroranschlag in Hanau etwas l\u00e4nger als zehn Monate her. Viele Migrantifas haben sich nach dem 19. Februar zusammengefunden, um migrantischen Selbstschutz zu organisieren und auf die bestehenden faschistischen Kontinuit\u00e4ten in der BRD aufmerksam zu machen.
Etwas mehr als zehn Monate nach Hanau blicken wir zur\u00fcck auf zahlreiche weitere rechte \u201eEinzelt\u00e4ter\u201c und \u201eEinzelf\u00e4lle\u201c, Rufe nach einer \u201eNormalisierung\u201c des Alltags, eine verhinderte Studie zu rechtsextremen und rassistischen Strukturen innerhalb der Polizei und zuletzt auf die Verabschiedung von 89 zweifelhaften Ma\u00dfnahmen, die ein \u201eklares Signal gegen Rechtsextremismus und Rassismus\u201c setzen sollen. Wir blicken aber auch zur\u00fcck auf zehn Monate Selbstorganisierung von Migrant*innen beziehungsweise Migrantisierten, die sich selbstbewusst ihren Platz in der radikalen Linken nehmen.
Viel ist passiert. Wir wollen nun eine Zwischenbilanz ziehen, um den Blick f\u00fcr den weiteren Kampf zu sch\u00e4rfen.
Bestandsaufnahme
\u00dcber den Sommer sind in vielen verschiedenen St\u00e4dten Migrantifa Gruppen entstanden, deren Praxis gemeinsame \u00dcberschneidungspunkte, aber auch Unterschiede aufweisen.
In Berlin haben wir uns einerseits auf die Notwendigkeit eines migrantischen Antifaschismus und andererseits auf die rechten Strukturen innerhalb der Berliner Polizei fokussiert. Nach den gro\u00dfen Black Lives Matter Protesten im Juni gab es massive polizeiliche \u00dcbergriffe auf migrantisierte und migrantische Menschen, woraufhin Migrantifa Berlin konkrete Unterst\u00fctzungsarbeit f\u00fcr die Betroffenen leistete. Im Juli mussten wir um den Tod Ferhat Mayoufs in der JVA Moabit trauern, der aufgrund verweigerter Hilfeleistung seitens der Gef\u00e4ngnisw\u00e4rter in seiner Zelle verbrannte. Weiter machten wir auf den Fall E. Valientes aufmerksam, der letztes Jahr auf dem Weg zu seinen Patienten als Altenpfleger von der Berliner Polizei angegriffen wurde und bis heute auf ein faires Ermittlungsverfahren wartet. Im September bauten wir auf dem Berliner Oranienplatz als Teil des B\u00fcndnisses \u201eWo ist unser Denkmal?\u201c ein Mahnmal im Gedenken an die Opfer des Rassismus und Polizeigewalt auf, um gegen das Unsichtbarmachen von Opfern des Rassismus zu intervenieren.
In Nordrhein-Westfalen haben wir als Migrantifa NRW das Migrantifa Caf\u00e9 eingef\u00fchrt. Seit August kommen wir dort zusammen und haben uns gemeinsam gebildet, Transpis gemalt und einen Raum f\u00fcr Empowerment geschaffen. Im Rahmen der Anti-Rassismus Tage im September haben wir unter anderem mit We\u2019ll Come United, Black Lives Matter und Seebr\u00fccke zu einer Abschlusskundgebung aufgerufen, um an den \u201eMarch of Hope\u201c vor f\u00fcnf Jahren zu erinnern, als sich Tausende von Gefl\u00fcchteten auf den Weg unter anderem nach Deutschland machten. Wir haben auch viel zum Thema Polizeigewalt gearbeitet und einen Aktionstag dagegen aufgerufen, denn Gr\u00fcnde gibt es genug: Immer wieder sind \u201ePolizeichats\u201c aufgeflogen, in denen rassistische und faschistische Inhalte geteilt und propagiert worden sind. Adel B. wurde in Essen durch die Polizei erschossen. Und etliche Menschen, wie beispielsweise die Familie Ayoub, wurden Opfer brutaler rassistischer Polizeigewalt. Wir waren aber auch in Bornheim vor Ort, um die Arbeiter*innen-Proteste gegen ihre massive Ausbeutung als sogenannte \u201eSpargel-Erntehelfer\u201c zu unterst\u00fctzen.
