\u201eKartoffeln, Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdo\u011fan\u201c? Hegemoniek\u00e4mpfe in der T\u00fcrkei
\nNach dem Inferno des vergangenen Sommers, als die gr\u00f6\u00dften Waldbr\u00e4nde der Geschichte der modernen T\u00fcrkei ganze Landstriche verw\u00fcsteten, folgte ein langer Winter im Land. Im Januar 2022 legte ein heftiger Schneesturm das gesamte Leben Istanbuls lahm. Hunderte Autos und Busse blieben im hohen Schnee auf den Hauptverkehrsachsen stecken, keine F\u00e4hren fuhren mehr, die Menschen \u00fcbernachteten improvisiert in den Vierteln, in denen sie der Schneesturm erwischt hatte. Zwei Monate sp\u00e4ter waren Stadt, Gouverneursamt und Bev\u00f6lkerung besser vorbereitet. Erneut zogen an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden im M\u00e4rz heftige Schneest\u00fcrme \u00fcber Istanbul hinweg und bedeckten die Stadt mit eisigem Frost.
In diesem langen Winter fegte jedoch nicht nur der Schnee \u00fcber Istanbul, sondern mit fast 70 Prozent auf seinem bisherigen Gipfel (April 2022) auch die h\u00f6chste Inflationsrate seit 20 Jahren \u00fcber die T\u00fcrkei hinweg. Lebensmittel, Strom, Gas zum Heizen und Kochen \u2013 viele Grundg\u00fcter des modernen Lebens wurden zu fast unbezahlbaren Luxusg\u00fctern. Die Preise steigen teils w\u00f6chentlich. Menschen kaufen wenige und schlechtere Lebensmittel ein und beginnen, alles m\u00f6gliche auf Vorrat im Sonderangebot zu kaufen. Ladenbesitzer*innen sitzen in dicken M\u00e4nteln, Schals und Polarhandschuhen in ihren L\u00e4den, weil die Heizkosten explodieren. Der Winter kann als eine lange, niederschmetternde Depression f\u00fcr den Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung bezeichnet werden. Aber ganz oben wird weiterhin das altbekannte makabre Theater der Hybris gespielt: Die T\u00fcrkei erringe \u201eeinen [wirtschaftlichen] Erfolg nach dem anderen\u201c (Wirtschafts- und Finanzminister Nureddin Nebati), sie werde zu \u201eeinem der m\u00e4chtigsten L\u00e4nder der Welt\u201c (ebenfalls Nebati); \u201ewir geh\u00f6ren zu denen, die am besten wissen, wie man Inflation bek\u00e4mpft\u201c (wieder Nebati); \u201edie T\u00fcrkei ist so stark wie noch nie in den letzten 300 Jahren\u201c (Innenminister S\u00fcleyman Soylu).
Wer auf Regimeseite die beinharten Realit\u00e4ten nicht mehr ignorieren konnte, versuchte diese verschw\u00f6rungsideologischzu prozessieren. Das hei\u00dft zum Beispiel, Wirtschaftskrise und politische Instabilit\u00e4t als gro\u00dfes Spiel b\u00f6ser M\u00e4chte gegen \u201edie T\u00fcrkei\u201c darzustellen (Abdurrahman Dilipak, Ibrahim Karag\u00fcl), die \u2013 selbstredend von der AKP betriebene \u2013 Polarisierung der Gesellschaft als Ergebnis fr\u00fcherer Verwestlichung zu beklagen (Yusuf Kaplan), oder Existenz\u00e4ngste vor einem bevorstehenden Generalzusammenbruch der T\u00fcrkei zu sch\u00fcren, sollten Regierung und Opposition nicht zusammenarbeiten (Nagehan Al\u00e7\u0131). Ihr verschw\u00f6rungstheoretisches Vorbild haben sie in Recep Tayyip Erdo\u011fan h\u00f6chstpers\u00f6nlich: \u201eHinter allen Ereignissen der letzten acht Jahre in unserem Land [\u2026] steht ein Plan, ein Szenario, eine Falle\u201c. Wie seit geraumer Zeit so funktionieren auch heute regimetreue Verschw\u00f6rungsideologien in dem Sinne, dass sie die Objektivit\u00e4t der Hegemoniekrise dethematisieren und die Menschen der rationalen Erkenntnis gesellschaftlicher Verh\u00e4ltnisse berauben, damit sie, in Angst und Panik versetzt, handlungsunf\u00e4hig werden.
Aber mit dem langen Winter der Depression kommt auch der Fr\u00fchling des Widerstands: Eine Welle an Streiks fand in den beiden ersten Monaten des Jahres 2022 \u00fcber \u00fcber die gesamte T\u00fcrkei verteilt statt \u2013 noch gr\u00f6\u00dfer als die bisher gr\u00f6\u00dfte Streikwelle der AKP-\u00c4ra, dem \u201eMetallsturm\u201c von 2015. In der gesamten T\u00fcrkei inklusive der AKP-Hochburg der \u00f6stlichen Schwarzmeerregion protestierten Menschen gegen die exorbitanten (Strom-)Preise (unter dem Slogan ge\u00e7inemiyoruz! - Wir kommen nicht mehr \u00fcber die Runden!), Studierende gegen den Mangel an Wohnheimen (bar\u0131nam\u0131yoruz! \u2013 Wir kommen nicht mehr unter!); Werkt\u00e4tige des Gesundheitssektors gingen in zahlreichen Wei\u00dfen M\u00e4rschen (beyaz y\u00fcr\u00fcy\u00fc\u015f) in vielen St\u00e4dten der T\u00fcrkei gegen die schlechten Arbeitsbedingungen auf die Stra\u00dfen. Trotz einer tiefgreifenden \u00c4nderung im Wahlprozedere der Anwaltskammern zugunsten des Regimes gewann der k\u00e4mpferische Oppositionskandidat Erin\u00e7 Sa\u011fkan die Wahl und k\u00fcndigte ein Ende der Appeasementpolitik seitens der Spitze der Anwaltskammern gegen\u00fcber dem Regime an. Der 8. M\u00e4rz und Newroz, das kurdische Fr\u00fchjahresfest, wurden gegen alle Verbote auf den Stra\u00dfen und den Pl\u00e4tzen mit Hunderttausenden Beteiligten gefeiert. Und tats\u00e4chlich, es kam wieder so etwas wie ein Geist von Gezi und die darin ausgedr\u00fcckte kreative Lebensfreude auf: Patates, so\u011fan, g\u00fcle g\u00fcle Erdo\u011fan \u2013 \u201eKartoffeln und Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdo\u011fan!\u201c, wurde zu einem g\u00e4ngigen Slogan gegen die Preisexplosion und deren politischen (Mit-)Verursacher. Wie immer in den letzten Jahren wurden auch diesmal alle diese legitimen sozialen K\u00e4mpfe und ihre Forderungen seitens der Regierung mit \u201eTerrorismus\u201c in Zusammenhang gebracht; oder in kontrafaktischer Hybris davon fabuliert, die Regierung l\u00f6se alle Probleme \u2013 oder diese g\u00e4be es eigentlich gar nicht erst: \u201eWir haben nicht zugelassen, dass unsere B\u00fcrger von der Inflation erschlagen werden, und werden dies auch weiterhin nicht tun\u201c, so Erdo\u011fan; fast wortgleich der Wirtschafts- und Finanzminister Nebati.
W\u00e4hrend das Regime mit altbekannten und neuen Tricks versucht, aus seiner bis dato tiefsten Hegemoniekrise mittels eines wiederaufgenommenen Prozesses der autorit\u00e4ren Konsolidierung herauszukommen, versammeln sich die Hauptoppositionsparteien des b\u00fcrgerlichen Blocks, um den wachsenden Unmut f\u00fcr einen restaurierten Neoliberalismus zu vereinnahmen. Der Ausgang der tiefen Hegemoniekrise bleibt bislang offen und umk\u00e4mpft zwischen den Kr\u00e4ften der autorit\u00e4ren Konsolidierung, der neoliberalen Restaurationsperspektive und den popularen Kr\u00e4ften. [1]
Mit Vollgas in die Sackgasse: Die Versch\u00e4rfung der Wirtschaftskrise
Leser*innen fr\u00fcherer Artikel von mir wissen um die wirtschaftspolitische Taktik der permanenten Kehrtwenden beziehungsweise \u201eErdo\u011fans Zickzackkurs\u201c, der seit geraumer Zeit die politische \u00d6konomie des Landes bestimmt: Um sich eine politische Basis unter den kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) und ihrer Arbeiter*innen zu erschaffen, beziehungsweise zu konsolidieren, schl\u00e4gt das Regime um Erdo\u011fan regelm\u00e4\u00dfig eine nicht der neoliberalen Orthodoxie entsprechende Wirtschaftspolitik der Niedrigzinsen und der Kreditexpansion ein. Dies f\u00fchrt jedes Mal zu einem weiteren Fall des Wertes der Lira und wegen der hohen Importabh\u00e4ngigkeit der t\u00fcrkischen Wirtschaft damit zu einer sehr hohen Inflationsrate. Um diese Folgen dann wieder abzud\u00e4mpfen, reagiert das Regime um Erdo\u011fan daher immer wieder mit einer Kehrtwende in Richtung orthodoxer Wirtschaftspolitik: Eine Hochzinspolitik gegen die Inflation \u2013 einerseits, um ausl\u00e4ndisches Kapital anzuziehen (weil Zinsen h\u00f6her als die Inflation Gewinne garantieren), andererseits, um die Kreditexpansion und damit die durch erh\u00f6hten Konsum bedingte Inflation zu drosseln. Damit im Zusammenhang stehen dann regelm\u00e4\u00dfig auch andere kontraktive Ma\u00dfnahmen.
Ein Ausweg aus diesem Zickzackkurs schien unm\u00f6glich, solange der semi-periphere Neoliberalismus in der T\u00fcrkei fest in die transatlantische neoliberale Weltordnung integriert blieb. Denn dies macht die t\u00fcrkische Wirtschaft abh\u00e4ngig von Kapital- und Produktionsg\u00fcterimporten und volatil angesichts der Situation der Weltwirtschaft insgesamt, in der nach den Krisenzeiten um 2008/09 und insbesondere nach 2013 die Kapitalzufl\u00fcsse in (semi-)periphere L\u00e4nder abnahmen oder stark schwankten. Die aus dieser Volatilit\u00e4t hervorgehende wirtschaftliche Instabilit\u00e4t sowie die Ersch\u00f6pfung des semi-peripheren Akkumulationsmodells in der T\u00fcrkei (unter Anderem wegen dem Erreichen der Grenzen der Lohndr\u00fcckerei im internationalen Vergleich sowie wegen dem fehlenden technologischen Upgrade der t\u00fcrkischen Wirtschaft) sorgten schon ganz von selbst ohne Erdo\u011fans Autoritarismus und der zunehmend heterodoxen Wirtschaftspolitik f\u00fcr eine Verlangsamung des t\u00fcrkischen Wirtschaftswachstums. Letztgenannte wirken nur \u2013 zugegebenerma\u00dfen immer st\u00e4rker \u2013 versch\u00e4rfend auf diese Krise des semi-peripheren Neoliberalismus in der T\u00fcrkei.
Dieser Zickzackkurs scheint mittlerweile aber verlassen worden zu sein zugunsten eines einseitigen Fokus auf die heterodoxe Seite. Wie schon im Artikel \u201eT\u00fcrkisches Inferno\u201c erw\u00e4hnt, wurde im M\u00e4rz 2021 erneut ein heterodox agierender, Erdo\u011fan-treuer Zentralbankchef, \u015eahap Kavc\u0131o\u011flu, von Erdo\u011fans Gnadentum eingesetzt. Dieser konnte aber \u00fcber Monate hinweg wegen der drastischen Reaktion der M\u00e4rkte die Zinsen nicht senken. So blieb der Zentralbankzins bei 19 Prozent \u2013 nur ganz leicht \u00fcber der damaligen Inflationsrate. Eine Inflationsrate von etwas weniger als 19 Prozent, zwischenzeitlich undenkbar. Die Schockstarre hielt selbstredend nicht lange an: Von Ende September bis Anfang Dezember 2021 wurde der Leitzins unter dem neuen Zentralbankchef auf 14 Prozent gesenkt, w\u00e4hrend die (offizielle) (Verbraucherpreis-)Inflationsrate sukzessive von fast 20 Prozent im September und Oktober auf 36 Prozent im Dezember 2021, \u00fcber 48 Prozent im Januar 2022, \u00fcber 54 Prozent im Februar, 61 Prozent im M\u00e4rz und zuletzt auf fast 70 Prozent im April (im Vergleich zum Vorjahreszeitraum) stieg. Mitarbeitende der Zentralbank (T\u00fcrkiye Cumhuriyet Merkez Bankas\u0131, TCMB), die sich gegen diesen Kurs stellten, wurden gefeuert, de facto strafversetzt und durch regime-treue Personen ersetzt. Zudem wurde der damalige Wirtschafts- und Finanzminister L\u00fctfi Elvan, der ebenfalls eher f\u00fcr eine orthodoxere Gangart stand und die Wirtschaftspolitik immer offener kritisierte, noch handlungsunf\u00e4higer gemacht, als er es sowieso schon war. Schon im November 2021 sickerte durch, dass Elvan seinen R\u00fccktritt eingereicht hatte, weil er anderer Meinung war als der (damals noch) stellvertretende Minister Nebati, der noch zu Zeiten des Wirtschaftsministeriums unter Erdo\u011fans Schwiegersohn Albayrak 2018ff. eingesetzt wurde und die heute verfolgte heterodoxe Negativzinspolitik verteidigte. Elvan hatte versucht, diesen aus dem Amt zu entfernen, was ihm misslang; zugleich sank sein Einfluss in der Ministerialb\u00fcrokratie immer weiter. Im November wurde Elvans R\u00fccktrittsgesuch, so die Ger\u00fcchte, noch abgelehnt von Erdo\u011fan. Am 2. Dezember hingegen war es soweit: Sein \u201eGesuch auf Entbindung von Aufgaben/Verantwortung\u201c (g\u00f6revinden af dile\u011fi), wie es im euphemistischen Jargon des Regimes neuerdings bei ordin\u00e4ren Ministerentlassungen durch Erdo\u011fans Hand teils ohne vorherige Kenntnis der jeweiligen Minister hei\u00dft, wurde stattgegeben, anstatt seiner der schon bekannte Nebati eingesetzt.
Die Krisendynamik
Entsprechend dieser Geldpolitik wuchs der Negativrealzins, also der Leitzins der Zentralbank minus die Inflationsrate. Vor allem in Banken gehaltene Lira (T\u00fcrk Liras\u0131, TL)-Guthaben wurden damit de facto sukzessive entwertet, Devisen und Gold wurden zu Vehikeln der Verm\u00f6gensabsicherung und -steigerung, was nebst dem Negativrealzins den Druck auf die Lira erh\u00f6hte. \u00dcber das Jahr 2021 gerechnet verloren so laut dem Statistischen Institut (T\u00fcrkiye \u0130statistik Kurumu, T\u00dcIK) Lira-Einlagenbesitzer*innen 22,75 Prozent (real, also gegen die Inflation gerechnet) an Wert, Investor*innen in t\u00fcrkische Staatsanleihen dagegen 32,69 Prozent, w\u00e4hrend Investor*innen in US-Dollar, Euro und Gold jeweils 23,08 Prozent, 14,45 Prozent und 19,70 Prozent an Wert gewannen. Gekoppelt mit der Unvorhersehbarkeit, die diese aus Sicht neoliberaler Orthodoxie heterodoxe und irrationale Geldpolitik repr\u00e4sentierte, f\u00fchrte diese unmittelbar zur massiven Entwertung der Lira, damit zur Erh\u00f6hung der Importkosten und wegen der Importabh\u00e4ngigkeit der t\u00fcrkischen Wirtschaft zur erw\u00e4hnten rasenden Erh\u00f6hung der Inflation. Die Schere zwischen (inl\u00e4ndischer) Erzeugerpreis- und Verbraucherpreisinflationsrate mit im April 2022 \u00fcber 50 Prozent nimmt mittlerweile historische Ausma\u00dfe an \u2013 die Erzeugerpreisinflationsrate liegt derzeit bei \u00fcber 120 Prozent. Wegen der hohen Inflationsrate werfen mittlerweile alle vom T\u00dcIK erfassten regul\u00e4ren finanziellen Anlagen real Verluste ab (Januar-M\u00e4rz 2022).
