Geschichte wird gemacht: Die \u201eWeddinger Fleischrevolte\u201c von 1912
\nSoziale Proteste und Erhebungen der (Berliner) Arbeiter*innen haben Tradition. Kein Wunder, da sie es sind, die mit niedrigen L\u00f6hnen abgespeist, in zu teuren und widrigen Mietskasernen hausend und weitgehend vom Reichtum der von ihnen geleisteten Warenproduktion ausgeschlossen wurden und noch immer werden. Historisch wichtige Orte der Arbeiter*innenbewegung in Berlin waren Kieze in Neuk\u00f6lln, Kreuzberg und auch Wedding. Dort kamen die Widerspr\u00fcche der kapitalistischen Industrialisierung und Ausbeutung wie unter einem Brennglas zusammen: mieseste Arbeitsbedingungen, Massenarmut, patriarchale Unterdr\u00fcckung und Wohnungsnot.
Im Fall der Weddinger Fleischrevolte im Oktober 1912 waren es die steigenden Lebensmittelpreise, die Arbeiter*innen zur Revolte zwangen. W\u00e4hrend sie, darunter unz\u00e4hlige Kinder und Jugendliche, in den Fabriken und Gesch\u00e4ften f\u00fcr Hungerl\u00f6hne t\u00e4glich zw\u00f6lf bis vierzehn Stunden schuften mussten, strichen sich die Kapitalist*innen fast den gesamten Mehrwert der Dienstleistungen und gefertigten Waren ein. F\u00fcr die Arbeiter*innen blieb am Ende des Monats kaum etwas in der Lohnt\u00fcte \u00fcbrig. Viele mussten trotz Arbeit hungern. Diese besondere Lohnsklaverei hat sich bis heute erhalten. Heute werden diese besonders ausgebeuteten Arbeiter*innen als \u201ethe working poor" (die arbeitenden Armen) bezeichnet.
Warum diese Forschung zur lokaler Arbeiter*innengeschichte? Als Klasse der Arbeiter*innen m\u00fcssen wir uns der eigenen Geschichte bewusst werden, um sie in Erinnerung zu behalten und um aus ihr zu lernen. Dabei d\u00fcrfen wir unsere Geschichte nicht jenen (politischen) Gegner*innen \u00fcberlassen, die die Momente von politischen und materiellen Erfolgen der Arbeiter*innenk\u00e4mpfe antikommunistisch, als \u201eextremistisch" oder \u201etotalitaristisch" verunglimpfen. Es liegt an uns, linke Geschichte, ihre Erfolge, Widerspr\u00fcche und Niederlagen aufzuarbeiten und daraus Erkenntnisse zu ziehen, wie es besser gemacht werden muss. Kein Hannah-Ahrendt-Institut, kein antikommunistischer Opferverband, keine CDU-Politikerin wird dazu jemals auf unserer Seite stehen. \u201eGeschichte wird gemacht" hei\u00dft f\u00fcr uns, sich den Erz\u00e4hlungen vom \u201eEnde der Geschichte" zu widersetzen. Diese wurde nach dem Ende der Sowjetunion von rechts lanciert, um Arbeiter*innenk\u00e4mpfe, sozialistische Politik ad acta legen zu k\u00f6nnen. Dieser Text ist ein Beitrag dazu, sich bewusst zu werden, dass wir unsere Geschichte als Klasse stets verteidigen m\u00fcssen. So wie die Arbeiter*innen bei der Fleischrevolte, k\u00f6nnen und m\u00fcssen wir den Lauf der eigenen Geschichte und der eigenen Geschicke selbst in die Hand nehmen.
Wir schauen uns nun die materiellen Ursachen der Revolte an, um sie politisch einordnen und besser verstehen zu k\u00f6nnen. Dies ist dringend notwendig, da die einzige wissenschaftliche Arbeit zu diesem historischen Ereignis ohne materialistische Analyse und vom einem sp\u00e4teren Professor des rechten, antikommunistischen Hannah-Arendt-Instituts, Thomas Lindenberger, geschrieben wurde. Anschlie\u00dfend folgt die Darstellung des Verlaufes der Revolte. Wir werden sehen, dass die vielf\u00e4ltigen Ursachen dieses Aufstands bis heute bestehen. Diese Parallelen werden sich angesichts der aktuellen \u00f6konomischen Krise des Kapitalismus in Pandemie-Zeiten f\u00fcr viele Lohnabh\u00e4ngige weiter zuspitzen.