Als Migrantifa Bremen haben wir uns in antirassistischen, antifaschistischen und queerfeministischen B\u00fcndnissen organisiert, sind dem Aufruf der Initiative 19. Februar im Gedenken an den Anschlag in Hanau gefolgt und haben in Bremen am 19. August zu einer Gedenkdemonstration aufgerufen. Durch Redebeitr\u00e4ge auf verschiedensten Demonstrationen haben wir Sichtbarkeit f\u00fcr unsere Themen geschaffen: Sei es, um laut zu werden und die rassistische Grenzpolitik der Europ\u00e4ischen Union zu brandmarken, oder um der strukturell und offen antisemitischen Querdenken-Bewegung, die Teile des neonazistischen Spektrums inkludiert, stabil entgegen zu treten. Wir mussten uns aber auch aktiv mit der Frage auseinandersetzen, wer unsere wirklichen Genoss*innen und Verb\u00fcndeten sind und wer nicht. Bei der Partei Die Linke, die in Bremen an der Regierung beteiligt ist, mussten wir beispielsweise feststellen, dass wir nicht uneingeschr\u00e4nkt mit ihr verb\u00fcndet sein k\u00f6nnen. Durch ihren Versuch unseren Aktivismus einzuvernehmen, hat sich f\u00fcr uns mal wieder gezeigt, dass liberale Politikans\u00e4tze unsere migrantischen K\u00e4mpfe nicht weiterbringen.
Hanau ist \u00fcberall!
Nicht nur die seit Jahrzehnten fortlaufende Serie an rechten und rassistischen \u00dcbergriffen und Anschl\u00e4gen auf Migrant*innen und migrantisierte Menschen zeugen von der Notwendigkeit, jeden Tag weiter zu k\u00e4mpfen. Sondern auch die Tatsache, dass wir uns in diesen K\u00e4mpfen nicht auf die staatlichen Beh\u00f6rden verlassen k\u00f6nnen. Ihre Aufgabenfelder oder gar ihre Befugnisse zu erweitern kann niemals eine L\u00f6sung sein, denn Polizei, Bundeswehr, Verfassungsschutz\u00e4mter und Justizbeh\u00f6rden sind Teil des Problems: W\u00e4hrend Angeh\u00f6rige beschuldigt, Opfer kriminalisiert und rechter Terror verharmlost wird, h\u00e4lt der deutsche Staat seine blutigen H\u00e4nde sch\u00fctzend \u00fcber die rechten T\u00e4ter und ist zudem daran beteiligt eine l\u00fcckenlose Aufkl\u00e4rung und den Ruf nach Gerechtigkeit aktiv zu verhindern. Rassismus und rechte Vernichtungsideologien sind weder das Problem einer Hand voll \u201eVerr\u00fcckter\u201c, noch sind sie ausschlie\u00dflich am rechten Rand anzutreffen. Sie sind ein strukturelles Problem der Mehrheitsgesellschaft und in der Logik des b\u00fcrgerlichen Staates und seiner Institutionen begr\u00fcndet. Erst dadurch haben Einzelpersonen den ideologischen und strukturellen N\u00e4hrboden, in dessen Rahmen sie sich radikalisieren, ihre fundamental menschenverachtenden Weltbilder und \u00dcberzeugungen ausbilden und ausf\u00fchren k\u00f6nnen.
Dieses strukturelle Problem hat sich dieses Jahr auch in der Absage der Gedenkdemonstration sechs Monate nach dem Anschlag in Hanau gezeigt. Am 22. August haben Angeh\u00f6rige, Betroffene und die Initiative 19. Februar bundesweit zum Gedenken der neun Ermordeten nach Hanau mobilisiert. Die Stadt hat \u2013 weniger als 24 Stunden vorher \u2013 die Demonstration untersagt und als Begr\u00fcndung die erh\u00f6hten Infektionszahlen genannt. In manchen Teilen der BRD k\u00f6nnen Rechtsradikale Seite an Seite mit Verschw\u00f6rungstheoretiker*innen und \u201eCorona-Leugner*innen\u201c ohne Hygienekonzept im f\u00fcnfstelligen Bereich laufen, eine antifaschistische und antirassistische Gedenkdemonstration wird hingegen untersagt. Die Entscheidung bezeugt nicht nur Respektlosigkeit und Ignoranz gegen\u00fcber den Angeh\u00f6rigen, \u00dcberlebenden und Betroffenen von rassistischer Gewalt sowie gegen\u00fcber migrantisierten Menschen und ihren Lebensrealit\u00e4ten. Sie bezeugt auch einen strukturellen Rassismus, der unseren Schmerz verharmlost, unsere Existenz missachtet sowie ein Gedenken f\u00fcr nichtig h\u00e4lt.