Der wegen der Billigkreditschwemme angekurbelte Binnenkonsum trug zum einen zwar wesentlich zum 11 Prozent BIP-Wachstum 2021 bei (fast die H\u00e4lfte der Bev\u00f6lkerung der T\u00fcrkei ist verschuldet mit individuellen Bedarfskrediten; in Istanbul sogar etwa 80 Prozent der Bev\u00f6lkerung; das Kreditvolumen wuchs um etwa 44 Prozent aufs Jahr gerechnet). Aber gleichzeitig stiegen die staatlichen Ausgaben f\u00fcr die Staatsbanken im Jahr 2021 exorbitant an: Deren politisch bestimmte Niedrigzinspolitik f\u00fchrte wegen der galoppierenden Inflation zu hohen Verlusten, die dann vom zentralstaatlichen Budget beglichen werden mussten. Aber all diese und andere Ma\u00dfnahmen \u2013 wie beispielsweise die klassisch neoliberal-populistische vor\u00fcbergehende Senkung der Mehrwertsteuern auf Grundnahrungsg\u00fcter und Strom auf 1 Prozent, die (mittlerweile von der Inflation l\u00e4ngst \u00fcberholte) Erh\u00f6hung des Mindestlohns um 50 Prozent auf 4250 Lira Netto (weniger als 300 Euro) im Dezember 2021 seitens Erdo\u011fans, die Durchf\u00fchrung von Preiskontrollen und heftige Strafen f\u00fcr Superm\u00e4rkte mit \u201eWucherpreisen\u201c und die Einf\u00fchrung staatlich subventionierter M\u00e4rkte (wie schon 2019) [2] \u2013 konnten die mit 70 Prozent galoppierende Inflation und ihre Auswirkungen auf die breite Bev\u00f6lkerungsmasse nicht oder nur sehr schwach bremsen. Hinter der durchschnittlichen Inflationsrate von 70 Prozent \u2013 unabh\u00e4ngige Berechnungen gehen sogar von \u00fcber 155 Prozent aus \u2013 verstecken sich exorbitante Preiserh\u00f6hungen von G\u00fctern des allt\u00e4glichen Bedarfs. Die Preise f\u00fcr Nahrungsmittel und alkoholfreie Getr\u00e4nke stiegen um fast 90 Prozent (April 2022 gegen\u00fcber Vorjahreszeitraum) beziehungsweise sogar vermutlich noch mehr, der Preis von Benzin stieg um 166 Prozent und der von Diesel um sagenhafte 235 Prozent (Anfang M\u00e4rz 2022 gegen\u00fcber dem Vorjahr), Energiepreise im Allgemeinen (also inklusive Erdgas und Strom) um fast 100 Prozent (Februar 2022 gegen\u00fcber dem Vorjahr) und somit etwa drei mal so viel wie im EU-Durchschnitt. Die Mietpreise explodierten um durchschnittlich 123,5 Prozent t\u00fcrkeiweit (M\u00e4rz 2022 im Vergleich zum Vorjahresmonat); unter anderem deshalb, weil einige gutbetuchte Menschen ihre Geldverm\u00f6gen in Immobilien stecken, um weiterhin hohe Gewinne zu garantieren, w\u00e4hrend gleichzeitig das Wohnungsangebot wegen der \u2013 teils ebenfalls durch die hohe Inflation hervorgebrachte \u2013 Krise des Immobiliensektors in St\u00e4dten wie Istanbul kaum mehr steigt.
Die reale, weit gefasste Arbeitslosigkeitsrate bleibt immer noch bei \u00fcber 20 Prozent, die eng gefasste weiterhin bei \u00fcber 10 Prozent. Die Folgen der Corona-Pandemie sowie des Ukrainekrieges (vor allem erhebliche Lieferst\u00f6rungen sowie Preisschocks in Grundg\u00fctern) kamen noch weiter versch\u00e4rfend hinzu, insbesondere was die Energiepreise angeht. Sie k\u00f6nnen aber genau so wie die abh\u00e4ngige Integration der T\u00fcrkei in die Weltwirtschaft nicht (allein) erkl\u00e4ren, warum die Inflation in Grundg\u00fctern in der T\u00fcrkei und die Geldentwertung im internationalen Vergleich so sehr hervorsticht. Es ist die heterodoxe Wirtschaftspolitik unter Erdo\u011fan bei der gegebenen Art der Integration der T\u00fcrkei in die Weltwirtschaft, die daf\u00fcr verantwortlich ist, dass die durch die Struktur und Krise des Akkumulationsregimes sowieso schon schwierige Situation so derma\u00dfen au\u00dfer Rand und Band ger\u00e4t.
Auf der Spitze der Zinssenkungsspirale im November-Dezember 2021 st\u00fcrzte die T\u00fcrkei daher erneut in eine tiefe Wirtschaftskrise: Terminverk\u00e4ufe oder Verk\u00e4ufe \u00fcberhaupt in mehreren Wirtschaftssektoren wurden ausgesetzt, da die Entwertungs- und Inflationsspirale belastbare Preiskalkulationen verunm\u00f6glichte; der Verkauf von Kaffee, Zucker und Fett in Superm\u00e4rkten wurde aus denselben Gr\u00fcnden quotiert. Im Textilsektor pochten Rohstoffproduzent*innen auf Vorauszahlung in Devisen, die Istanbuler B\u00f6rse musste an einem Tag zwei mal schlie\u00dfen wegen zu hohen Kursverlusten. Vom 1. bis zum 17. Dezember intervenierte die TCMB \u2013 dieses mal offen und nicht unter der Hand wie 2020-21 (s. \u201eT\u00fcrkisches Inferno\u201c) \u2013 insgesamt f\u00fcnf mal in den Geldmarkt und verkaufte 7,3 Milliarden US-Dollar, um den Wert der Lira zu st\u00fctzen, was zu aller \u00dcberraschung zum x-ten mal scheiterte. Sukzessive entwertete die Lira bis zum historischen Tiefpunkt von zeitweise \u00fcber 18 Lira auf den Dollar und \u00fcber 20 Lira auf den Dollar am 20. Dezember 2021 (zum Vergleich: Anfang 2021 lag der Wert des Dollar bei etwa 7,5 Lira, der des Euro bei etwa 9,10 Lira). Die B\u00f6rse mussteerneut zwei mal im Laufe des Tages schlie\u00dfen wegen zu hohen Kursverlusten, die von der Devisenklemme des verarbeitenden Gewerbes verursacht wurde, das Gro\u00dfkapital war in heller Panik: Die Wirtschaft stand vor dem unmittelbaren Kollaps.
Kaninchen aus dem Zauberhut?
Am selben Tag verk\u00fcndete Erdo\u011fan ein gro\u00dfes Ma\u00dfnahmenpaket, dessen wichtigstes Element das sogenannte Kur Korumal\u0131 TL Mevduat\u0131 (KKM, devisenabgesicherte TL-Einlagen) darstellte. Das Paket beinhaltete allerdings (unter bestimmten Umst\u00e4nden und Laufzeiten) auch Wechselkursgarantien f\u00fcr kleine und mittlere Exporteure, was teils die begeisterte Aufnahme des Pakets bei Teilen des Kapitals zu erkl\u00e4ren helfen vermag (siehe Abschnitt \u201eK\u00e4mpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise\u201c).
Zuerst aber noch einige Worte zum KKM: Nutzt ein Kunde diese von allen Gro\u00dfbanken zur Verf\u00fcgung gestellte Einlagenform, dann erh\u00e4lt er eine staatliche Garantie gegen die Lira-Entwertung, insofern ihm bei einer Entwertung der Lira gegen\u00fcber dem Dollar in einem bestimmten Zeitraum die Differenz zum Zins, den ihm eine normale Bankeinlage in diesem Zeitraum abwerfen w\u00fcrde (grob 17 Prozent aufs Jahr gerechnet), zus\u00e4tzlich zu eben jenem von der jeweiligen Bank zu zahlenden Zins vom Staat auf die KKM-Einlage \u00fcberwiesen wird. Prompt wertete die Lira innerhalb von 24 Stunden wieder auf auf grob 12 Lira auf den Dollar und 13 Lira auf den Euro. Wohlgemerkt: Das beste Ergebnis betreffs des Lira-Kurses, das mit dem KKM bisher und das auch nur f\u00fcr sehr kurze Zeit (um den 24. Dezember 2021 herum) erreicht wurde, bewegte sich mit 10 bis 11 Lira auf den Dollar beziehungsweise 12 Lira auf den Euro auf dem Niveau von Mitte November 2021 \u2013 dem Monat also, als sich schon Quotierungen im Einzelhandel, Probleme in der Produktion wegen Verunm\u00f6glichung der Preiskalkulation und massenweise Beschwerden vom Kapital eingestellt hatten.
Freilich kam im Nachhinein heraus, dass vermutlich sechs bis sieben Milliarden Dollar von der TCMB selbst am 20. und 21. Dezember in Lira umgewechselt wurden; sowie vermutlich insgesamt 20 Milliarden Dollar von den \u00f6ffentlichen Banken vom 20. bis zum 22. Dezember (nat\u00fcrlich wird dies von offizieller Seite bestritten und zwecks Herstellung eines ideologischen Mythos behauptet, das Volk habe quasi von selbst in Scharen Devisen eingetauscht). Mittlerweile ist es Pflicht f\u00fcr Banken geworden, 10 bis 20 Prozent ihrer Deviseneinlagen in KKM umzuwandeln und ansonsten eine Strafe an die TCMB zu zahlen.
Da der Staat die Differenz zwischen Einlagenzins und Lira-Entwertung zahlt, ist das eine de facto Erh\u00f6hung der Zinslastauf das Staatsbudget. Das Staatsdefizit wird daher wegen der erneut in Gang gesetzten Lira-Entwertung in die H\u00f6he schie\u00dfen, was zus\u00e4tzlich zur de facto Erh\u00f6hung der Zinslast auf das Staatsbudget durch das KKM die sowieso schon steigenden unmittelbaren Zinsen auf die Verschuldung des Staates schon jetzt weiter erh\u00f6ht und damit auch den Druck auf die Lira, und somit \u2013 gekoppelt mit den anderen weiter fortwirkenden Ursachen f\u00fcr die Lira-Entwertung wie die Negativrealzinspolitik und die generelle nicht-orthodoxe Wirtschaftspolitik \u2013 den Wechselkurs erneut in die H\u00f6he treibt: Ende M\u00e4rz 2022 lag der Wechselkurs wieder bei grob 14,80 Lira auf den Dollar und 16,30 Lira auf den Euro; bis Anfang Mai ist der Euro dann wieder auf 15,60 Lira gefallen, allerdings haupts\u00e4chlich wegen den Auswirkungen des Ukrainekrieges und der Aufwertung des Dollars wegen den Zinssteigerungen der us-amerikanischen Zentralbank. Deshalb wird freilich \u2013 entgegen den offiziellen Verlautbarungen \u2013 ebenfalls die Inflation in die H\u00f6he getrieben. Wegen der absehbaren Folgen wurde dieser \u2013 wie sp\u00e4ter herauskam schon 2018 entworfene \u2013 Plan fr\u00fcher und auch noch unter dem ehemaligen Finazminister Elvan unter Verweis auf sehr hohe Risiken und Belastung des Staatsbudgets verworfen. Dennoch erkl\u00e4rten Erdo\u011fan wie Nebati innerhalb von nur ein bis zwei (!) Tagen den vollen Erfolg ihres Programms. \u00c4hnliches erlebte die T\u00fcrkei in den 1970ern mit den von den Rechtsregierungen populistisch ausufernd ausgeweitetenD\u00f6vize \u00c7evirilebilir Mevduat (D\u00c7M, devisenkonvertible Einlagen), die unter anderem zum Staatsbankrott Ende der 1970er f\u00fchrten und deren Zahlungslast noch bis in die 1990er-Jahre hinein schwer auf dem Staatsbudget lastete. Das ist ein monet\u00e4rer Neokolonialismus sowie eine epische Zinserh\u00f6hung aus den H\u00e4nden eines Regimes, das im Namen von Nation und Vaterland Gift und Galle spuckt gegen die gesamte Opposition im Land und geradezu einen Jihad gegen die \u201eZinslobby\u201c ausgerufen hat. Die Flexibilit\u00e4t und Halsverrenkungen des autorit\u00e4ren Populismus sind bemerkenswert.
Jedenfalls bringt die Devisen-Indexierung von Lira-Konten dem Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung beziehungsweise der Kleinanleger*innen nicht viel. F\u00fcr den Fall der F\u00e4lle, dass Ersparnisse vorliegen, werden diese vermutlich weiterhin in Devisen gehalten werden, da das neue Instrument nicht mehr als das bietet \u2013 oder sogar weniger, da das KKM nicht gegen Inflation absichert. Zudem beinhaltet es bestimmte Mindestlaufzeiten (\u00e0 drei, sechs, neun oder 12 Monate), bei deren Unterschreitung die Einlegerin ihr Anrecht auf (den zus\u00e4tzlichen) Zins verliert und potenziell sogar Verluste auf die Stammeinlagensumme machen kann, falls der Wechselkurs bei nicht laufzeitgerechter Aufl\u00f6sung des Instrumentes niedriger liegt als bei der Beanspruchung des Instruments. Dagegen k\u00f6nnen Devisen zu jeder Zeit problemlos fl\u00fcssig gemacht werden. Die Lira-Einlagen, die f\u00fcr die laufenden Ausgaben von kleinen Bankeinlagenbesitzer*innen gebraucht werden, das hei\u00dft allt\u00e4gliche Konsumausgaben und \u00e4hnliches, die bei Menschen mit kleinen Einkommen und/oder Verm\u00f6gen immer den allergr\u00f6\u00dften Gro\u00dfteil der Ausgaben ausmachen, werden durch die Mindestlaufzeit von drei Monaten gar nicht abgesichert. Etwa 90 Prozent der bisherigen Devisen- wie Lira-Einlagen im t\u00fcrkischen Bankensystem haben eine verbindliche Laufzeit, die k\u00fcrzer ist als drei Monate (also beispielsweise Tagesgeldkonten, wie es f\u00fcr uns Normalsterbliche \u00fcblich ist, auf die t\u00e4glich zugegriffen und die t\u00e4glich aufgel\u00f6st werden k\u00f6nnen). So blieb denn der Erfolg des neuen Instruments anfangs auch recht beschr\u00e4nkt, wurde daher ausgeweitet auf Unternehmer*innen sowie im Ausland lebende oder registrierte (t\u00fcrkische und nicht-t\u00fcrkische) Personen und Unternehmer*innen. Zus\u00e4tzlich wurde eine Steuerbefreiung f\u00fcr KKM-Einlagen verk\u00fcndet. Letzteres macht das KKM besonders attraktiv f\u00fcr Verm\u00f6gende, die nicht auf t\u00e4gliche Verf\u00fcgbarkeit ihres Verm\u00f6gens angewiesen sind. Es ist daher nicht weiter \u00fcberraschend, dass bis Mitte April 2022 vor allem Devisen-Konten mit verbindlichen Laufzeiten in das KKM-Format konvertiert wurden und kaum Devisen-Konten ohne Laufzeiten.