Der Staat als Gesamtkapitalist
Der wilhelminische Staat erkannte Mitte des Jahres 1912 das Konfliktpotential zwischen den Klassen und versuchte die mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln durch Ank\u00e4ufe von Fleisch aus dem Ausland ein wenig abzumildern. Denn eine soziale Revolte, die duch hungernde Arbeiter*innen ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnte, w\u00e4re f\u00fcr Staat und Kapitalseite, b\u00fcrgerliche Parlamentarier*innen sowie die Fabrik- und Maschinenbesitzenden, gef\u00e4hrlich geworden. Der Staat musste - und muss auch heute noch - mit harter (Repression gegen\u00fcber der Arbeiter*innenbewegung) und ausgestreckter Hand (F\u00fcrsorgeleistungen) agieren, um die ausbeuterischen Verh\u00e4ltnisse f\u00fcr das Kapital und die Macht des b\u00fcrgerlichen Staates zu sch\u00fctzen. Er schafft damit auch die Illusion, vermeintlich im Interesse aller B\u00fcrger*innen handeln zu wollen. In der Realit\u00e4t bedeutet das, dass ausschlie\u00dflich das Interesse der Reichen und ihre Produktionsbedingungen gesch\u00fctzt werden. Der Staat fungiert damit als \u201eideeller Gesamtkapitalist" (Friedrich Engels).
Der staatliche Ankauf von Fleisch aus Russland und die Subventionierung des Verkaufspreises, rief einen Boykott der Berliner Fleischer und H\u00e4ndler hervor, \u201erussisches Fleisch\u201d zum vom Staat ausgerufenen Selbstkostenpreis auszugeben. Neben nationalistischen Motiven waren es wohl vor allem die zu erwartenden sinkenden Profite, die die Fleischer in den Berliner Markthallen zum Boykott trieb. Durch das auf dem Markt kommende russische Fleisch w\u00e4re die damalige Preispolitik von Metzgern und H\u00e4ndlern in Frage gestellt worden. Angesichts der Verknappung von Fleisch als Nahrungsmittel und der Profitspekulation durch \u00fcberh\u00f6hte Preise, w\u00e4ren ihre satten Gewinne gef\u00e4hrdet. Den hungrigen Arbeiter*innen hingegen drohte, ihre Fleischversorgung abhanden zu kommen. Angesichts der schlechten Lebens- und Wohnbedingungen, war dieser Boykott der Tropfen, der das bereits randvolle Fass der Arbeiter*innen zum \u00dcberlaufen brachte. Der Staat war in einer Zwickm\u00fchle: Arbeiter*innen und H\u00e4ndler/ Metzger kamen in einen Konflikt, der zu eskalieren drohte. Der Senat entsandte daraufhin zahlreiche Polizeikr\u00e4fte zu den Markthallen, um die Gefahr der Eskalation fr\u00fchestm\u00f6glich mit Repression begegnen zu k\u00f6nnen und eine Ausweitung der Hungerrevolte zum Wohle der ausbeuterischen Verh\u00e4ltnisse verhindern zu k\u00f6nnen. Ganz im Sinne der \u201e\u00f6ffentlichen Ordnung".
Wohnen musste Dir leisten k\u00f6nnen
Viele Menschen aus l\u00e4ndlichen Regionen verloren aufgrund der Industrialisierung ihre Einkommensm\u00f6glichkeiten (bspw. im Handwerk) und waren gezwungen, sich in den Fabriken der gro\u00dfen St\u00e4dte f\u00fcr miese L\u00f6hne zu verdingen. Die Berliner Bev\u00f6lkerung hatte sich innerhalb von 60 Jahren auf 2 Millionen Menschen verf\u00fcnffacht. Trotz des gro\u00dfen Bedarfs und zu erwartender Mietsteigerung durch verknappten Wohnraum, wurden neue Wohnungen viel zu wenig gebaut. Die Eigent\u00fcmer*innen der Wohnungen konnten somit kr\u00e4ftig an \u00fcberh\u00f6hten Mieten verdienen. Die Folge waren hohe Mieten in v\u00f6llig \u00fcberbelegten Wohnungen. Die Wohnungen, die gebaut wurden, hatten meist die Form von Mietskasernen und somit entwickelte sich Berlin in dieser Zeit zur gr\u00f6\u00dften Mietskasernenstadt der Welt. Um sich die Miete leisten zu k\u00f6nnen, mussten sich mehrere Familien kleine Behausungen teilen und meist auch Schlafburschen bei sich aufnehmen. Fast 10 Prozent der Berliner*innen hatten keinen Schlafplatz und zahlten, wenn sie konnten, f\u00fcr ein paar Stunden ein Bett. Wohnungs- und Obdachlosigkeit waren, \u00e4hnlich wie heute, \u00fcberall sichtbar.