Dieser Tag h\u00e4tte f\u00fcr uns nicht nur eine gr\u00f6\u00dfere bundesweite migrantisch-antifaschistische Mobilisierung bedeutet, um gemeinsam zu trauern und zu gedenken, sondern wir h\u00e4tten unsere Solidarit\u00e4t mit den Angeh\u00f6rigen und Betroffenen auch physisch auf den Hanauer Stra\u00dfen gezeigt. Vor allem zur jetzigen Pandemiezeit, in der viele Menschen isoliert sind und sich allein gelassen f\u00fchlen, h\u00e4tten wir so ein kollektives antirassistisches Bewusstsein st\u00e4rken und in die Praxis bringen k\u00f6nnen. Teil unserer antirassistischen und antifaschistischen Arbeit muss es sein, uns unseren Platz in der \u00f6ffentlichen Wahrnehmung zu erk\u00e4mpfen und daf\u00fcr zu sorgen, dass die Geschichten und Leben unserer ermordeten Geschwister nicht vergessen werden. Das hei\u00dft nicht, individuell an sie als Menschen aus der Vergangenheit zu erinnern, sondern ein aktives \u00f6ffentliches Gedenken zu begehen und dadurch eine Verbindung in die Gegenwart zu schaffen.
Die Mehrheitsgesellschaft ist nach jedem rechtsterroristischen Anschlag immer wieder erschrocken dar\u00fcber, dass \u201eso etwas\u201c m\u00f6glich war. Jedes Mal findet danach in fast schon ritualisierter Form eine Abfolge von Trauerbekundungen, \u00c4u\u00dferungen von Best\u00fcrzung, Beileid und Schock sowie irgendwelchen Versprechen statt. Die Mehrheitsgesellschaft erinnert nur, und deswegen vergisst sie immer wieder. Doch wir wissen, dass die Bedrohung von rechts allgegenw\u00e4rtig ist und wir jeden Tag aufs Neue dagegen angehen m\u00fcssen. Wir gedenken. Und daf\u00fcr brauchen wir Orte der Kollektivit\u00e4t, um einerseits unsere Widerstandsk\u00e4mpfe sichtbar zu machen und uns somit gegenseitig zu st\u00e4rken und andererseits um aktiv gegen ein strukturelles Vergessen einzustehen, das Ausdruck von eben jenem strukturellen Rassismus ist. F\u00fcr uns hei\u00dft erinnern k\u00e4mpfen.
Trotz Wut und Entt\u00e4uschung \u00fcber die kurzfristige Absage der Gro\u00dfdemonstration sind wir als Bewegung in Aktion getreten. Die meisten haben das Konzept \u201eHanau ist \u00fcberall\u201c der Initiative 19. Februar unterst\u00fctzt und im deutschsprachigen Raum Live-Streamings organisiert, wodurch die auf 249 Personen begrenzte Hanauer Kundgebung der Angeh\u00f6rigen und Freund*innen tausende Menschen erreicht hat. Andere sind trotzdem nach Frankfurt gefahren und haben dort entschlossen und k\u00e4mpferisch physische Pr\u00e4senz gezeigt. Im Anschluss sind einige auch noch nach Hanau gefahren und haben die Initiative 19. Februar besucht.
In der Stadt Hanau war sechs Monate nach dem Anschlag das Trauma \u2013 wie konnte es anders sein \u2013 immer noch deutlich sp\u00fcrbar. Die R\u00e4ume der Initiative zu sehen und vor Ort mit den Menschen in Kontakt zu treten war sehr ber\u00fchrend und hat uns Kraft gegeben weiterzuk\u00e4mpfen. Wir stehen Seite an Seite solidarisch mit den Angeh\u00f6rigen sowie \u00dcberlebenden und werden unseren Beitrag dazu leisten, dass die Ermordeten nicht vergessen und Gerechtigkeit, Aufkl\u00e4rung und Konsequenzen folgen werden!