Obwohl die Datenlage wegen der notorischen Intransparenz der Regierung und der eigentlich zur Transparenz strikt verpflichteten staatlichen Institutionen schlecht ist, l\u00e4sst sich Ende M\u00e4rz 2022 grob folgende vorl\u00e4ufige Bilanz des KKM-Instruments ziehen: Nur grob 9 Prozent aller Bankeinlagen in der T\u00fcrkei (591 Milliarden Lira oder etwa 40 Milliarden Dollar) wurden in KKM angelegt und nur etwa 57 Prozent dieser Einlagen durch Eintauschen von Devisen gegen Lira. Der Rest besteht aus normalen Lira-Einlagen, die zu KKM-Einlagen konvertiert wurden. Es wurden eine Million KKM-Einleger registriert, davon 30.000 Unternehmenskonten. Zwar konnte die Dollarisierung der Privateinlagen (Anteil von Devisen/Dollar-Einlagen an allen Privateinlagen) etwas gesenkt werden, allerdings von einem sehr hohen Niveau von 71 Prozent kurz vor Deklarierung des KKM auf immer noch sehr hohe 64 Prozent. Da die Lira seit Einf\u00fchrung des Instruments erneut grob 30 Prozent ihres Wertes auf den Dollar verloren hat, muss der Staat etwa 25 Prozent Zinsen an KKM-Einleger der ersten Stunde einzahlen (gerechnet auf eine Drei-Monats-Einlagendauer bei einem Jahreszins auf normale Bankeinlagen von 17 Prozent, so dass der anteilige Zins, den die Bank auf die drei Monate auszuzahlen hat, um die 4,25 Prozent betr\u00e4gt). Entgegen den Verlautbarungen des Regimes bleibt also die Beteiligung beim KKM \u00fcberschaubar, die Kosten hingegen recht hoch. Zudem konnten weder Lira-Entwertung noch die Inflation gebremst werden, ganz im Gegenteil.
Der Chef der rechtsnationalistisch-faschistoiden Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyet\u00e7i Hareket Partisi, MHP) und derzeitiger Hauptverb\u00fcndeter von Erdo\u011fan, Devlet Bah\u00e7eli kann sich daher noch so sehr in seinen Tiraden gegen \u201e\u00f6konomische Putschisten\u201c und \u201eWechselkursbombenattent\u00e4ter\u201c \u00fcberschlagen, Erdo\u011fan kann so viel gegen den ihm loyalen Zentralbankchef oder den Wirtschafts- und Finanzminister poltern; ihnen drohen und verlangen, dass diese ihre Versprechungen bez\u00fcglich eines Wirtschaftsaufschwungs gekoppelt mit einer Stabilisierung des Wertes der Lira auf niedrigem Niveau und der Senkung der Inflationsrate aber mit heterodoxen/expansiven Mitteln bei gegebener Integration in die Weltwirtschaft einhalten: Dieser versprochenen und eingeforderten Quadratur des Kreises sind schlicht objektive Grenzen gesetzt. Auch die dahinter stehende ideologische Konstruktion zur Abwehr der Verantwortung f\u00fcr die Malaise \u2013 es sind ja die \u201egeldgierigen Wucherer\u201c (Erdo\u011fan), die uns das Problem der Inflation einbringen; wir bek\u00e4mpfen diese mit Strafen und helfen dem Volk mit Steuersenkungen \u2013 mag kaum mehr jemanden \u00fcberzeugen (siehe Abschnitt \u201eRestauration oder populare Demokratie?\u201c). Allen realit\u00e4tsfernen und verzweifelt \u00fcbersteigerten Verlautbarungen und Beschwichtigungen zum Trotz ist die polit\u00f6konomische Situation festgefahren.
Wozu dann also das Ganze?
Neoliberale ISI oder Rekonsolidierungsversuch des Krisenmanagements?
Ob der wirtschaftspolitische Zickzackkurs nun endg\u00fcltig verlassen wurde zugunsten einer vereindeutigten heterodoxen Wirtschaftspolitik und wenn ja, zu welchen Zwecken; das ist eine gro\u00dfe Streitfrage unter kritischen Theoretiker*innen in Fortsetzung der zuvor und auch weiterhin gef\u00fchrten Debatten um den (Klassen-)Charakter der heterodoxen Wirtschaftspolitik.
Schaut man sich die Verlautbarungen des Regimes und seiner wichtigen Wortf\u00fchrer an, dann wurde tats\u00e4chlich ein neuer polit\u00f6konomischer Weg eingeschlagen. Erdo\u011fan selbst legte mit seinen expliziten Verweisen auf Chinas wirtschaftlichen Aufschwung nahe, vom \u201echinesischen Modell\u201c zu sprechen. Das war offensichtlich nicht \u201enational\u201c genug. Daher wurde wenig sp\u00e4ter vom damals neuen Wirtschafts- und Finanzminister Nebati das \u201eT\u00fcrkische Wirtschaftsmodell\u201c deklariert. Der Grundgedanke ist recht simpel und l\u00e4sst sich als neoliberale importsubstituierende Industrialisierung(sstrategie) (ISI) begreifen: Teure Devisen (bzw. eine abgewertete Lira) sollen wegen hoher Preise Importe hemmen und zur Ersetzung von Importen durch einheimische Produktion anhalten, Exporte hingegen (wegen niedrigen Preisen durch die entwertete Lira) f\u00f6rdern und somit auch die Investition in (Export-)Sektoren, da diese h\u00f6here Profite versprechen. Die Niedrigzinspolitik soll parallel hierzu die kosteng\u00fcnstige Investition in die importsubstituierenden Sektoren anregen. Die reduzierte Importabh\u00e4ngigkeit solle sodann das Leistungsbilanzdefizit und damit die Auslandsschulden senken, durch erh\u00f6hte Exporte sogar einen Leistungsbilanz\u00fcberschuss erzeugen. Damit w\u00fcrde sich der durch die Importabh\u00e4ngigkeit ergebende Druck auf die TL und somit auf die Inflation senken und zugleich die Notwendigkeit einer Hochzinspolitik zur Stabilisierung des Wechselkurses und Attraktion von Kapitalimporten entfallen, sodass sich das Modell selbst tragen w\u00fcrde. Der Teufelskreislauf aus hohen Zinsen und hohen Leistungsbilanzdefiziten w\u00fcrde ersetzt werden durch niedrige Zinsen, hohe Besch\u00e4ftigung und Produktion \u2013 so der TCMB-Chef Kavc\u0131o\u011flu. \u00c4hnlich Erdo\u011fan. Sein Finanzb\u00fcroleiter G\u00f6ksel A\u015fan benennt das Modell daher auch explizit als eine ISI. Und Nebati meint, es sei eine Unabh\u00e4ngigkeit der T\u00fcrkei in Energie und Landwirtschaft anvisiert. Das T\u00fcrkische Wirtschaftsmodell, eine eierlegende Wollmilchsau.
Das ganz gro\u00dfe Problem ist: Das Modell wird nicht im entferntesten in dieser Form realisiert. Das liegt daran, dass ganz wesentliche Elemente einer klassischen ISI fehlen, was gemeinsam mit der Unterdr\u00fcckung der Arbeiter*innenklasse den genuin neoliberalen Charakter des \u201eT\u00fcrkischen Wirtschaftsmodells\u201c ausmacht: In der historischen ISI war die staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsgeschehens zentral, genauso die staatliche Kontrolle \u00fcber den Kapitalmarkt und die F\u00fchrungsfunktion von Staatsbetrieben durch Investition in f\u00fcr Privatkapital unprofitable, aber f\u00fcr die ISI wesentliche Sektoren und/oder durch Bereitstellung von billigen Zwischeng\u00fctern f\u00fcr die privatwirtschaftlichen ISI-Betriebe. Ohne aktive staatliche Intervention wird sich die investitions- und exportf\u00f6rdernde Geldpolitik, zumal in einem sehr schwierigen \u00f6konomischen Umfeld der Krise, nicht in importsubstituierende Investitionen umsetzen, sondern vielmehr in der Aufrechterhaltung des laufenden Gesch\u00e4fts oder Investitionen in Immobilien und nicht-produktive Anlagen zwecks Verm\u00f6genswahrung/-mehrung angesichts der Inflation niederschlagen. Dies wird auch von einigen Industrie- und Handelskapitalisten (etwa der Industrie- und Handelskammer Mersin) und den f\u00fchrenden Fraktionen des Kapitals kritisch festgehalten. Denn auch die Ersetzung von Importen durch den Aufbau von importsubstituierenden Produktionskapazit\u00e4ten geht ja nicht von heute auf morgen vonstatten, sondern bedarf mehrerer Jahre, unter Umst\u00e4nden sogar Dekaden. Zudem beinhaltet sie \u2013 unter kapitalistischen Bedingungen \u2013 ein gewisses Risikos seitens der jeweiligen individuellen Investoren, da die Erfolgsaussichten der neuen Produktionskapazit\u00e4ten unter anderem wegen noch fehlender Konkurrenzf\u00e4higkeit fraglich sind. Kein individueller Privatkapitalist wird ein solches Risiko eingehen, ohne mehr staatliche Unterst\u00fctzung als blo\u00df billige Kredite zu bekommen. Diese m\u00fcsste auch Elemente einer protektionistischen Zollpolitik beinhalten, die die importsubstituierenden Produktionssektoren gegen\u00fcber der in der Aufbauphase wettbewerbsf\u00e4higeren ausl\u00e4ndischen Konkurrenz sch\u00fctzt. Ganz zu schweigen von dem Hauptproblem der ISI: Jeder bisherige Versuch eines Aufbaus importsubstituierender Kapazit\u00e4ten bedurfte teils erheblicher Importe, n\u00e4mlich Importe von Kapitalg\u00fctern (Produktionsmittel, Technologien) zumindest bis zu dem Punkt, an dem eine Volkswirtschaft die Grundlagen f\u00fcr eine selbst\u00e4ndige Hochtechnologieg\u00fcter- und Wissensproduktion errichtete. In der T\u00fcrkei wurde letzteres \u2013 im Unterschied zu beispielsweise S\u00fcdkorea \u2013 bis zum heutigen Tag nicht erreicht, weswegen ihr Status innerhalb der Weltwirtschaft immer noch semi-peripher ist. Daher w\u00fcrde die T\u00fcrkei auch bei einem erneuten, diesmal neoliberalen Anlauf zu einer (vertieften?) ISI zumindest noch eine Weile lang von wichtigen Importen abh\u00e4ngig bleiben. Es ist daher mehr als fraglich, ob die Vorteile einer massiv entwerteten Lira aus Perspektive einer solchen neoliberalen ISI die Nachteile derselben aufwiegen w\u00fcrden (Vorteile: billigere und daher mehr Exporte; Nachteile: massiv verteuerte und f\u00fcr die Produktion notwendige Importe).
Der quasi-Cheftheoretiker des neuen Kurses, \u015eefik \u00c7al\u0131\u015fkan, verteidigt mit ganz viel populistischem Pseudo-Antiimperialismus gew\u00fcrzt nicht nur eine neoliberale ISI durch die Kombination aus Negativzins- und Liraentwertungspolitik. Er ist zudem der \u00dcberzeugung, dass der daraus entstehende enorme Druck auf die Lira, den Binnenmarkt und -konsum sowie die massive Dollarisierung gut sei, weil der Zwang zum Export die Deviseneinkommen der Unternehmen, damit die Einkommen der in diesen Unternehmen Besch\u00e4ftigten und des Staates sowie wegen der hohen Dollarisierung allgemein das Einkommen aller Bev\u00f6lkerungsteile steigern w\u00fcrde. Damit w\u00e4re im Namen des Anti-Imperialismus de facto eine vollst\u00e4ndige Kopplung der Lira an den Dollar vollzogen, ohne die Lira formell abzuschaffen. Wie die t\u00fcrkische Wirtschaft, die jetzt schon mit den Problemen der Entwertungs- und Inflationswelle k\u00e4mpft (Unm\u00f6glichkeit der kurzfristigen Preis- und Zahlungs- und damit der Investitionsplanung und der wirtschaftlichen T\u00e4tigkeit \u00fcberhaupt), ein solches Programm tragen soll, das bei Implementierung eine bisher noch nie gesehene rasende Entwertungs- und Inflationsspirale lostreten w\u00fcrde, taucht im Phantasiekonstrukt des \u015eefik \u00c7al\u0131\u015fkan nicht als Problem auf. Dem Narren erscheint die Welt als ein einfaches Spiel.
Das gro\u00dfe Durchwurschteln
Letztlich zeigt ja die Einf\u00fchrung des KKM-Instruments, dass auch dem Regime klar ist, dass es ein Limit gibt, ab dem die Lira-Entwertung(sspirale) f\u00fcr die t\u00fcrkische Wirtschaft untragbar wird. Weitere im Verlauf der letzten Monate implementierte Ma\u00dfnahmen unter dem Schlagwort der \u201eLiraisierungsstrategie\u201c (lirala\u015fma stratejisi) dienen ebenfalls dem Ziel, den Wert der Lira durch Reduzierung der Dollarisierung beziehungsweise durch Erh\u00f6hung der Devisenreserven der TCMB (oder Verkauf derselben gegen Lira) zu stabilisieren (40 Prozent der Devisenerl\u00f6se von Exporteuren m\u00fcssen an die Zentralbank verkauft werden; Devisennutzung bei kommerziellen Transaktionen im Inland wird immer st\u00e4rker beschr\u00e4nkt/verboten; zus\u00e4tzliche Anreize f\u00fcr Unternehmen und Banken, das KKM-Format zu nutzen, werden geschaffen).
Wahrscheinlicher ist es daher davon auszugehen, dass der derzeit eingeschlagene wirtschaftspolitische Kurs der x-te erneute Versuch des Krisenmanagements und der autorit\u00e4ren Konsoliderung darstellt anstatt des \u00dcbergangs zu einem neuen Akkumulationsregime. Die expansive Wirtschaftspolitik und insbesondere das KKM zielen offensichtlich darauf ab, die negativen Effekte der Wirtschaftskrise auf die Breite der Bev\u00f6lkerung und der kleinen und mittelst\u00e4ndischen Unternehmen (KMU) abzufedern und damit Zeit zu gewinnen, vermutlich bis zu den n\u00e4chsten Parlaments- und Pr\u00e4sidentschaftswahlen (regul\u00e4r im Sommer 2023). Derzeit sind weitere Ma\u00dfnahmen und Finanzinstrumente angedacht, die ebenfalls darauf abzielen die Effekte der Inflation auf die Breite der Bev\u00f6lkerung abzud\u00e4mpfen (Preiskontrollen bei Grundg\u00fctern, inflationsindexierte Finanzinstrumente). Zudem wurde wieder ein Kreditpaket f\u00fcr importsubstituierende Unternehmen (Produktionsmittelproduktion) und Exporteure zu sehr g\u00fcnstigen Konditionen (neun Prozent Zinsen) deklariert. Freilich geht all dies massiv zulasten des Staatsbudgets und ist wegen der symptomatischen Herangehensweise notwendig transitorischer Art. Sowieso ist es fragw\u00fcrdig, ob die Rechnung des Regimes aufgeht \u2013 siehe Inflation. Die Probleme akkumulieren sich so immer mehr und ihre im kapitalistischen Sinne produktive L\u00f6sung wird weiter vertagt.