Die \u00dcberbelegung f\u00fchrte nicht nur zu beengten Verh\u00e4ltnissen, sondern auch zu unzureichender Hygiene und niedrigen Lebenserwartungen. Dazu z\u00e4hlten auch die stetigen Preisteuerungen f\u00fcr Lebensmittel, die neben der Miete den gr\u00f6\u00dften Teil der L\u00f6hne auffra\u00dfen. Unter den Bedingungen einer sich abzuzeichnenden unsicheren Versorgungslage mit Fleisch \u201eals das bedeutendste Lebensmittel f\u00fcr die Arbeiter*innenklasse" kochte die berechtigte Wut der Arbeiter*innen vollends \u00fcber. Die Weddinger Fleischrevolte kann somit als Hungerrevolte verstanden werden, die - wie wir gleich verstehen werden - vor allem von Frauen* angef\u00fchrt wurde.
Neben der produktiven und harten Fabrikarbeit waren sie es, die sich aufgrund von patriarchalem Zwang mit der reproduktiven Arbeit (Haushalt, Lebensmittelversorgung, Erziehung u.v.m.) konfrontiert sahen. Sie wurden somit sprichw\u00f6rtlich doppelt ausgebeutet: in der Lohnarbeit und zu Hause.
Der Platz von Frauen* ist in der Revolution
Der immensen Doppelbelastung durch produktive und reproduktive Arbeit ausgesetzt, trafen Frauen* die steigenden Lebensmittelpreise sowie der Boykott des \u201erussischen Fleisches" durch Berliner Metzger und H\u00e4ndler besonders. Die ad\u00e4quate Nahrungsmittelversorgung der Familie bzw. der Lebenspartner wurde massiv erschwert. Der Hunger war allgegenw\u00e4rtig. Zu den schwierigen Lebensbedingungen kam zudem eine weitverbreitete Rechtslosigkeit von Frauen* in der Gesellschaft, die sich auch in starkem Ma\u00dfe in h\u00e4uslicher Gewalt, sexueller Entrechtung sowie in der Verhinderung von Bildung f\u00fcr M\u00e4dchen* und Frauen* ausdr\u00fcckte. Wie heute \u2013 sogar noch st\u00e4rker \u2013 wurde die Lohnarbeit von Frauen* weitaus geringer bezahlt. Gegen diese allumfassende gesellschaftliche Gewalt und f\u00fcr die Befreiung aus dieser elendigen Situation musste sie sich gemeinsam organisieren.
Im Gegensatz zu vielen Arbeitern, waren Arbeiterinnen* jedoch h\u00e4ufig nicht organisiert, weder gewerkschaftlich noch parteipolitisch. Die Schaffung des Bewusstseins als Klasse und als unterdr\u00fccktes vergeschlechtlichtes Subjekt musste folglich noch st\u00e4rker in Angriff genommen werden. Die Fleischrevolte ist, wie wir gleich anhand der Beschreibungen nachvollziehen werden, ein Moment, in dem sich Frauen* kollektiv und \u00f6ffentlich politisch \u00e4u\u00dfern, sich der Wut und Ungerechtigkeit ihrer sozialen Lage Luft verschaffen. Aufgrund der Lebensumst\u00e4nde lie\u00dfen sich viele Arbeiter*innen nicht von kurzfristigen Ma\u00dfnahmen des Staates zur Bes\u00e4nftigung der sich anbahnenden Lebensmittelkrise t\u00e4uschen.
Die Revolution\u00e4rin Clara Zetkin dr\u00fcckte zuvor in theoretischen \u00dcberlegungen das Verh\u00e4ltnis von Kampf um Emanzipation und Staat so aus:
\u201eWir wissen ganz gut, dass der moderne Nationalstaat der Boden ist, auf dem das Proletariat seinen Klassenkampf f\u00fchren muss. Wir vergessen aber auch nicht, dass der gegenw\u00e4rtige Nationalstaat der kapitalistische Klassenstaat ist, der seine Vorteile und Segnungen in erster Linie den ausbeutenden, herrschenden Klassen vorbeh\u00e4lt."
(B\u00fcrgerlicher und proletarischer Patriotismus)
Je nach politischer Gemengelage waren es Frauen*, auf deren R\u00fccken die Verhinderung sozialer Proteste und ihre Delegitimierung ausgetragen wurden. Im Zuge der \u201eWeddinger Fleischrevolte" war es vor allem eine frauen*feindliche Berichterstattung der Medien. Sie suchte die Erkl\u00e4rung der Revolte nicht in der von Staat und Kapitalisten verordneten Armut der arbeitenden Massen und ihre materielle Situation, sondern in angeblicher \u201eHysterie" der Proletarier*innen gegen\u00fcber den Metzgern und Polizisten. Ein klassisches, rechtes und patriarchales Man\u00f6ver, um die Unterdr\u00fcckung von Arbeiterinnen* zu nutzen, um wirkliche soziale Ver\u00e4nderungen zu verhindern.