Solidarische Kollektivit\u00e4ten und das gro\u00dfe Ganze
Uns ist klar, dass wir uns noch in den Anf\u00e4ngen befinden. Klar ist aber auch, dass wir keine v\u00f6llig unbekannten Wege gehen, denn wir sehen uns in der Tradition vorangegangener migrantischer Selbstorganisierungen. Wo immer es Kontinuit\u00e4ten von Gewalt, Ausbeutung und rechtem Terror gibt, gibt es ebenso Kontinuit\u00e4ten von migrantischen Widerstandsk\u00e4mpfen. Dabei beschr\u00e4nken wir unseren migrantischen Kampf nicht auf reine Repr\u00e4sentationspolitik, denn wir verstehen uns in erster Linie als radikale Linke, die eben auch migrantisiert beziehungsweise migrantisch ist. Es geht uns um kollektive Selbstbestimmung und nicht nur um individuelle Mitbestimmung. Das bedeutet f\u00fcr uns auch, stets eine antikapitalistische Analyse praktisch werden zu lassen, die auf eine revolution\u00e4re Ver\u00e4nderung der jetzigen unterdr\u00fcckerischen Verh\u00e4ltnisse abzielt.
Worauf wir nun in der n\u00e4chsten Zeit den Fokus legen wollen, ist die politische Bildung, der Aufbau von Netzwerken und die Beziehungsarbeit untereinander. Eine gemeinsame politische Ausrichtung innerhalb einer Gruppe zu finden braucht Zeit. Wenn wir keine Analyse zu unserer dazugeh\u00f6rigen Praxis entwickeln, laufen wir Gefahr nur im reinen Aktionismus zu enden. Politische Bildung, wie auch immer sie gestaltet ist, sei es durch gemeinsame Diskussionen, gemeinsames Lesen oder Skillsharing, geh\u00f6rt daher zu unserer politischen Arbeit dazu. Migrantifas sollten sich als Teil eines Kollektivs verstehen. Das hei\u00dft, dass es neben inhaltlicher Bildung auch wichtig ist das gemeinsame Arbeiten als Kollektiv zu lernen. Uns gegenseitig und uns selbst zu erm\u00e4chtigen geh\u00f6rt dabei auch dazu. Dieser Prozess sollte nicht individualisiert werden, sondern sollte als Kollektiv mit der Perspektive auf eine grundlegende radikale Gesellschaftsver\u00e4nderung gestaltet werden. Die Vernetzung mit anderen Migrantifa Gruppen wie auch mit anderen linken Strukturen findet bereits statt und muss in Zukunft weiter vertieft werden. Wir werden als Migrantifas keine revolution\u00e4re Organisierung erreichen ohne gegenseitiges Vertrauen und genoss*innenschaftliche Beziehungen.
F\u00fcr uns ist klar, dass der Staat uns vor faschistischen Angriffen nicht sch\u00fctzt und sch\u00fctzen wird. Wenn wir diese Erkenntnis konsequent weiterdenken, wird sich perspektivisch auch die Frage des Selbstschutzes konkreter stellen. Wie m\u00fcssen wir uns organisieren, um aktiv Widerstand leisten zu k\u00f6nnen? Welche Strukturen m\u00fcssen wir langfristig aufbauen, um unseren Selbstschutz praktisch werden zu lassen? Zudem m\u00fcssen wir die generelle Frage von Sicherheit allumfassend beantworten: Was bedeutet \u00fcberhaupt \u201eSicherheit\u201c? Sicherheit vor wem oder was? Wer kann sich sicher f\u00fchlen, wer nicht? Was macht uns denn wirklich sicher? Mehr Polizei, mehr Gesetze, mehr Kn\u00e4ste, mehr \u00dcberwachung? Mehr Z\u00e4une, mehr Grenzen, mehr Waffen? Oder sind es nicht vielmehr gerechter Zugang zu Ressourcen, Bildung, Wohnen, Nahrung und Gesundheitsversorgung sowie solidarische Beziehungen zu unseren Communities und zueinander, die uns \u201esicher\u201c machen? Wie k\u00f6nnen wir diese Strukturen aufbauen, ohne abh\u00e4ngig vom Staat zu sein? All diese Fragen sind f\u00fcr uns Teil unseres antirassistischen, antifaschistischen und antikapitalistischen Kampfes. Denn was wir wollen, ist eine tiefgreifende und radikale Umw\u00e4lzung der Gesellschaft!
Wir alle haben unsere eigene Geschichte \u2013 wo wir beim Anschlag am 19. Februar waren und was er mit uns gemacht hat. Doch jener Tag wird uns immer daran erinnern, warum wir uns als Migrantifas organisieren und warum wir uns gegenseitig unterst\u00fctzen m\u00fcssen. Wir werden nicht brav darauf warten, dass der Staat unsere Forderungen irgendwann einl\u00f6sen wird, sondern wir werden selbst f\u00fcr das sorgen, was uns zusteht!
Alerta, ajde, haydi, yallah und bij\u00ee Migrantifa!