Dieser Versuch der Rekonsolidierung des Krisenmanagements bringt auch einen Kampf um hegemoniale Strategien mit sich, der nicht so einseitig ist, wie er auf den ersten Blick erscheint. Er ist daher genauer zu analysieren.
K\u00e4mpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise
Es wurde zur Gen\u00fcge und detailreich festgehalten, dass die heterodoxe/expansive Wirtschaftspolitik die Stabilisierung der Akkumulation binnenmarktorientierter oder weniger importabh\u00e4ngiger aber exportorientierter KMUs und des Binnenmarktkonsums, das hei\u00dft des Konsums der breiten Bev\u00f6lkerungsmasse anvisiert. Betrachtet man die Reaktionen auf das \u201eT\u00fcrkische Wirtschaftsmodell\u201c und das KKM, kann man sehen, dass es tendenziell die f\u00fchrenden Fraktionen des Kapitals (T\u00dcSIAD) und die Industriellen (Istanbuler Industriekammer, ISO) sind, die diese Ma\u00dfnahmen scharf kritisieren. Umgekehrt sind es tendenziell binnenmarktorientierte und/oder exportorientierte KMUs, die die Ma\u00dfnahmen teils mit gl\u00fchendem Eifer begr\u00fc\u00dfen.
Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich die Sache aber als etwas komplizierter: Einerseits beschweren sich die mit dieser Wirtschaftspolitik vom Regime anvisierten Kapitalfraktionen \u00f6fter, als auf den ersten Blick erscheint, \u00fcber die Folgen der Wirtschaftskrise und des Krisenmanagements, andererseits profitiert das Gro\u00dfkapital mehr vom derzeitigen Regime, als die These vom \u201eKampf zwischen international orientiertem Gro\u00dfkapital und binnenmarktorientierten/importschwachen aber exportorientierten KMUs\u201c nahelegt.
Der Reihe nach. All die als Hauptprofiteure der heterodoxen/expansiven Wirtschaftspolitik analysierten Kapitalfraktionen beziehungsweise Verb\u00e4nde haben sich im vergangenen halben Jahr eben so oft \u00fcber die Wirtschaftspolitik und ihre Folgen beschwert, wie sie diese hochgelobt haben. So kritisierten die Union der Kammern und B\u00f6rsen der T\u00fcrkei (T\u00fcrkiye Odalar ve Barolar Birli\u011fi, TOBB) und die Istanbuler Handelskammer (ITO) die Zinssenkungsentscheidungen, die massive Entwertung der Lira \u00fcber die dadurch gew\u00e4hrten kompetitiven Vorteile hinaus, die dadurch entstehendewirtschaftliche Unvorhersehbarkeit und die Verunm\u00f6glichung der Preiskalkulation. Sie verlangten dringende Ma\u00dfnahmen, um die wirtschaftliche Stabilit\u00e4t wieder herzustellen. Der als Flaggschiff der AKP-nahen Kapitalfraktionen geltende Verband Unabh\u00e4ngiger Unternehmer (M\u00fcstakil Sanayici ve \u0130\u015f Adamlar\u0131 Derne\u011fi, M\u00dcSIAD) benannte noch Ende November und Anfang Dezember 2021 ebenfalls alle diese Probleme als gewichtig. Der M\u00dcSIAD-Vorsitzende Mahmuat Asmal\u0131 hielt einen Dollar-Kurs von 8 bis 9 Lira f\u00fcr vern\u00fcnftig und kompetitiv, nicht jedoch dar\u00fcber. Noch Anfang des Jahres beschwerte sich der M\u00dcSIAD dar\u00fcber, dass sich der niedrige Leitzins nicht auf die Zinsen f\u00fcr kommerzielle Kredite niederschlage. Eines der wichtigsten Ziele der heterodoxen Wirtschaftspolitik ist es ja gerade, Kredite zu niedrigen Zinsen f\u00fcr binnenmarktorientierte Unternehmen bereitzustellen. Die Inflation, die \u00f6konomische Unsicherheit und freilich die Macht der Banken erschwert diese Absicht allerdings.
Dass sich auch die binnenmarkt- und/oder exportorientierte KMUs beschweren, hat gute Gr\u00fcnde. Zu stark steigende Preise importierter Inputs sind ein riesiges Problem, wie auch die Vereinigung Istanbuler Konfektionskleidungsexporteure (\u0130stanbul Haz\u0131r Giyim ve Konfeksiyon \u0130hracat\u00e7\u0131lar\u0131 Birli\u011fi, IHKIB) oder der Verband der Kleidungsunternehmer (T\u00fcrkiye Giyim Sanayicileri Derne\u011fi, TGSD) betonen, da sie die durch eine Lira-Entwertung entstehenden preislichen Wettbewerbsvorteile hinsichtlich des Exports gleich wieder revidieren beziehungsweise die inl\u00e4ndischen Verkaufspreise stark erh\u00f6hen. So ist es dann auch der Fall, dass der Auslandserzeugerpreisindex (die Preise, die Hersteller f\u00fcr G\u00fcter verlangen, die f\u00fcr den Export bestimmt sind) mit knapp \u00fcber 105 Prozent im M\u00e4rz 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast genau so exorbitant stieg wie der Inlandserzeugerpreisindex (fast 115 Prozent). Die wellenf\u00f6rmige Steigerung der Inflationsrate und die Entwertung der Lira in sehr kurzen Zeitr\u00e4umen erschwert bis verhindert durch die Unvorhersehbarkeit und die Unm\u00f6glichkeit der robusten Preiskalkulation auch das Gesch\u00e4ft der KMUs, wie diese ja selbst festhalten. So autark und unabh\u00e4ngig von Importen ist kein Betrieb, dass er von diesen Entwicklungen nicht betroffen w\u00e4re. Umgekehrt w\u00fcrde eine von der neoliberalen Orthodoxie vorgesehene Kreditkontraktion und eine immense Erh\u00f6hung der Zinsen zwecks Stabilisierung des Lira-Kurses und der erneuten Attraktion von ausl\u00e4ndischem Kapital ziemlich sicher zum Bankrott vieler KMUs f\u00fchren. Sie befinden sich daher objektiv in einer Zwickm\u00fchle, aus der es derzeit keinen gem\u00fctlichen Weg raus gibt. Daher sind auch objektiv unterschiedliche Strategien mit unterschiedlichen Risiken als L\u00f6sungsversuch der Krise und Fortsetzung der Akkumulation m\u00f6glich.
Wirtschaftspolitik als Teil des Kampfes um hegemoniale Strategien
Die Wirtschaftspolitik des Regimes muss daher konzeptionell klarer gefasst werden als Teil eines allgemeineren Hegemoniekampfes, der K\u00e4mpfe um die dominante \u00f6konomische Strategie und ihre politische F\u00fchrung inkludiert, und nicht als eine eins-zu-eins Repr\u00e4sentation pr\u00e4-strategisch gegebener \u00f6konomischer Interessen in der politischen Sph\u00e4re. In der Kalkulation des Regimes ist eine R\u00fcckkehr zu orthodoxer neoliberaler Wirtschaftspolitik \u2013 wegen der dann zu erwartenden Bankrottwelle und des (zumindest vor\u00fcbergehend) noch massiveren Einbruchs des Haushaltskonsums als derzeit \u2013 mit viel h\u00f6heren politischen Kosten verbunden als eine Wirtschaftspolitik, die versucht, sich inmitten der Wirtschaftskrise durchzuwurschteln und die Kriseneffekte auf KMUs und Binnenkonsum so weit wie m\u00f6glich abzufedern. Dabei versucht das Regime an die Existenz\u00e4ngste vieler KMUs anzukn\u00fcpfen und durchzusetzen, dass diese ihr unmittelbares \u00dcberleben oder ihre unmittelbare Akkumulation als strategisches Primat ansehen \u2013 und das Regime als jene politische F\u00fchrung, die dieses strategische Primat einzig umzusetzen in der Lage ist. Es ist aber objektiv \u00fcberhaupt nicht absehbar, ob die vom Regime verfolgte Strategie allein noch das \u00dcberleben vieler KMUs garantieren kann, oder ob sie nicht viel eher die Krisendynamik und damit auch den Druck auf jene KMUs versch\u00e4rft, was derzeit als objektiv wahrscheinlich erscheint.
Es sind aber auch andere strategische Perspektiven m\u00f6glich. So k\u00f6nnten leistungsstarke KMUs, die den kompetitiven Druck einer orthodoxen Geldpolitik aushalten k\u00f6nnen, daf\u00fcr optieren, gemeinsam mit den f\u00fchrenden Fraktionen des Kapitals f\u00fcr eine Re-Integration der T\u00fcrkei in die globale Weltwirtschaft auf erweiterter Stufenleiter zu streiten und L\u00e4nder wie China dadurch in den Lieferketten abzul\u00f6sen. Wie Hakk\u0131 \u00d6zdal in Bezug auf die Wahl des neuen T\u00dcS\u0130AD-Pr\u00e4sidenten Orhan Turan, ehemals Pr\u00e4sident der T\u00dcSIAD-nahen Vereinigung von kleinen und mittleren Kapitalisten (T\u00dcRKONFED), im M\u00e4rz 2022 ganz richtig festhielt, gibt es derzeit in der T\u00fcrkei kein Monopol (mehr?) auf die politische Repr\u00e4sentation der kleinen und mittleren Kapitalisten. Es wird vielmehr um diese Repr\u00e4sentation gerungen, was auch bedeutet, um unterschiedliche \u00f6konomische Strategien zu k\u00e4mpfen. Wir werden in n\u00e4chster Zeit vermutlich sehen, wie der oppositionelle Restaurationsblock versuchen wird, eine alternative \u00f6konomische Strategie auch f\u00fcr KMUs zu entwerfen. Es ist nicht allein die objektive Stellung im Produktionsprozess im Allgemeinen wie im Besonderen (in einem bestimmten Akkumulationsregime zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung desselben), die die Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen determiniert, denn aus deren Stellungen im Produktionsprozess heraus sind objektiv unterschiedliche Perspektiven m\u00f6glich. Diese und damit die Interessen der Kapitalfraktionen werden daher co-determiniert von politischen K\u00e4mpfen um \u00f6konomische und gesamtgesellschaftliche Strategien.
Den \u00f6konomisch f\u00fchrenden Fraktionen des Kapitals geht es indes viel besser, als ihre f\u00fcr kapitalistische Verh\u00e4ltnisse lautstarke Kritik an der Politik des Regimes glauben lassen w\u00fcrde. Die f\u00fchrenden Gro\u00dfunternehmen der T\u00fcrkei erzielten teils exorbitante Profite (Metall, Automobil, Getr\u00e4nke, Kommunikation, bis Ende 2021; Bankensektor: +57 Prozent, 2021 im Vergleich zum Vorjahr, +323 Prozent, Januar-Februar 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum). Die Negativzinspolitik der Zentralbank hebt die Zinseinkommen der (Privat-)Banken, anstatt sie zu senken, da diese die niedrigen Zinsen nicht so an Kreditnehmer*innen weitergeben und die wachsende Differenz als steigende Profite einkassieren (der Zins auf Kredite lag Ende M\u00e4rz 2022 je nach Art des Kredits bei 20 bis 30 Prozent gegen\u00fcber 14 Prozent Zentralbankleitzins und 16 bis 17 Prozent Einlagenzins; dazu kommen noch die steigenden Zinsen auf Staatsanleihen). Das ist es letztlich, wor\u00fcber sich der M\u00dcSIAD noch Anfang des Jahres beschwerte. Zudem sorgt die hohe Verschuldung des Staates an t\u00fcrkische Banken in Devisen oder inflationsindexierten Staatsanleihen f\u00fcr die exorbitant steigenden Bankenprofite. Die gr\u00f6\u00dfte Unternehmensgruppe der T\u00fcrkei, Ko\u00e7, die politisch klar oppositionell zum Regime eingestellt ist, t\u00e4tigt derzeit mit Unterst\u00fctzung von Pr\u00e4sident Erdo\u011fan gro\u00dfe Investitionen in die E-Fahrzeug- und -Batterien-Produktion. Eines der Flaggschiffe der Ko\u00e7-Gruppe, Ford Otosan, erh\u00f6hte seine Profite 2021 um fast 100 Prozent; die gesamte Unternehmensgruppe berichtet von einer Zunahme der konsolidierten Gewinne von 89 Prozent.
So sehr die derzeitige Wirtschaftspolitik und politische \u00d6konomie der T\u00fcrkei auch von konkurrierenden (bzw. sich in Krise befindenden) Strategien und Hegemonieprojekten gekennzeichnet ist, beh\u00e4lt sie bei allen Differenzen und Widerspr\u00fcchen doch ein grundlegendes Element der Einheit bei, namentlich, dass sie hinsichtlich der Distributionsverh\u00e4ltnisse eindeutig zulasten des Gro\u00dfteils der Werkt\u00e4tigen und zugunsten des Kapitals im Allgemeinen geht: So sank die Lohnquote sukzessive von 35,1 Prozent im Jahre 2019 auf 33,1 Prozent im Jahr 2020 und letztlich 30,2 Prozent im Jahr 2021, w\u00e4hrend die Gewinnquote in der selben Zeit von 47 Prozent auf 52,6 Prozent zulegte. Die realen durchschnittlichen Bruttol\u00f6hne gingen zwischen 2016 und 2020 um sagenhafte 42,2 Prozent zur\u00fcck (Inflation!); auch der Haushaltskonsum ging, trotz Kreditst\u00fctzen in den letzten Jahren, zur\u00fcck von 65 Prozent im Jahr 2012 auf 56 Prozent im Jahr 2021 (im Verh\u00e4ltnis zum BIP). Dabei verdeckt die permanente Erh\u00f6hung des Mindestlohns einerseits, dass dieser dennoch sehr niedrig bleibt (wieder: Inflation!), andererseits, dass sich die Durchschnittsl\u00f6hne seit 1980 zunehmend dem Mindestlohn anpassen, dass also eine Abw\u00e4rtsspirale und nicht eine Aufw\u00e4rtsspirale der L\u00f6hne stattfindet, und zwar auch im \u00f6ffentlichen Sektor und damit in der Beamtenschaft. Zugleich wird derzeit eine weitere Erh\u00f6hung des Mindestlohns wegen des davon ausgehenden \u201einflation\u00e4ren Drucks\u201c abgelehnt, was nat\u00fcrlich reichlich grotesk ist angesichts einer Wirtschaftspolitik, die auch schon ohne Lohnerh\u00f6hungen zu einer historisch hohen Inflationsrate f\u00fchrt, und zugleich Abermilliarden f\u00fcr Unternehmen und Verm\u00f6gende bereitstellt. Aber das Argument des \u201einflation\u00e4ren Drucks\u201c, das gegen die Mindestlohnerh\u00f6hung genutzt wird, ist nat\u00fcrlich nur Ideologie zwecks Rationalisierung einer klar pro-kapitalistischen Politik. Insofern ist nichts \u201egroteskes\u201c dran, denn es ist knallharte Interessenpolitik. Einen grundlegenden Bruch mit wichtigen Prinzipien des Neoliberalismus in der T\u00fcrkei (Unterdr\u00fcckung der Arbeiter*innenklasse, kein produktiver Staatssektor), seinen \u00f6konomisch dominanten Akteuren und der Integration desselben in die Weltwirtschaft hat das Regime bei allen Abweichungen von bestimmten Prinzipien (bspw. von der neoliberal-orthodoxen Geldpolitik) \u2013 noch? \u2013 nicht vollzogen. W\u00e4hrend sich also der politische Autoritarismus nicht einfach aus dem Neoliberalismus (und seiner Krise) ableiten l\u00e4sst, ist es allerdings umgekehrt auch nicht der Fall, dass der politische Autoritarismus den Neoliberalismus einfach vollst\u00e4ndig destruiert. Das Verh\u00e4ltnis beider ist also dialektisch als ein inneres, aber widerspr\u00fcchliches zu verstehen, egal, ob man die Situation nun als \u201eautorit\u00e4rer Neoliberalismus\u201c, \u201eautorit\u00e4rer Etatismus im Neoliberalismus\u201c oder \u201eneoliberaler Etatismus\u201c verbegrifflicht.