Wir haben Hunger, Hunger, Hunger! Der Verlauf der Fleischrevolte
Die folgend angef\u00fchrten Textelemente sind aus dem im Literaturverzeichnis erw\u00e4hnten Aufsatz von Thomas Lindenberger teilweise gek\u00fcrzt und zusammengestellt worden. Separate, im Aufsatz befindliche Quellen sind in den in eckigen K\u00e4stchen nummerierten Fu\u00dfnoten angegeben und neu nummeriert worden.
Mittwoch, den 23. Oktober 1912: 1. TAG
Die Tageszeitungen charakterisierten die Vorg\u00e4nge in bzw. vor der Markthalle in der Reinickendorfer Stra\u00dfe im Stadtteil Wedding als \u201eRevolte der Frauen" oder \u201eFleischrevolte". Gegen f\u00fcnf Uhr morgens hatten sich an den Eing\u00e4ngen mehrere tausend Frauen versammelt und warteten auf den Beginn des Verkaufs. \u201eAls die Halle ge\u00f6ffnet wurde, rissen die Frauen die an den Eing\u00e4ngen stationierten beiden Polizeibeamten auf die Seite und st\u00fcrmten in die Halle.\u201c [1] Auch hier verweigerten die Schl\u00e4chter unter Hinweis auf seine angebliche Minderwertigkeit den Verkauf des russischen Fleischs. \u201eUnter furchtbarem Geschrei und Wutgeheul" r\u00fcckten die Frauen ihnen daraufhin \u201ezu Leibe": Sie riefen \u201eWir wollen Fleisch haben", \u201eIhr Hunde wollt nichts verkaufen! Wir wollen nicht mehr hungern! Diebe, Blutsauger", \u201edrangen in die Verkaufsst\u00e4nde, dr\u00e4ngten die Fleischer und ihre Gehilfen unter Schl\u00e4gen und St\u00f6\u00dfen aus den L\u00e4den auf den Gang hinaus und bem\u00e4chtigten sich aller Fleisch-und Wurstwaren, die sie nur irgend erreichen konnten." [ebd.] Die Beute wurde nicht nur in gro\u00dfen St\u00fccken herausgeschnitten und in die Taschen gesteckt, sondern zum Teil auch zu Boden geworfen und zertrampelt. Ein Schl\u00e4chter musste aus mehreren Wunden blutend von seinen Kollegen aus der Mitte der Pl\u00fcnderinnen befreit werden. \u201eAls einige Schl\u00e4chter ihre L\u00e4den schlie\u00dfen wollten, st\u00fcrmte ein Haufen Frauen zu den Gem\u00fcseh\u00e4ndlern, raffte dort zusammen, was es an Obst, R\u00fcben und Kohlk\u00f6pfen vorfand und begann ein w\u00fctendes Bombardement auf die Schl\u00e4chter, die ihr Hab und Gut zu retten suchten." [ebd.]
Der Vorw\u00e4rts betonte in seinem Bericht besonders das provokatorische Verhalten der Fleischer. Einer rief: \u201eBringt Euch Sch .... nach Hause statt Fleisch, dann habt ihr was zu fressen", w\u00e4hrend ein anderer eine Wurst nach den Frauen warf. Der bereits erw\u00e4hnte, von Frauen verpr\u00fcgelte Schl\u00e4chter habe diese mit einem R\u00e4ucherstock bedroht. [2] Schlie\u00dflich gelang es der mittlerweile erschienenen Polizei die Halle zu r\u00e4umen: \u201eDie Beamten wurden von den Frauen t\u00e4tlich angegriffen, ins Gesicht geschlagen, mit W\u00fcrsten, Fleischst\u00fccken und anderen Lebensmitteln bombardiert [... ]. Die Weiber, die wilde Drohungen ausstie\u00dfen, flohen schlie\u00dflich mit der Drohung: 'Nachmittags kommen wir mit unseren M\u00e4nnern wieder!' aus der Halle. Auf der Stra\u00dfe sammelten sich die rasenden Weiber an und begannen durch Pfeifen und Johlen die Beamten zu verh\u00f6hnen. Diese schlossen schlie\u00dflich die eisernen Gittertore und versuchten durch g\u00fctliches Zureden die Demonstrierenden zum Weitergehen zu veranlassen." [ebd.]