Die alternative Perspektive der f\u00fchrenden Fraktionen des Kapitals
Aus all diesen Gr\u00fcnden ist es auch unter den heutigen Bedingungen schlicht nicht richtig, davon zu sprechen, dass es zu einem gro\u00dfen Bruch zwischen Gro\u00dfbourgeoisie und der AKP gekommen ist. Richtiger ist es, festzustellen, dass es gro\u00dfe Konflikte und daher Hegemoniek\u00e4mpfe um die zu befolgenden Strategien gibt, die umfassenderer Natur sind als j\u00e4hrliche Profitmargen, wobei diese Hegemoniek\u00e4mpfe aber keinen \u201egro\u00dfen Bruch\u201c darstellen.
Der T\u00dcSIAD beschwert sich dabei schon seit Jahren \u00fcber die heterodoxe Wirtschaftspolitik und ihre Folgen und verlangt eine orthodoxe Rejustierung derselben. So auch in den letzten Monaten. Dabei geht es nicht nur um die unmittelbaren Interessen der f\u00fchrenden Fraktionen des Kapitals wie beispielsweise die mittels orthodoxer Geldpolitik und Institutionen prognostizierte erneut einsetzende Attraktion von gro\u00dfen Summen an ausl\u00e4ndischem Kapital f\u00fcr gro\u00dfe Investitionen und die von fast allen Kapitalfraktionen geteilte Forderung nach Stabilisierung von Wechselkurs und Inflation zwecks Vorhersehbarkeit und robuster Preiskalkulation. Der T\u00dcSIAD visiert offensichtlich auch eine spezifische hegemoniale und \u00f6konomische Strategie an: Hegemonial betrachtet herrscht aufseiten des T\u00dcSIAD die Sorge vor, dass die massive \u00f6konomische Ungleichheit und die Krise des politischen Autoritarismus starke sozial destabilisierende Effekte haben k\u00f6nnte. (Die ITO ist dieser Problematik gegen\u00fcber \u00fcbrigens auch nicht vollst\u00e4ndig blind.) Daher die wiederholte Forderung von \u201epluraler Demokratie, Gewaltenteilung, Freiheiten\u201c einerseits, einer anti-inflation\u00e4ren Wirtschaftspolitik andererseits. Freilich findet sich in den Aussagen und Publikationen des T\u00dcSIAD wenig Konkretes zur Ver\u00e4nderung des Arbeitsmarktes oder zur Institutionalisierung sozialer Rechte. Die Hoffnung liegt klar auf einem sich selbst tragenden neoliberalen Wachstumsmodell mit Produktivit\u00e4tsfortschritten, aus dem ohne gro\u00dfe Verrechtlichung der Marktbeziehungen im Sinne der Werkt\u00e4tigen und ohne allzu gro\u00dfen Ver\u00e4nderungen der Distributionsverh\u00e4ltnisse genug f\u00fcr die Werkt\u00e4tigen abspringt, damit diese befriedet sind.
Gleichzeitig ist der T\u00dcSIAD der Meinung, dass die kurzfristige Orientierung der Wirtschaftspolitik die kapitalistische Entwicklung der T\u00fcrkei blockiere, insofern es mit ihr nicht m\u00f6glich sei, einen Aufstieg der t\u00fcrkischen Wirtschaftsstruktur im System der internationalen Arbeitsteilung zu erlangen. Das hei\u00dft, der T\u00dcSIAD visiert mittel- bis langfristig eine ganz andere hegemoniale \u00f6konomische Strategie an, als in der derzeitigen vom Krisenmanagement dominierten Wirtschaftspolitik des Regime enthalten ist. Letztere ist notgedrungen kurzfristig angelegt und enth\u00e4lt derzeit wenig Potenziale f\u00fcr eine kapitalistische Akkumulation auf qualitativ erweiterter Stufenleiter. Diese \u00f6konomische wie auch politisch-regulative hegemoniale Strategie hat der T\u00dcSIAD nun Ende letztes Jahres zu einem Bericht mit dem unmissverst\u00e4ndlichen Titel Yeni Bir Anlay\u0131\u015fla Gelece\u011fi \u0130n\u015fa, \u00fcbersetzt in etwa \u201eMit einer neuen Vision die Zukunft gestalten\u201c synthetisiert und der \u00d6ffentlichkeit pr\u00e4sentiert. Murat Sabuncu h\u00e4lt ganz richtig fest, dass sich dieser Bericht nicht allein an Unternehmer*innen, sondern an die Breite der Gesellschaft wendet, sprich einen hegemonialen Anspruch hat. Der Kampf um die Krise des Neoliberalismus geht also in eine neue Runde.
Altbekannte und (scheinbar) neue Taktiken der autorit\u00e4ren Konsolidierung
In diesem Kampf um die Krise des Neoliberalismus, in dem das Regime um seinen politischen Machterhalt k\u00e4mpft, sind die Kampfmethoden nat\u00fcrlich nicht blo\u00df \u00f6konomischer Art. Die altbekannten und scheinbar neue Taktiken der autorit\u00e4ren Konsolidierung werden ebenfalls fortgesetzt. Diese visieren, wie ehedem, Unterdr\u00fcckung, Zerm\u00fcrbung, Spaltung und Integration der Opposition aber auch die Etablierung einer popularen Legitimationsbasis f\u00fcr den Autoritarismus an. Weiterhin werden Hunderttausende Webseiten blockiert, weitfl\u00e4chig Druck und Repression gegen Medien und Oppositionelle ausge\u00fcbt sowie an einem Gesetz zur weiteren Kriminalisierung von Meinungs\u00e4u\u00dferungen auf Social Media-Plattformen unter dem Vorwand der Bek\u00e4mpfung von \u201efake news\u201c gearbeitet. Erdo\u011fan selbst deklarierte j\u00fcngstsocial media als \u201eeiner der gr\u00f6\u00dften Gef\u00e4hrdungsquellen f\u00fcr die heutige Demokratie\u201c. \u00dcber 200 Kundgebungen und Demonstrationen wurden unter vorgeschobenen Gr\u00fcnden des Infektionsschutzes w\u00e4hrend der Pandemie verboten (w\u00e4hrend vom Regime wohlwollend betrachtete Massenereignisse nat\u00fcrlich erlaubt und sogar gefeiert wurden). Auch sonst geht die mehr oder minder verdeckte (Androhung von) Gewalt gegen (f\u00fchrende) Oppositionelle und Kulturschaffende ungebrochen weiter. Die T\u00fcrkei bleibt das nach Russland dasjenige europ\u00e4ische Land, in dem sich proportional zur Bev\u00f6lkerung die meisten Menschen im Gef\u00e4ngnis befinden. Den protestierenden und streikenden \u00c4rzt*innen wurde von Erdo\u011fan vorgeworfen, sie h\u00e4tten Luxusprobleme und sollten das Land verlassen, wenn es ihnen nicht passt (nur um ein Tag danach die selben \u00c4rzt*innen in den Himmel zu loben und einer Reihe ihrer Forderungen nachzugeben).
Offensichtlich als Teil des de facto schon begonnenen Wahlkampfs wurde die Repression k\u00fcrzlich noch einmal besonders versch\u00e4rft: Zum Abschluss eines jahrelangen Schauprozesses gegen einige in den Gezi-Protesten 2013 involvierte wichtige zivilgesellschaftliche Akteur*innen wurden Ende April 2022 drakonische Strafen verh\u00e4ngt, darunter auch gegen den gro\u00dfb\u00fcrgerlich-liberalen M\u00e4zen Osman Kavala, der zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen (a\u011f\u0131rla\u015ft\u0131r\u0131lm\u0131\u015f m\u00fcebbet) verurteilt wurde. Gleichzeitig lancierte der t\u00fcrkische Staat eine gro\u00dfangelegte Milit\u00e4roffensive gegen Teile der als PKK-St\u00fctzpunkte genutzten Kandilberge im Irak, wobei diese parallel \u2013 und vermutlich zuvor mit der T\u00fcrkei abgestimmt \u2013 begleitet wurde von einer Offensive der Truppen der irakischen Regierung gegen das PKK-nahe ezidisch dominierte Schengal.
Islamisierung und autorit\u00e4re heteronormativ-familiale Geschlechterpolitik bilden weiterhin eine wichtige Grundlage f\u00fcr den Versuch, einen autorit\u00e4ren Konsens herzustellen als Legitimationsbasis f\u00fcr das autorit\u00e4re Regime. Die Kriminalisierung und Repression von LGBTQI+-Identit\u00e4ten wird weiterhin konstant betrieben. Der Chef der Religionsbeh\u00f6rde Diyanet, Ali Erba\u015f, kann eine umfassende Kritik am Laizismus lancieren und die Forderung aufstellen, Korankurse f\u00fcr 4-6j\u00e4hrige Kinder nicht mehr als Wahl-, sondern als Pflichtfach einzuf\u00fchren. Die Forderung nach einem \u201ereligi\u00f6sen\u201c Grundgesetz (ehemaliger Parlamentssprecher Ibrahim Kahraman, AKP) wird wieder en vogue. Der Freitod eines jungen Studierenden, Enes Kara, der die unertr\u00e4glichen Verh\u00e4ltnisse in einem religi\u00f6sen Wohnheim nicht mehr aushielt, befeuerte erneut die Debatte um die Schlie\u00dfung religi\u00f6ser Heime.
Auch die scheinliberalen Versuche und Ref\u00f6rmchen zur Einbindung der Hauptoppositionsparteien gehen weiter: So wurde hinter den Kulissen dar\u00fcber diskutiert, das Pr\u00e4sidialsystem dahingehend zu modifizieren, dass die Minister nicht mehr wie bisher von Pr\u00e4sidenten ernannt, sondern vom Parlament gew\u00e4hlt werden und das Parlament wieder das Recht auf Anfragen und \u00e4hnliches einger\u00e4umt bekomme. Nat\u00fcrlich w\u00e4re das nur eine Scheinliberalisierung gewesen, da derzeit ja auch das Parlament noch von AKP-MHP dominiert wird. Zudem war die \u201eKonzession\u201c verbunden mit dem Vorschlag, die Auflage einer absoluten Mehrheit (\u00fcber 50 Prozent der g\u00fcltigen Wahlstimmen) f\u00fcr den erfolgreichen Sieg in der ersten Runde einer Pr\u00e4sidentschaftswahl abzuschaffen. Offensichtlich halten es auch AKP-MHP f\u00fcr wahrscheinlich, dass Erdo\u011fan nicht mehr in der ersten Runde der Pr\u00e4sidentschaftswahlen gewinnen k\u00f6nnte. Denn kontr\u00e4r zur nach au\u00dfen kommunizierten Hybris ist den AKP-Entscheidungstr\u00e4gern intern nat\u00fcrlich klar, dass die wirtschaftliche Krise und \u201eM\u00e4ngel im Pr\u00e4sidialsystem\u201c (aka Willk\u00fcr, Repression insbesondere gegen\u00fcber Kurd*innen, politisierte Justiz) die Gr\u00fcnde f\u00fcr den (prognostizierten) Stimmenverlust sind und dass die Opposition gewonnen werden muss f\u00fcr eine (leichte) Modifikation des Pr\u00e4sidialsystems (wobei klar ist, dass am Prinzip des Pr\u00e4sidialsystems nichts ge\u00e4ndert werden soll). Sp\u00e4ter, im M\u00e4rz 2022, als die Novellierung des Wahlgesetzes eigentlich schon als sicher galt (siehe ein paar Abs\u00e4tze weiter unten), sickerte durch, dass AKP und MHP zu einer weiteren Senkung der Wahlh\u00fcrde auf drei Prozent bereit seien. Sie verlangten daf\u00fcr aber ein Ende der von der Opposition gef\u00fchrten Diskussion, ob Erdo\u011fan laut geltendem Gesetz \u00fcberhaupt erneut zu einer Kandidatur antreten d\u00fcrfe. [3]
Mittlerweile wurden auch zahlreiche \u201eMenschenrechtsaktionspl\u00e4ne\u201c oder \u201eJustizreformpakete\u201c \u2013 angeblich zur Verbesserung der menschenrechtlichen Situation \u2013 verk\u00fcndet. Freilich bleiben Selahattin Demirta\u015f, Figen Y\u00fckseda\u011f oder Osman Kavala weiterhin teils lebensl\u00e4nglich inhaftiert und werden als \u201eTerroristen\u201c oder \u201eSoros-Anh\u00e4nger\u201c verschrien. Angesichts der weiter oben ausgef\u00fchrten ununterbrochen fortgesetzten Repression gegen fast alle oppositionellen Teile der Gesellschaft ist klar, dass diese \u201eliberalen Ref\u00f6rmchen\u201c eh schon kaum das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben wurden. Aber sogar das war und ist zu viel f\u00fcr die Hardliner innerhalb des Regimes, wie die von Bah\u00e7eli wiederholt vorgebrachte Forderung nach der Schlie\u00dfung des Verfassungsgerichtes (AYM) und der R\u00fccktritt des Justizministers G\u00fcl (siehe unten) zeigen.
Es wird auch weiterhin die Handlungsf\u00e4higkeit der oppositionsgef\u00fchrten St\u00e4dte untergraben, um die \u2013 auf erfolgreiche Bereitstellung st\u00e4dtischer Dienstleistungen als materieller Grundlage basierende \u2013 Hegemoniepolitik der Opposition zu torpedieren: Beispielsweise bleiben weiterhin zentrale Metrolinien oder Bezirke Istanbuls in der Hand zentralstaatlicher Ministerien oder werden in diese \u00fcberf\u00fchrt; es werden weitere Metroprojekte durch die Stadt oder eine grundlegende \u00c4nderung des maroden Taxi-Systems auf die lange Bank geschoben oder zahlreiche andere kommunale Projekte in oppositionsgef\u00fchrten St\u00e4dten durch AKP-MHP oder zentralstaatliche Apparate gebremst oder gestoppt. Gegen mehr als 500 Mitarbeitende der Istanbuler Stadtverwaltung lancierte das Innenministerium zudem eine \u201eTerrorismus\u201c-Untersuchung, Bah\u00e7eli k\u00fcndigte daraufhin eine m\u00f6gliche Amtsenthebung des oppositionellen Istanbuler B\u00fcrgermeisters Imamo\u011flu an. Sogar die Schneest\u00fcrme in Istanbul wurden instrumentalisiert im Hegemoniekampf zwischen Regimekr\u00e4ften und Hauptoppositionparteien, indem sich beide Seiten wechselseitig Unf\u00e4higkeit vorwarfen und jeweils ihre eigenen Leistungen hervorhoben.