Anschlie\u00dfend richteten die Frauen ihre Aktionen gegen drei Fleischerl\u00e4den in den umliegenden Stra\u00dfen. \u201eWas auf den Ladentischen lag, wurde gestohlen, und als die Schl\u00e4chter sich zur Wehr setzen wollten, wurden sie mit Pferdekot beworfen." [ebd.] Die Anzahl der in der N\u00e4he postierten Schutzm\u00e4nner war zu schwach, um wirksam einzugreifen. \u201eDie Frauen wurden gegen 10 Uhr durch einige Rotten von Zuh\u00e4ltern und jungen Burschen unterst\u00fctzt. Die Beamten wurden wiederholt mit Pferdedung beworfen, und die Beamten konnten nur durch ihre gro\u00dfe Zur\u00fcckhaltung und Ruhe Schlimmeres verh\u00fcten." [ebd.] Am Nachmittag sicherte die Schutzmannschaft die Markthalle durch mehrere Doppelposten und richtete in ihren Verwaltungsr\u00e4umen eine \u201efliegende Polizeiwache" ein. Nur f\u00fcr kurze Zeit, um f\u00fcnf Uhr herum, wurde die Halle ge\u00f6ffnet. Die vierzehn Fleischer dieser Markthalle beharrten nach wie vor auf ihrer Weigerung, russisches Fleisch zu verkaufen, und schlossen dies auch f\u00fcr die kommenden Tage aus. [3] Von den 128 Fleischermeistern, die sich gegen\u00fcber dem Magistrat zum Verkauf russischen Fleischs bereit erkl\u00e4rt hatten, hatten nur 22 die Zusage eingehalten, w\u00e4hrend es sich der Rest wohl in erster Linie wegen des zu knappen Verdienstes in letzter Minute anders \u00fcberlegt hatte. Von der Fleischer-Innung wurde betont, dass es keinen Boykottbeschluss g\u00e4be. \u201eDie bedauerlichen, nicht zu billigenden Szenen im Norden Berlins sind unzweifelhaft auf dieses Verhalten der Schl\u00e4chtermeister zur\u00fcckzuf\u00fchren", kommentierte die Vossische Zeitung, eine Bewertung, die quer durch alle politischen Richtungen der ver\u00f6ffentlichten Meinung geteilt wurde. [4] Wegen der Beschimpfungen erwog der Magistrat, einigen Fleischern eventuell die Verkaufsst\u00e4nde zu entziehen. [5] Im Laufe des Nachmittags fanden sich dann andere Verk\u00e4ufer f\u00fcr das russische Fleisch. Von minderwertiger Qualit\u00e4t des importierten Fleisches konnte nach Meinung der Konsumenten wie von Experten keine Rede sein. Der Verkauf im weiteren Verlauf des Tages verlief denn auch ohne St\u00f6rungen. [6]
Donnerstag, den 24. Oktober 1912: 2. TAG
Am n\u00e4chsten Tag stand der Markthallenbetrieb in der ganzen Stadt unter au\u00dferordentlicher Polizeiaufsicht. [...] In der Weddinger Markthalle wurde als einziger immer noch kein russisches Fleisch angeboten. Wieder st\u00fcrmten die Frauen die St\u00e4nde, stahlen Waren und attackierten einzelne Fleischer. Gegen neun Uhr r\u00e4umten 30 Schutzleute die Halle und lie\u00dfen nur noch kleinere Gruppen ein, so dass allm\u00e4hlich Ruhe einkehrte. Wie tags zuvor verlagerten sich die Aktionen jetzt auf die Umgebung der Markthalle, auch diesmal stie\u00dfen junge M\u00e4nner hinzu: \u201eDaf\u00fcr lie\u00dfen die zahlreichen Rowdies, die die Frauen aufzuhetzen suchten, ihre Wut an den in der N\u00e4he wohnenden Schl\u00e4chtern aus. Die Schl\u00e4chterei von Max R\u00f6der wurde von den Zuh\u00e4ltern und arbeitsscheuem Gesindel, das sich in der N\u00e4he der Markthalle aufzuhalten pflegt, zu st\u00fcrmen versucht. Zahlreiche Fleischwaren wurden entwendet. Vor dem Hause sammelten sich etwa 500 bis 600 Menschen, die den Boykott \u00fcber die Firma verh\u00e4ngten und die K\u00e4ufer verhinderten, dort ihren Bedarf zu decken. Einer Dame, die trotzdem einen Einkauf gemacht hatte, wurde beim Verlassen des Ladens die Tasche mit Fleischwaren gestohlen, der Hut vom Kopf gerissen und zerfetzt." [ebd.] Trotz Polizeischutz musste die Schl\u00e4chterei schlie\u00dfen. \u00c4hnlich erging es einem weiteren Laden in der Reinickendorfer Stra\u00dfe. [7] Vor der Halle sammelten sich gegen 11 Uhr immer mehr Frauen und Jugendliche an. \u201ePl\u00f6tzlich erscholl wohl aus dem Munde irgendeines Burschen der Ruf: 'Los zu Morgenstern, dort gibt es billiges Fleisch!" [8]