Die neuesten Man\u00f6ver
Nicht zuletzt sind zwei wichtige Entwicklungen zu nennen, die der Spaltung und Schw\u00e4chung der Opposition dienen: Zum einen die \u00c4nderung des Wahlgesetzes, zum anderen die politische R\u00fcckkehr einer Mitterechts-Hardlinerin der 1990er-Jahre, Tansu \u00c7iller.
Das Wahlgesetz war zuletzt 2018 grundlegend ge\u00e4ndert worden, um die Bildung von Wahl-Koalitionen zu erlauben. Es bildeten sich die bis heute bestehenden zwei Koalitionen: Das B\u00fcndnis des Volkes (Cumhur \u0130ttifak\u0131) des Regimes und das B\u00fcndnis der Nation (Millet \u0130ttifak\u0131), der b\u00fcrgerliche Hauptoppositionsblock. F\u00fcr Parteien, die Teil einer solchen Wahl-Koalition waren, galt die 10 Prozent-H\u00fcrde nicht; sie galt nur f\u00fcr die Koalition als Ganze. Der Stimmanteil der Koalition war ma\u00dfgeblich f\u00fcr den Anteil der Parlamentssitze, die die Koalition als Ganze erhielt; erst in einem zweiten Schritt wurden diese dann entsprechend des Stimmanteils der Koalitionsparteien unter diesen aufgeteilt wurden. Die Wahlgesetz\u00e4nderung von 2018 war ganz offensichtlich eine Ma\u00dfnahme, um der AKP-Partnerin MHP den Einzug ins Parlament zu garantieren, da damalige Umfragen die MHP unter der 10 Prozent-Wahlh\u00fcrde sahen (am Ende bekam sie allerdings doch 11 Prozent).
Auch die jetzt im Fr\u00fchjahr 2022 erfolgte grundlegende \u00c4nderung des Wahlgesetzes dient unmittelbar politischen Kalk\u00fclen des Regimes. Zwar wurde die Wahlh\u00fcrde jetzt auf 7 Prozent abgesenkt, um das Ganze als \u201eDemokratisierung\u201c verkaufen zu k\u00f6nnen. Aber einerseits ist wegen der M\u00f6glichkeit der Koalitionsbildung die Wahlh\u00fcrde derzeit de facto nicht mehr wirklich ein Hindernis, da alle relevanten Parteien entweder in Koalitionen organisiert sind oder, wie die linke und pro-kurdische Demokratische Partei der V\u00f6lker (Halklar\u0131n Demokratik Partisi, HDP), auch ohne Koalition \u00fcber die 10 Prozent-Wahlh\u00fcrde kommen. Zum anderen wurde vor allem die Parlamentssitzverteilung grundlegend ge\u00e4ndert. Es entscheidet bei koalierten Parteien zwar immer noch der Stimmenanteil der gesamten Koalition, ob die Wahlh\u00fcrde \u00fcberwunden und prinzipiell der Einzug ins Parlament geschafft wird oder nicht; bei der Sitzverteilung wird allerdings nicht mehr dem Stimmanteil der jeweiligen Koalitionen entsprechend aufgeteilt. Stattdessen wird von Anfang an der Stimmenanteil der einzelnen Parteien in den jeweiligen Wahlbezirken genommen und ausschlie\u00dflich daran die Sitzverteilung der einzelnen Parteien ausgemacht. Einer wahlarithmetischen Berechnung zufolge h\u00e4tte eine solche Form der Sitzverteilung bei den Wahlen 2018 zu knapp 36 mehr Sitzen f\u00fcr die Regime-Koalition und 44 weniger Sitzen f\u00fcr die Hauptoppositionskoalition gef\u00fchrt. Jetzt bedroht es zudem vor allem die Kleinstparteien, die mit dem Szenario konfrontiert sind, im Rahmen einer Oppositionskoalition zwar \u00fcber die Wahlh\u00fcrde zu kommen, aber wegen jeweils sehr kleinen Stimmanteilen gar keine Parlamentarier*innen stellen zu k\u00f6nnen \u2013 au\u00dfer sie stellen ihre Kandidat*innen auf den Listen der beiden gro\u00dfen mitte-rechts Hauptoppositionsparteien (die Republikanische Volkspartei CHP und die Gute Partei IYI) auf. Aber auch die IYI h\u00e4tte nach dem jetzt g\u00fcltigen Wahlsystem, so die erw\u00e4hnte Berechnung, trotz mehr als 10 Prozent der g\u00fcltigen Wahlstimmen 2018 keine einzige (!) Parlamentarier*in gestellt.
Gegen die M\u00f6glichkeit gemeinsamer Listen ist das Kalk\u00fcl von AKP-MHP, dass einerseits der Parteienegoismus der Kleinstparteien dieses Vorgehen verhindern k\u00f6nnte. Und \u2013 f\u00fcr den Fall der F\u00e4lle, dass dies nicht passiert \u2013 dass dann die W\u00e4hler*innenklientel der betreffenden Kleinstparteien, die ideologisch-kulturell haupts\u00e4chlich aus dem konservativ-islamischen Spektrum kommt, insbesondere die CHP nicht w\u00e4hlt. Diese wurde und wird im Zuge des Kulturkampfes des politischen Islams als repressiv antiislamisch und verwestlicht d\u00e4monisiert. AKP-MHP bauen also darauf, dass das Machtstreben der einzelnen Parteien sowie die polarisierte Identit\u00e4tsbildung mit dieser Ver\u00e4nderung des Wahlgesetzes zum entscheidenden Nachteil f\u00fcr die Opposition und Vorteil f\u00fcr das Regime wird, auch wenn ein potenzielles Wahlklientel des Regimes von vier bis sieben Prozent aller g\u00fcltigen Stimmen (Summe der Stimmen der Kleinstparteien laut aktuellen Umfragen) von AKP-MHP wegbricht. Eine weitere Alternative f\u00fcr die Opposition w\u00e4re die Bildung einer rechtskonservativen Koalition um IYI und die Kleinstparteien und somit die Bildung einer genuin rechtskonservativen Blockalternative unabh\u00e4ngig von der CHP. Es ist wahrscheinlicher, dass die W\u00e4hler*innen der Kleinstparteien deren Kandidat*innen auf Listen der IYI w\u00e4hlen statt auf Listen der CHP. Die Rechnung des Regimes geht bez\u00fcglich dieser Alternative dahingehend, dass die Aufspaltung des Hauptoppositionsblocks in zwei Koalitionen die Friktionen zwischen den jeweiligen Bl\u00f6cken und Parteien insbesondere entlang der \u201ekurdischen Frage\u201c st\u00e4rkt und ihr einheitliches Vorgehen erschwert. Zudem gibt es, wie erw\u00e4hnt, das Problem, in einer solchen Konstellation \u00fcberhaupt Parlamentarier*innen entsenden zu k\u00f6nnen. Oder aber der Hauptoppositionsblock h\u00e4lt im Rahmen der Millet \u0130ttifak\u0131 zusammen und gleichzeitig werden die Kandidat*innen der Kleinstparteien auf den Listen von IYI platziert (aber auch da bleibt das Problem bestehen, ob die IYI \u00fcberhaupt Parlamentarier*innen entsenden kann). Wie man es dreht und wendet, macht es diese Wahlgesetzes\u00e4nderung prima facie den Hauptoppositionsparteien die Rechnung schwerer als sie sonst w\u00e4re und das ist auch der haupts\u00e4chliche Grund f\u00fcr die jetzt erfolgte Wahlgesetz\u00e4nderung.
Zudem spielen vermutlich auch Friktionen zwischen AKP und MHP f\u00fcr die Gesetzes\u00e4nderung eine Rolle: Nicht nur k\u00f6nnen sich so beide Parteien f\u00fcr den eventuellen Niedergang des jeweils anderen die Option offen halten, in Zukunft in anderen Konstellationen weiterhin eine wichtige politische Rolle zu spielen oder bei geschw\u00e4chtem Partner mehr Macht innerhalb des Regimes einzufordern. Die Senkung der Wahlh\u00fcrde auf sieben Prozent ist insofern ein Sieg der MHP, insofern sie bei einer erfolgreichen \u00dcberwindung der H\u00fcrde \u2013 und dies erscheint derzeit als wahrscheinlich, wenn auch knapp \u2013 im Regime-internen Kampf um Macht mehr Gewicht bekommt, da sie es dann erneut ohne Garantie der Koalitionsform ins Parlament geschafft haben wird. Neben den unmittelbaren Machtanspr\u00fcchen der beiden Parteien gab es immer wieder auch inhaltliche Konflikte, vor allem in der sogenannten \u201ekurdischen Frage\u201c und angesichts der (vor allem syrischen) Gefl\u00fcchteten im Land. W\u00e4hrend die MHP eine bedeutend h\u00e4rtere Gangart gegen die Kurd*innen vertritt, versucht die AKP immer wieder, auch die militarisierte Politik oberfl\u00e4chlich mit integrativen Balanceakten zu versehen. Ein Grund daf\u00fcr ist, dass die AKP immer noch Wahlpotenzial unter konservativen Kurd*innen besitzt, w\u00e4hrend die t\u00fcrkistische MHP nie kurdisches Wahlpotenzial besa\u00df. Gegen\u00fcber Gefl\u00fcchteten vertritt die MHP \u2013 wie ein Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung auch \u2013 eine stark ablehnende Haltung, w\u00e4hrend die AKP (neben der HDP als einzige Partei im Parlament und aus anderen Gr\u00fcnden als die HDP) eine positive Haltung dazu einnimmt.
Das erneute Auftauchen von Tansu \u00c7iller auf der politischen Arena ist Teil des Versuchs, die mitte-rechts Opposition zu spalten. \u00c7iller ist die wichtigste Pers\u00f6nlichkeit aus der Tradition des rechten Liberalkonservatismus in der T\u00fcrkei, die seit 2018 ihre Unterst\u00fctzung f\u00fcr die AKP ausgesprochen hat. Unter ihrer Ministerpr\u00e4sidentschaft fand die Ausweitung des extralegalen Kriegsf\u00fchrung (paramilit\u00e4risch, mafi\u00f6s und mittels offizieller staatlicher Sicherheitsapparate) gegen die Kurd*innen in den 1990ern statt. Meral Ak\u015fener, die derzeitige Chefin der IYI und ehemals Innenministerin unter \u00c7iller, ist derzeit die einzige wichtige Pers\u00f6nlichkeit aus dieser Traditionslinie, die sich in der Opposition befindet. Alle anderen \u00f6ffentlich auftretenden wichtigen Pers\u00f6nlichkeiten dieser Tradition sind entweder direkt an der Regierung beteiligt wie der Innenminister Soylu oder unterst\u00fctzen das Regime offen wie der ehemalige Innenminister Mehmet A\u011far (dazu ausf\u00fchrlicher im Artikel \u201eT\u00fcrkisches Inferno\u201c). \u00c7iller hat erst k\u00fcrzlich die Perspektive der R\u00fcckkehr zum parlamentarischen System als \u201eVerrat an der Nation\u201c gebrandmarkt, in der Verteidigung des Pr\u00e4sidialsystems Koalitionsregierungen absurderweise als schlimmer als Milit\u00e4rputsche bezeichnet (absurd auch deshalb, weil ja fast alle Parteien in Koalitionen zur Wahl antreten, inklusive AKP-MHP) und eine R\u00fcckkehr zur Politik angek\u00fcndigt. In welcher Form diese erfolgt, ist noch nicht ganz fix: Vermutlich wird sie an die Spitze einer wiederbelebten alten Partei treten. Jedenfalls geht es ihr explizit darum, das potenzielle W\u00e4hler*innenpotenzial der IYI abzugraben und wieder f\u00fcr das Regime zu gewinnen.
Die dezisionistisch-polykratische Struktur
Ich hatte schon in \u201eT\u00fcrkisches Inferno\u201c analysiert, dass die politische Struktur in der T\u00fcrkei zunehmend dezisionistisch und polykratisch ist. Dezisionistisch, insofern Entscheidungen von potenten Machtakteur*innen Regeln und Gesetze bestimmen, anstatt dass diese im Rahmen konstitutioneller und institutioneller Schranken ausgehandelt werden; polykratisch, insofern sich unter der Spitze der Macht, dem Pr\u00e4sidenten, eine Reihe an ebenfalls dezisionistisch agierenden Machtakteur*innen hervortun, die miteinander um Macht und Einfluss ringen, wobei Erdo\u011fan als Schiedsrichter letzter Instanz \u00fcber dem Kampfplatz thront. Diese Struktur ist eine Herrschaftsform sui generis und sollte als eine solche analysiert, nicht jedoch auf dem normativem Hintergrund eines konstitutionell-liberalen Regimes als defizit\u00e4r abgetan werden. Eruptive und nicht objektiv-institutionell vermittelte Austragungen von Differenzen und Konflikten sind nur unter bestimmten Bedingungen dysfunktional f\u00fcr ein solches System, ansonsten aber Formen der Reproduktion desselben. Sich daher darauf zu verlassen, dass ein solches System per se instabil ist und zum Zusammenbruch neigt, ist eine gef\u00e4hrliche objektivistische Fehleinsch\u00e4tzung.
Wie zuvor gab Erdo\u011fan in der dezisionistisch-polykratischen Struktur nicht nur durch seine Praxis, sondern auch durch \u00f6ffentliche Ermunterung zu dezisionistischem Handeln den Ton an: \u201eWir sind vorangeschritten indem wir die B\u00fcrokratie Schritt um Schritt zerst\u00f6rt haben. Wenn n\u00f6tig, m\u00fcsst ihr das auch tun\u201c, so Erdo\u011fan j\u00fcngst zu AKP-Parlamentarier*innen, die sich \u00fcber Hindernisse in der Verwaltungsb\u00fcrokratie beschwerten. Ganz \u00e4hnlich t\u00f6nte sein Wirtschafts- und Finanzminister Nebati im M\u00e4rz 2022 zu Investoren: \u201eWenn ihr ein Problem habt, k\u00f6nnt ihr uns sofort kontaktieren. Das Thema, das mir am leidigsten ist: Regularien oder B\u00fcrokratie, die den Investoren Probleme bereiten. Lasst uns gemeinsam k\u00e4mpfen, wir werden die B\u00fcrokratie zertr\u00fcmmern. Seid beruhigt, der Pr\u00e4sident steht hinter uns. Die Regularien ver\u00e4ndern wir auch, im Rahmen des Pr\u00e4sidialsystems schreiten wir schnell voran.\u201c
Vor allem im Kampf um die Justiz hat es in der dezisionistisch-polykratischen Struktur in den letzten Monaten wichtige Ver\u00e4nderungen gegeben. Wie in den Jahren zuvor pochte auch j\u00fcngst der Vorsitzende des Verfassungsgerichtshofes, Z\u00fcht\u00fc Arslan, auf liberal-konstitutionelle Elemente im Staat, wie beispielsweise auf eine aufkl\u00e4rerische und unter allen Umst\u00e4nden freie Universit\u00e4t. Dies ist nat\u00fcrlich angesichts des Kampfes um den von Erdo\u011fan eingesetzten, aber von der gesamten Universit\u00e4t abgelehnten Rektors an der Bo\u011fazi\u00e7i-Universit\u00e4t sehr brisant. Zugleich benannte Arslan, ebenfalls wie schon in den Jahren zuvor, die hohe Anzahl an Verletzungen des Rechts auf faires Gerichtsverfahren als gro\u00dfes Problem. Seit der Bef\u00f6rderung des gl\u00fchenden Erdo\u011fan-Anh\u00e4ngers Irfan Fidan zum Verfassungsrichter \u2013 ein ehemaliger Istanbuler Generalstaatsanwalt, der sehr offen zu politischen Zwecken und daher mittels eines sehr durchschaubar politischen Verfahrens eingesetzt wurde \u2013, kippte das Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnis innerhalb des AYM aber zunehmend zugunsten des politischen Blocks, der in Grundsatzfragen \u00fcber Menschen- und Freiheitsrechte ablehnend und im Sinne der (Staats-)Sicherheit entscheidet. Es wird gemunkelt, dass Erdo\u011fan Fidan als AYM-Chef haben m\u00f6chte und blo\u00df mehr das Ende der Amtszeit von Arslan abwartet.