Damit wurde der H\u00f6hepunkt der Aktionen dieses Tages eingeleitet. \u201eIn kleinen Z\u00fcgen begaben sich die Demonstranten, die unterwegs noch Zulauf bekamen [zur gleichen Zeit liefen bereits die o. e. Aktionen gegen die anderen Fleischerl\u00e4den -T.L.], nach der Schererstra\u00dfe, wo sich in kurzer Zeit eine ungeheure Menschenmenge versammelte. Unter Johlen und Schreien drangen die Leute bis zum Morgensternschen Gesch\u00e4ft vor. In dem Laden befanden sich au\u00dfer den Angestellten etwa drei\u00dfig bis vierzig K\u00e4ufer und K\u00e4uferinnen. Jetzt ert\u00f6nten schrille Pfiffe und dann Rufe 'K\u00e4ufer raus!' Der Gesch\u00e4ftsf\u00fchrer Stiller lie\u00df die Kundschaft, soweit sie nicht gleich auf die Stra\u00dfe floh, durch einen nach der Maxstra\u00dfe f\u00fchrenden Ausgang hinaus; dann eilte er wieder in den Laden und verschloss die T\u00fcr. Inzwischen hatte aber die Menge schon eine Attacke auf den Laden unternommen. Stiller zog nunmehr einen Revolver, stellte sich am Eingang auf und drohte die Eindringenden niederzuschie\u00dfen. [9]
Die vorderen Demonstranten wichen zur\u00fcck, wurden aber durch die hinteren wieder vorgedr\u00e4ngt. Pl\u00f6tzlich zerbrach eine der Ladenscheiben. Ein Frauenzimmer hatte sie mit dem Fu\u00df eingesto\u00dfen. Das war das Signal zum allgemeinen Angriff. In wenigen Sekunden waren die gro\u00dfen Spiegelscheiben zertr\u00fcmmert, und w\u00e4hrend ein Teil des P\u00f6bels die hinter den Schaufenstern liegenden Waren raubt, machte sich ein anderer Teil daran, einen vor der T\u00fcr haltenden Fleischwagen auszupl\u00fcndern. Um die im Laden befindlichen Angestellten zu vertreiben, wurde ein neues Steinbombardement er\u00f6ffnet. Dabei wurde der Gesch\u00e4ftsf\u00fchrer Stiller so schwer verletzt, dass er blutend gegen den Ladentisch taumelte. [ ... ] Vier Gesellen trugen Verletzungen an H\u00e4nden, Armen und Beinen davon. Vom 91. Revier r\u00fcckten inzwischen Hauptmann K\u00f6rnich, zwei Polizeileutnants und 30 Schutzleute heran. W\u00e4hrend ein Teil der Demonstranten beim Nahen der Beamten die Flucht ergriff, nahm ein anderer Teil eine drohende Haltung ein, so dass die Polizisten blankziehen und die Menge auf diese Weise zur\u00fccktreiben mussten. In kurzer Zeit wurden noch weitere Schutzmannskommandos herangezogen und \u00fcber die ganze Gegend verteilt, um erneuten Angriffen vorzubeugen. W\u00e4hrend gegen 1 Uhr mittags die Schutzleute vor und in der Markthalle am Wedding zur\u00fcckgezogen werden konnten, musste der polizeiliche Belagerungszustand in den \u00fcbrigen Stra\u00dfen noch bestehen bleiben, da fortgesetzt neue Trupps die Stra\u00dfen durchzogen. [10]
Den ganzen restlichen Tag hindurch blieben diese Mobilisierung und Aktionsbereitschaft erhalten. Am fr\u00fchen Nachmittag, noch w\u00e4hrend der mitt\u00e4glichen Schlie\u00dfungszeit der Markthalle, wurden in der M\u00fcller- und in der K\u00f6sliner Stra\u00dfe je ein Fleischergesch\u00e4ft angegriffen. Die Abendausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers brachte vom Nachmittag folgenden Lagebericht: \u201eIn der bedrohten Gegend patrouillieren Schutzleute, und um 4 Uhr werden weitere Verst\u00e4rkungen von den Au\u00dfenrevieren herangezogen. \u00dcberall rotten sich schon wieder Demonstranten zusammen. Die Polizei hat M\u00fche, sie weiterzutreiben. Man bef\u00fcrchtet, dass es in den Abendstunden zu neuen Exzessen kommen wird, jedoch ist ausreichend Vorsorge getroffen, dass jeder Versuch im Keim erstickt werden kann, da \u00fcberall zahlreiche Schutzleute stationiert sind. Die s\u00e4mtlichen Schl\u00e4chterl\u00e4den am Wedding stehen unter polizeilichem Schutz. \u00dcberall sind Beamte eingelegt und vor den T\u00fcren Doppelposten aufgestellt.\u201d [11]
Die \u00d6ffnung der Markthalle um 17 Uhr bildete den Ausgangspunkt f\u00fcr die letzten Aktionen der Weddinger Fleischrevolte. Es wurde nun endlich auch hier russisches Fleisch verkauft. Kurz vor \u00d6ffnung der Markthalle um 17 Uhr hatten sich vor dem Eingang in der Sch\u00f6nwalder Stra\u00dfe \u201e2000 Personen [...], unter denen sich etwa 500 K\u00e4ufer befanden", gesammelt. [ebd.] Die Polizei lie\u00df die Kundinnen in Sch\u00fcben von 100 Personen auf der einen Seite der Halle eintreten, w\u00e4hrend der zweite Eingang am Weddingplatz nur als Ausgang benutzt werden durfte. \u201eDas unruhige Element unter dem Publikum verfolgte den Vorgang mit Pfeifen, Johlen und Schreien; wiederholt sah es sehr bedrohlich aus, so dass die Schutzleute das Publikum in die anderen Stra\u00dfen abschieben mussten. Zu Zusammenst\u00f6\u00dfen kam es aber nicht, dank der besonnenen Haltung der Schutzmannschaft. Da der Mob sah, dass hier nichts f\u00fcr ihn zu tun war, verzog er sich in die Nebenstra\u00dfen." [ebd.] In der Schererstra\u00dfe sicherte ein gr\u00f6\u00dferes Polizeiaufgebot die Fleischerei Morgenstern. Also wurden in der M\u00fcllerstra\u00dfe drei (darunter eine G\u00e4nseschl\u00e4chterei) und in der Pankstra\u00dfe ein Gesch\u00e4ft gest\u00fcrmt und gepl\u00fcndert. \u201eAls um 8 Uhr die Markthalle wie die Gesch\u00e4fte geschlossen wurde, sah es \u00fcberall recht bedrohlich aus. Es waren aber inzwischen weitere Verst\u00e4rkungen von Schutzleuten herangezogen worden, so dass die radaulustigen Elemente es vorzogen, sich in kleinen Trupps zu zerstreuen. Bis in die sp\u00e4ten Nachtstunden hinein hielt ein gro\u00dfes Polizeiaufgebot alle Stra\u00dfen und Pl\u00e4tze des Wedding besetzt, um Ausschreitungen vorzubeugen.\u201d [12] Von den anderen Markthallen wurden au\u00dfer lebhaftem Verkehr und dem durch die Polizei geregelten Zugang keine besonderen Vorkommnisse berichtet. [13] Auch im weiteren Verlauf der Woche musste zwar immer wieder Polizei zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt werden, so zum Beispiel in der Andreasstra\u00dfe; zu \u201eAusschreitungen" kam es jedoch nicht mehr. \u201eEin spekulativer H\u00e4ndler verkaufte Ansichtspostkarten, auf denen 'Der Fleischkrieg und der Sturm auf die Markthalle' in ungemein drastischer Weise dargestellt waren.\u201d [14] In den Wochen danach wurde der st\u00e4dtische Fleischverkauf zur Routine. [15]
Erinnern hei\u00dft K\u00e4mpfen
Gem\u00e4\u00df dieser Losung machen wir uns die lokale Geschichte anhand der \u201eWeddinger Fleischrevolte" wieder bewusst. Sie ist Inspiration und Kraftgeberin f\u00fcr aktuelle soziale K\u00e4mpfe, die wir als Lohnabh\u00e4ngige f\u00fchren. Die kapitalistische Krise produziert am laufenden Band Widerspr\u00fcche: Armut, Wohnungs- und Obdachlosigkeit, Femizide/ h\u00e4usliche Gewalt, Ausbeutung in der Lohnarbeit und Unterdr\u00fcckung im Alltag. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich seit den vergangenen 108 Jahren rasant ver\u00e4ndert. Stets geblieben ist ihr grunds\u00e4tzlich ausbeutender, kriegerischer und unterdr\u00fcckender Charakter. Diese sich stetig ver\u00e4ndernden Ausformungen des Kapitalismus und seiner Auswirkungen auf Menschen und die Natur m\u00fcssen wir verstehen lernen. Am Beispiel der Revolte zeigt sich allerdings auch eine Leerstelle. Aufgrund der spontanen Erhebung, fehlte es an einer kollektiven und handlungsf\u00e4higen, revolution\u00e4ren, kommunistischen Organisation, die in der Lage gewesen w\u00e4re, diesen spontanen Aufstand zu verstetigen. Auch die Sozialdemokratie (SPD) war nicht in der Lage und willens, die Revolte politisch zu verteidigen. Sie distanzierte sich praktisch von den Arbeiter*innen und schlug sich auf die Seite der Erz\u00e4hlung der Herrschenden und fabulierte von angeblichen Provokateuren, dem \u201eGesindel" und \u201eMob", der die Frauen* angestachelt h\u00e4tte. (Vgl. Lindenberger, S. 299) Frauen* als eigenst\u00e4ndige politische Subjekte kommen in dieser Erz\u00e4hlweise nicht vor. Da die Fleischrevolte nur eine kurze, spontane soziale Eruption ohne l\u00e4ngerfristige politische Auswirkungen war, kann jenseits der Pl\u00fcnderungen nicht davon ausgegangen werden, dass sich nach der Revolte die Versorgungslage f\u00fcr die Arbeiter*innen bedeutend besserte. Jedoch stehen jedoch auch diese historischen Momente f\u00fcr die Weiterentwicklung kollektiven Klassenbewusstseins.