Auch zeichnete sich schon gegen Oktober letzten Jahres ab, dass der Justizminister Abd\u00fclhamit G\u00fcl im Machtkampf mit dem Innenminister Suleyman Soylu unterliegt. G\u00fcl wurde vom nationalistisch-autorit\u00e4ren Block im Staat als Blockade f\u00fcr die beabsichtigte zunehmende Repression sowie ihrer Kaderpolitik angesehen. Einer der Streitpunkte der letzten Monate war das von Soylu offen von Ortsvorsteher*innen eingeforderte dezisionistische Handeln, ohne auf Gerichtsprozesse und -entscheidungen zu warten (es ging um das Abrei\u00dfen von angeblich rechtswidrig errichteten Geb\u00e4uden). G\u00fcl betonte hier den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit. Ebenfalls stellte sich G\u00fcl gegen die erw\u00e4hnten \u201eTerrorismus\u201c-Untersuchungen von Soylu gegen\u00fcber der Istanbuler Stadtverwaltung und andere rechtswidrige Vorgehensweisen. Ende Januar 2022 wurde letztlich seinem angeblichen \u201eGesuch auf Enthebung von Verantwortung\u201c statt gegeben, das hei\u00dft er wurde seitens Erdo\u011fans von seinem Amt enthoben. Dem war ein Machtverlust des Blocks um G\u00fcl in der Hohen Justiz gegen den nationalistisch-autorit\u00e4ren Block vorausgegangen. Akteure wie Abd\u00fclhamit G\u00fcl oder Z\u00fcht\u00fc Arslan repr\u00e4sentieren weniger eine b\u00fcrgerlich-demokratische Opposition gegen die dezisionistisch-polykratische Struktur denn eine Nuancierung innerhalb derselben. Sie bef\u00fcrchten einen zu starken Hegemonieverlust, wenn der Dezisionismus au\u00dfer Rand und Band ger\u00e4t und visieren daher eine partielle R\u00fccknahme oder Schw\u00e4chung der allerextremsten Formen des Dezisionismus an. Offensichtlich hat der gem\u00e4\u00dfigte Fl\u00fcgel innerhalb der dezisionistisch-polykratischen Struktur mit der Amtsenthebung von G\u00fcl eine empfindliche Niederlage erlitten. Dem neu eingesetzten Bekir Bozda\u011f, der schon zwei Mal Justizminister in der AKP-\u00c4ra war, gab Erdo\u011fan angeblich die Anweisung, die unter Abd\u00fclhamit G\u00fcl eingesetzten religi\u00f6sen Kader zu s\u00e4ubern und eine Einheit der Justiz unter F\u00fchrung der Konservativen und Nationalisten, aber auch einiger Sozialdemokraten herzustellen. Letzteres soll vermutlich dem Eindruck entgegenwirken, die Justiz w\u00fcrde von der AKP kontrolliert und dient damit der Beschwichtigung und Integration der b\u00fcrgerlichen Opposition.
Mit der Amtsenthebung von G\u00fcl verbunden war auch die Amtsenthebung des Vorsitzenden des Statistikinstituts T\u00dcIK, Sait Erdal Din\u00e7er. Anfang 2022 wurde bekannt, dass Erdo\u011fan w\u00fctend auf ihn sei, weil das von ihm gef\u00fchrte Institut zu hohe Inflationszahlen ver\u00f6ffentlichte. Erdo\u011fan monierte, das T\u00dcIK hebe in seinen Publikationen nicht klar genug hervor, dass die Inflation \u201ek\u00fcnstlich\u201c und \u201evon au\u00dfen verursacht\u201c sei. Dabei steht das T\u00dcIK seit langem von allen seri\u00f6sen und unabh\u00e4ngigen Beobachter*innen in der Kritik; Grund daf\u00fcr sind laut Kritiker*innen gezielt zu niedrige Zahlen. Der Amtsenthebungsentscheidung waren eine Reihe kleinerer Entscheidungen vorhergegangen, die alle eine politisch motivierte Manipulation mit makro\u00f6konomischen Zahlen beinhalteten: Neben den st\u00e4ndigen Ersetzungen der jeweiligen Finanz- und Wirtschaftsminister sowie Zentralbankgouverneure sickerten zum einen seit geraumer Zeit Informationen durch, wonach sich angeblich einige Mitarbeitende des T\u00dcIK gegen die Zahlenmanipulationen des T\u00dcIK stellten und daf\u00fcr gefeuert wurden. Zum anderen wurde, \u00e4hnlich wie bei den Inflationszahlen vor einigen Jahren, die Berechnung der Auslandsschulden kosmetisch gesch\u00f6nt, wobei die betreffenden Eckdaten dennoch schlecht blieben. Aber trotz aller Bem\u00fchungen um eine autorit\u00e4re Konsolidierung bleibt die populare Unterst\u00fctzung f\u00fcr das Regime mangelhaft.
Restauration oder populare Demokratie?
Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und seinen Auswirkungen auf die breite Bev\u00f6lkerungsmasse sowie dem Erfolg der Opposition in den neu gewonnenen Stadtverwaltungen spitzt sich der Hegemoniekampf zwischen Regime und Opposition zu. Der arithmetische Durchschnitt aller Wahlumfragen der letzten Monate zeigt, dass die Wahlstimmung eindeutig zuungunsten der AKP-MHP-Koalition gekippt ist (obzwar weniger verl\u00e4sslich, kippen auch die Umfragen zur anstehenden Pr\u00e4sidentschaftswahl gegen einen Sieg Erdo\u011fans). Selbst AKP-interne bzw. -nahe Umfragen zeigen, dass der AKP-MHP-Block, beziehungsweise Erdo\u011fan als Pr\u00e4sidentschaftskandidat, bei den anstehenden Wahlen nur sehr knapp gewinnen k\u00f6nnten. Die Opposition ist daraufhin mutiger geworden: Der Chef der CHP, Kemal K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu, tritt zwischenzeitlich offensiver auf als gewohnt. Er besuchte mehrere staatliche Institutionen und wichtige Machtakteur*innen wie die Zentralbank, das T\u00dcIK, das Bildungsministerium (Mill\u00ee E\u011fitim Bakanl\u0131\u011f\u0131, MEB), die staatliche Fleisch- und Milchinstitution (Et ve S\u00fct Kurumu) oder den TOBB, um Rechenschaft oder menschenw\u00fcrdige Preise einzufordern und Hegemoniepolitik zu betreiben. Der Besuch bei TOBB war ein erster ernsthafter Versuch, die historisch AKP-nahen KMUs jetzt auf die Seite der Opposition zu ziehen. Gleichzeitig k\u00fcndigte er zum ersten Mal an, rechtswidrig oder parteiisch vorgehende B\u00fcrokrat*innen bei Machtantritt zu bestrafen. AKP\u2019ler*innen berichten davon, dass ihnen seit dieser Erkl\u00e4rung mehr Widerstand seitens der B\u00fcrokratie geleistet wird. K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu selbst berichtet davon, dass der Opposition seitdem immer mehr interne Unterlagen zu staatlich betriebener Korruption und klientelistischer Ressourcenverschwendung zugeschickt w\u00fcrden. Eine Serie an t\u00fcrkeiweiten Kundgebungen unter dem Titel \u201eStimme der Nation\u201c (Milletin Sesi) wurde, nach einem Auftakt in der s\u00fcdt\u00fcrkischen Hafenstadt Mersin im Dezember 2021, bis auf weiteres verschoben, soll aber nach Ramadan (April-Mai 2022) mit der Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen fortgesetzt werden. Auch in sonstiger Hinsicht gibt es Neuerungen: Zum ersten Mal seit Jahren hat die CHP die parlamentarische Unterst\u00fctzung f\u00fcr die Verl\u00e4ngerung des Mandats f\u00fcr milit\u00e4rische Auslandseins\u00e4tze in Syrien und Irak \u00fcber zwei Jahre verweigert, weil sie bef\u00fcrchtet, dass es im Vorlauf zu den anstehenden Wahlen (Sommer 2023) zu einem erneuten Kriegsszenario f\u00fcr die innenpolitische Mobilisierung kommen k\u00f6nnte. Zudem haben CHP und teils auch IYI nun \u00f6ffentlich die HDP als legitime kurdische Repr\u00e4sentation im Parlament zur L\u00f6sung der \u201eKurdischen Frage\u201c anerkannt.
Angepasster Hauptoppositionsblock
Dennoch: Die Taktik des b\u00fcrgerlichen Hauptoppositionsblockes bleibt seiner Grundausrichtung nach paternalistisch und teilweise angepasst an den Autoritarismus und das autorit\u00e4re Erbe der T\u00fcrkischen Republik. Eine Perspektive, die \u00fcber die Restauration des Neoliberalismus hinausgeht, ist nicht anvisiert.
Inhaltlich betrachtet werden weiterhin Elemente des t\u00fcrkischen Nationalismus und Chauvinismus bedient: Hetze gegen syrische Gefl\u00fcchtete und die oft ge\u00e4u\u00dferte Absicht, diese (alle!) \u201emit Pauken und Trompeten\u201c oder \u201eauf demokratischen Wegen\u201c in ihre Heimatl\u00e4nder zur\u00fcckzusenden, sollte der Oppositionsblock an die Macht kommen, geh\u00f6ren zum politischen Alltag des b\u00fcrgerlichen Hauptoppositionsblocks. Dies trifft problematischerweise auf sehr hohe Zustimmung (mehr als 80 Prozent der Bev\u00f6lkerung laut einer Umfrage). Mit dem Chef der faschistoiden MHP, Bah\u00e7eli, streitet K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu dar\u00fcber, wer der echtere Nationalist ist. Auch in der Wirtschaftspolitik wird die Regierung wegen der abh\u00e4ngigen Finanzialisierung der T\u00fcrkei daf\u00fcr kritisiert, \u201eanti-national und anti-autochton\u201c zu sein \u2013 dabei visiert der Hauptoppositionsblock die Restauration des Neoliberalismus und damit eben dieselbe abh\u00e4ngige Finanzialisierung an. Eine St\u00e4rkung von sozialen und Arbeiter*innenrechten inklusive der grundlegenden Revision der repressiven arbeitsrechtlichen und -organistorischen Bestimmungen (bzgl. Gewerkschaften oder des Streikrechts) findet sich bei diesen Parteien so selten wie im oben erw\u00e4hnten Bericht des T\u00dcSIAD. Noch bei einer der banalsten und simpelsten Protestformen, die K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu lancierte, namentlich \u00fcber einige Tage hinweg seine Stromrechnung nicht zu bezahlen in Solidarit\u00e4t mit all jenen, die unter der massiven Erh\u00f6hung des Strompreises litten, machten die anderen mitte-rechten Oppositionsparteien nicht mit, weil sie den Protest angeblich zu \u201elinkspopulistisch\u201c fanden. Ein erst vor eineinhalb Monaten deklariertes Manifest des Hauptoppositionsblocks f\u00fcr die Perspektive eines sogenannten \u201everst\u00e4rkten parlamentarischen Systems\u201c bekundet zwar die Absicht der Zerschlagung des dezisionistischen Pr\u00e4sidialsystems, beinhaltet daf\u00fcr aber weder einen Bezug auf soziale Gerechtigkeit, noch auf die Probleme der Kurd*innen oder Alevit*innen, geschweige denn ein zum Neoliberalismus der 2000er-Jahre alternatives \u00f6konomisches Programm.
Die Anerkennung der \u201eKurdischen Frage\u201c und der HDP bleibt auf sehr problematische Art und Weise inkonsequent (was Mesut Ye\u011fen in seiner Auflistung der wohlwollenden Bez\u00fcge der Hauptopposition zur HDP nicht hinreichend ber\u00fccksichtigt): Einerseits dient diese \u201eAnerkennung\u201c dazu, Abdullah \u00d6calan und die PKK als Verhandlungspartner*innen grundlegend abzulehnen. \u201eNennt mich nicht K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu, wenn ich dieses Nest Kandil [Kandilgebirge im Grenzgebiet T\u00fcrkei-Irak-Iran, mutma\u00dfliches Hauptquartier der PKK; Anm. d. Aut.] nicht dem Erdboden gleich mache\u201c, so K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu. Er verteidigt daher auch die derzeit laufende gro\u00dfangelegte Milit\u00e4roffensive gegen das Kandilgebirge. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die PKK milit\u00e4risch besiegt werden kann. Zudem genie\u00dfen sie und \u00d6calan eine sehr hohe Zustimmung unter der kurdischen Bev\u00f6lkerung. Auf die Kriegsoption zu setzen \u2013 wie es derzeit ja auch das Regime tut \u2013 wird daher nur den ewigen Krieg blutig fortsetzen und sicherlich nicht zu einem gesellschaftlichen Frieden beitragen. Andererseits ist aber auch die Anerkennung der HDP selbst nur halbherzig: IYI-Chefin Ak\u015fener betont, dass sie die HDP an der Seite der PKK sehen und die Nutzung des Worts \u201eKurdistan\u201c auf die \u201eTerrororganisation\u201c (also die PKK) zur\u00fcckgehe (was nat\u00fcrlich Humbug ist). CHP wie IYI unterst\u00fctzten erneut die Aufhebung der Parlamentsimmunit\u00e4t einer HDP-Parlamentarierin wegen angeblicher \u201eTerrorpropaganda\u201c; die Kleinstpartei Gelecek Partisi (Zukunftspartei, GP) verteidigt bis heute aktiv die fr\u00fcher get\u00e4tigten Aufhebungen der Parlamentsimmunit\u00e4ten von HDP-Abgeordneten. Einer eventuellen Schlie\u00dfung der HDP wegen terroristischer Aktivit\u00e4t macht Ak\u015fener die Forderung zur Kondition, dass dann auch der Partei der Prozess gemacht werden m\u00fcsse, die mit ihr den \u201eFriedensprozess\u201c gef\u00fchrt habe \u2013 also die AKP \u2013, anstatt den Verbotsprozess grundlegend abzulehnen. Und auch der T\u00dcSIAD ist der Meinung, dass T\u00fcrkisch weiterhin Amts- und Schulsprache bleiben, das hei\u00dft, Kurdisch nicht offiziell als gleichwertig zu T\u00fcrkisch gelten solle. Da war sogar der T\u00dcSIAD-Demokratiebericht 1997 weiter, da er die \u201eKurdische Frage\u201c als solche benannte und auch das Recht auf muttersprachlichen Unterricht anerkannte. Wie sich die Akteur*innen des b\u00fcrgerlichen Hauptoppositionsblocks mit solchen Haltungen vorstellen, die \u201eKurdische Frage\u201c gel\u00f6st zu bekommen, bleibt fraglich. Da ist dann auch die \u201eAnerkennung\u201c der HDP nicht viel wert und mehr oder minder nur ein Feigenblatt f\u00fcr die Fortsetzung des t\u00fcrkischen Nationalismus. Letzterer ist nicht gottgegeben, sondern ver\u00e4nderbar: Eine Metastudie des Meinungsforschungsinstituts KONDA konnte aufzeigen, dass die Zustimmung zum \u201eFriedensprozess\u201c in der Bev\u00f6lkerung der T\u00fcrkei innerhalb des letzten Jahrzehnts gro\u00dfen Schwankungen unterlag mit zeitweisen Spitzenwerten von bis zu 60 Prozent Zustimmung f\u00fcr denselben. Die AKP war einst mutiger als die heutige Opposition: Sie begann den \u201eFriedensprozess\u201c in einer Zeit, als die Zustimmung zu diesem laut KONDA bei 30 Prozent lag. Sich stattdessen an den historisch und politisch erneut bewusst gef\u00f6rderten t\u00fcrkischen Nationalismus und Chauvinismus anzubiedern wie es die heutige Opposition teilweise tut, ist daher eine bewusste politische Entscheidung und ein bewusstes politisches Kalk\u00fcl, aber keine objektive Notwendigkeit.