Auf die b\u00fcrgerlichen Parteien und ihre staatliche Krisenl\u00f6sung konnten sich die proletarischen Lohnabh\u00e4ngigen also nie verlassen. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich in den vergangenen mehr als einhundert Jahren ver\u00e4ndert. W\u00e4hrend damals Klassengegens\u00e4tze klar erkennbar das Leben bestimmten, verschleiert der Neoliberalismus heutige Ausbeutungs- sowie Unterdr\u00fcckungsverh\u00e4ltnisse. Er rechtfertigt soziale Ungerechtigkeit mit der L\u00fcge \u201eJeder ist seines Gl\u00fcckes Schmied", erkennt keine Klassen an und verhindert kollektiven Widerstand durch versch\u00e4rfte Entfremdung, Vereinzelung und Entsolidarisierung unter den Arbeiter*innen. Dem gilt es entgegenzutreten. Diese Klassengesellschaft gilt es weiterhin zu \u00fcberwinden. Die politischen Einordnungen und das materielle Verst\u00e4ndnis der Ursachen der nachfolgend dargestellten Revolte helfen uns dabei. Geschichte wird gemacht, packen wir es an!
Literaturhinweis:
Lindenberger, Thomas (1994): Die Fleischrevolte am Wedding. Lebensmittelversorgung und Politik in Berlin am Vorabend des Ersten Weltkriegs, in: Der Kamf um das t\u00e4gliche Brot, S. 282 - 304.
daraus bezogene Fu\u00dfnoten:
[1] Vossische Zeitung v. 23.10.1912, Nr. 542.
[2] Vorw\u00e4rts v. 24.10.1912, Nr. 249, 2. Beil.
[3] Berliner Tageblatt v. 24.10.1912, Nr. 543, 1. Beibl.
[4] Die einzige Ausnahme stellte laut Vorw\u00e4rts v. 25.10.1912, Nr. 250 die gro\u00dfagrarierfreundliche Deutsche Tageszeitung dar.
[5] Vossische Zeitung v. 23.10.1912, Nr. 542.
[6] Vossische Zeitung v. 24.10.1912, Nr. 543, 1. Beil.
[7] Vossische Zeitung v. 24.10.1912, Nr. 544.
[8] Vorw\u00e4rts v. 25.10.1912, Nr. 250.
[9] "mit dem er, wie er vor Gericht bekundete, jeden niedergeschossen h\u00e4tte, der in den Laden selbst gekommen w\u00e4re" (aus der Gerichtsreportage im Vorw\u00e4rts vom 19.12.1912, Nr. 296, 1. Beil.).
[10] Berliner Lokal-Anzeiger v. 24.12.1912, Nr. 544.
[11] Berliner Lokal-Anzeiger v. 24.10.1912, Nr. 544.
[12] Berliner Lokal-Anzeiger v. 25.10.1912, Nr. 545; Berliner Tageblatt v. 25. 10. 1912, Nr. 545, 1. Beibl.
[13] Vossische Zeitung v. 24.10.1912, Nr. 544.
[14] Vossische Zeitung v. 27.10.1912, Nr. 549, 1. Beil.
[15] Vgl. Vossische Zeitung v. 28.10.192, Nr. 511, v. 5.11.1912, Nr. 566." (Lindenberger 1994: 285-290)