Formal betrachtet wird weiterhin Appeasement ge\u00fcbt an die omin\u00f6se \u201eEinheit des Staates\u201c im Allgemeinen, an das Pr\u00e4sidialsystem im Besonderen:
Absurderweise stellten sich CHP wie IYI direkt auf Regierungsseite, als im Herbst letzten Jahres zehn Botschafter*innen die T\u00fcrkei dazu ermahnten, sich bez\u00fcglich des Gerichtsverfahrens gegen den liberalen M\u00e4zen Osman Kavala an die Entscheidungen des Europ\u00e4ischen Gerichtshofes f\u00fcr Menschenrechte (EGMR) zu halten. Dieser forderte n\u00e4mlich eine sofortige Haftentlassung. Dabei hatte doch die T\u00fcrkei aus eigener Entscheidung heraus die Entscheidungen des EGMR als oberstes Gericht vertraglich akzeptiert. Osman Kavala blieb weiterhin aus purer autorit\u00e4rer Willk\u00fcr \u2013 n\u00e4mlich zwecks Abschreckung gro\u00dfb\u00fcrgerlich-liberaler Opposition \u2013 inhaftiert und die eigentlich recht zahnlose Erkl\u00e4rung der Botschafter*innen wurde gezielt zu einem riesigen Theater seitens des Regimes aufgeblasen, um mal wieder chauvinistisch-pseudoantiimperialistisch St\u00e4rke zu demonstrieren. Mittlerweile ist Kavala zu lebensl\u00e4nglicher Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt worden. Gewollt oder ungewollt hat die Opposition mit solchen Verhaltensweisen diesem politischen Urteil zugespielt.
Dabei eiern die Hauptoppositionsparteien teils immer noch sogar beim ganz banalen Minimalpunkt der Bek\u00e4mpfung des Regimes herum, gemeint ist die Abschaffung des Pr\u00e4sidialsystems. Der Chef der Saadet Partisi (Gl\u00fcckseligkeitspartei, SP), die aus derselben politischen Tradition kommt wie einst die AKP, hielt es unter bestimmten Umst\u00e4nden nicht f\u00fcr absolut ausgeschlossen, dass sie das Pr\u00e4sidialsystem unterst\u00fctzen k\u00f6nnten; GP-Chef Davuto\u011flu bekundet, dass sie sich nat\u00fcrlich mit der AKP an einen Tisch setzen w\u00fcrden, wenn diese \u201eihre Meinung \u00e4ndert\u201c. Derselbe K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu, der rechtswidrig/parteiisch agierende B\u00fcrokrat*innen mit Verfolgung bei Macht\u00fcbernahme bedrohte, sprach zugleich davon, dass er sich ganz allgemein und umfassend \u201eauss\u00f6hnen\u201c (helalle\u015fmek) m\u00f6chte. Dass sich diese Auss\u00f6hnung nicht, wie von f\u00fchrenden CHP-Kadern behauptet, ausschlie\u00dflich auf eine Vers\u00f6hnung der polarisierten Massen der Bev\u00f6lkerung ausrichtete, sondern durchaus auch die Entsch\u00e4rfung des popularen Antagonismus zu Staat und Erdo\u011fan beinhaltete, wurde kurz darauf deutlich. Als die CHP ausnahmsweise mal eine Massenkundgebung veranstaltete, namentlich in Mersin im Rahmen der Milletin Sesi-Kundgebungen mit zehntausenden Beteiligten, da warnte K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu die k\u00e4mpferische Menge davor, gegen das Statistische Amt zu wettern und einen R\u00fccktritt Erdo\u011fans zu fordern. Er hielt fest, dass jetzt nicht die Zeit des K\u00e4mpfens und des Konflikts sei, sondern die der Einheit und der Vereinigung. Aber wann sonst, wenn nicht in einer autorit\u00e4r-faschistoiden Spirale und einer tiefen Wirtschafts- und Hegemoniekrise w\u00e4re denn die Zeit des K\u00e4mpfens?
Generell bleibt die Herangehensweise der beiden (mitte-)rechten Hauptoppositionsparteien weiterhin so, dass sie explizit Mobilisierungen auf die Stra\u00dfen ablehnen. Hierzu \u00e4u\u00dferte sich CHP-Chef K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu erst k\u00fcrzlich erneut ganz unmissverst\u00e4ndlich: \u201eEffektive Opposition ist das eine, ins Feld gehen etwas anderes. [\u2026] Ich m\u00f6chte nur das eine: unser Volk soll entspannt bleiben, zumindest bis zu den Wahlen. Wir werden sowieso alle schwerwiegenden Probleme l\u00f6sen, sobald wir an der Macht sind. [\u2026] Jetzt, kurz vor den Wahlen, d\u00fcrfen wir uns nicht vom Palast [Erdo\u011fans Pr\u00e4sidentenpalast; A. K.] provozieren lassen.\u201c Es war daher auch eine \u2013 freilich bisher einmalige \u2013 \u00dcberraschung, als die Diyarbak\u0131r-Sektion der oppositionellen Kleinstpartei Demokrasi ve At\u0131l\u0131m Partisi (Partei f\u00fcr Demokratie und Fortschritt, DEVA) im Oktober 2021 eine Kundgebung organisierte \u2013 mit dem Verweis, dass nur der Protest auf der Stra\u00dfe etwas bringe, nicht der in den eigenen vier W\u00e4nden.
Das strategische Kalk\u00fcl hinter der angezogenen Handbremse
Alle diese Dinge stellen nicht Schw\u00e4chen oder M\u00e4ngel der Hauptopposition dar, sondern ein klar durchdachtes politisches Kalk\u00fcl. Es ist offensichtlich, dass Massenmobilisierungen f\u00fcr die Opposition nur in Frage kommen, wenn sie paternalistisch geg\u00e4ngelt und kontrolliert werden k\u00f6nnen, damit sie den hegemoniepolitischen Rahmen, der vom Hauptoppositionsblock eng abgesteckt wird, nicht verlassen. Der Hauptoppositionsblock visiert die Restauration des neoliberalen Regimes auf \u00f6konomisch erh\u00f6hter Stufenleiter minus seiner derzeitigen dezisionistischen Struktur an, wobei aber autorit\u00e4re und nationalistische Ideologieelemente sowie eine die Bev\u00f6lkerung nicht als aktives Subjekt anrufende politische Praxis beibehalten werden sollen. Diese sollen deshalb beibehalten werden, damit die Subalternen nicht selbst\u00e4ndig und als aktive, gesellschaftsver\u00e4ndernde Subjekte gegen\u00fcber den Herrschenden auftreten k\u00f6nnen. Wo sich Nationalismus und Autoritarismus etabliert haben, erweisen sie sich neben ihrer repressiven Funktion gegen gegen-hegemoniale Akteur*innen als n\u00fctzliche Formen, subalternen Konsens f\u00fcr ansonsten intern extrem ungleiche und entrechtende Regime herzustellen. Die omin\u00f6se und allseits beschworene Einheit des Staates, die nichts anderes als die Verewigung der G\u00e4ngelung relativ selbst\u00e4ndiger Politik und sozialer K\u00e4mpfe ist, gereicht zwar dem jeweils dominanten politischen Regime am meisten zum Vorteil, da es auch das Terrain b\u00fcrgerlich-oppositioneller Politik enger absteckt. Die Opposition kann aber immer darauf hoffen, selbst eines Tages diese Ressource anzapfen zu k\u00f6nnen. Von selbst auf die hegemonialen Ressourcen von Nationalismus, Autoritarismus und Staatsfetischismus zu verzichten, das mag derzeit offensichtlich niemand im b\u00fcrgerlichen Hauptoppositionsblock der T\u00fcrkei.
(Links-)Liberale Analytiker*innen sind daher oft allzu vorschnell in ihrer Begeisterung f\u00fcr das Demokratisierungspotenzial des b\u00fcrgerlichen Hauptoppositionsblocks und seiner Erfolgsaussichten. Die k\u00fcrzlich erfolgte vernichtende Niederlage des restaurativ-neoliberalen ungarischen Hauptoppositionsblocks, der als Vorbild des Blocks in der T\u00fcrkei diskutiert wurde, h\u00e4tte ein Weckruf sein k\u00f6nnen. Aber CHP-Chef K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu ist der Meinung, dass es keine \u00c4hnlichkeiten mit der Situation in Ungarn g\u00e4be, weil dort die Opposition haupts\u00e4chlich aus linken Parteien best\u00fcnde und die Wirtschaft in einem guten Zustand sei. Was sonst folgt daraus als dass die Hauptoppositionspartei eben auf eine rechte Politik und die Tiefe der Wirtschaftskrise vertraut als Garanten f\u00fcr einen Wahlsieg? Die Beschr\u00e4nkung der Kritik durch den Hauptoppositionsblock in der T\u00fcrkei auf eine \u201eRegierungs-/Verwaltungsunf\u00e4higkeit\u201c des Regimes und das Klientelkapital bei \u00dcbernahme nationalistischer und autorit\u00e4rer Muster dient exakt der Dethematisierung der neoliberal-autorit\u00e4ren Grundlage der derzeitigen Gesellschaftsformation in der T\u00fcrkei. Es bleibt sehr fraglich, ob eine solche Perspektive, die kaum einen positiven Entwurf f\u00fcr die T\u00fcrkei \u2013 au\u00dfer der Behebung der als M\u00e4ngel wahrgenommenen autorit\u00e4ren Z\u00fcge des Pr\u00e4sidialsystems \u2013 beinhaltet, die Menschen tats\u00e4chlich positiv begeistern und damit die Identifikation mit den Regimeparteien zugunsten eines neuen Konsens brechen kann.
Denn auch wenn die \u201enegative Identit\u00e4tsbildung\u201c bei AKP-MHP-W\u00e4hler*innen abnimmt (also Identifizierung mit AKP und/oder MHP aufgrund der Abgrenzung gegen\u00fcber den Oppositionsparteien), bleibt der Anteil der unter anderem trotz Abwendung oder Infragestellung von AKP/MHP unsicher oder schwankend verbleibenden W\u00e4hler*innen mit um die 20 bis 25 Prozent Anteil an allen Wahlberechtigten hoch. Eine W\u00e4hler*innenbewegung setzt, wenn \u00fcberhaupt, dann zur rechtsnationalistischen IYI ein. Dabei ist die Unzufriedenheit bei AKP- bzw. Erdo\u011fanw\u00e4hler*innen insbesondere angesichts der vertieften Wirtschaftskrise \u2013 so wie im Rest der Bev\u00f6lkerung auch \u2013 vergleichsweise hoch, das Wirtschaftsmanagement wird von (\u00fcber) 80 Prozent als schlecht bewertet. Auch wird weiterhin \u00fcber das marode Justizsystem und die Nutzung der Religion zu politischen Zwecken Unzufriedenheit ge\u00e4u\u00dfert. Eine pessimistische Sicht auf die Zukunft, insbesondere unter Jugendlichen, nimmt stark zu. Dennoch ist insbesondere unter AKP-W\u00e4hler*innen weiterhin der Glaube stark, dass es die Opposition nicht besser k\u00f6nne, beziehungsweise bei einem potenziellen Machtantritt \u201eerneut\u201c massive Repression betreiben w\u00fcrde (in der Ideologie der AKP ist die Opposition Schuld an der Unterdr\u00fcckung muslimischer Identit\u00e4ten in der Vergangenheit). Fast die H\u00e4lfte der Bev\u00f6lkerung wei\u00df gar nicht, dass sich die b\u00fcrgerlichen Oppositionsparteien auf einer gemeinsamen Konferenz zum Beschluss einer gemeinsamen politischen Strategie getroffen haben. Die teils auf Polarisierung, Chauvinismus, Angst und Panikmache basierende und von der AKP und Erdo\u011fan aktiv hergestellte Identit\u00e4t unter ihren W\u00e4hler*innen h\u00e4lt, zumindest angesichts der Tiefe der Wirtschafts- und allgemeinen Hegemoniekrise, weiterhin erstaunlich gut. Sie ist daher weiterhin ein Beleg f\u00fcr die relative Autonomie des Politischen und der dem Politischen immanenten Vergegenst\u00e4ndlichungen (Identit\u00e4ten, Polarisierungen, Subjektivierungsformen etc.). Nur das Erk\u00e4mpfen realer Handlungsmacht auf Grundlage einer positiven, inklusiven Perspektive und einer alternativen politischen \u00d6konomie f\u00fcr die Zukunft der T\u00fcrkei kann jene Identit\u00e4t vollumf\u00e4nglich aufbrechen und sie grundlegend durch neue ersetzen.
Sanfter \u00dcbergang oder radikaler Bruch?
Aber angenommen, die an das Bestehende angepassten Taktiken des Hauptoppositionsblocks w\u00fcrden aufgehen und die Wahlen von diesem Block gewonnen werden: Mit der geplanten Restauration des Neoliberalismus und der Fortsetzung autorit\u00e4rer und chauvinistischer Elemente, ja vielleicht sogar mit einer nur halbgaren Abrechnung mit dem alten System werden all die hinreichenden Bedingungen der M\u00f6glichkeit eines erneuten autorit\u00e4ren backlashs reproduziert.
Es ist ein bekannter oppositioneller Akademiker, der ohne Scham offen ausspricht und einfordert, was unausgesprochen als reale M\u00f6glichkeit im derzeitigen Vorgehen des b\u00fcrgerlichen Hauptoppositionsblocks mitschwingt: Namentlich bei einem (Wahl-)Sieg \u00fcber Erdo\u011fan diesem und seiner Familie Amnestie zu gew\u00e4hren, um einen \u201esanften \u00dcbergang\u201c zu gew\u00e4hrleisten. Ein paar Linke seien bestimmt gegen diese besonders gewiefte Taktik, aber sie sei schon die wirklich vern\u00fcnftige. Das Milit\u00e4r k\u00f6nne ja diesen \u00dcbergang \u00fcberwachen. Die ungeheuerlichen Folgen, die eine solche Absegnung autorit\u00e4rer Willk\u00fcrherrschaft und des Klientelismus durch eine siegreiche Opposition dazu noch unter erneuter G\u00e4ngelung des Milit\u00e4rs mit sich bringen w\u00fcrde, ist jenem Akademiker augenscheinlich nicht einen Gedanken wert. Man fragt sich: Ist es denn keine Lektion gewesen, dass die Straflosigkeit der Akteur*innen des \u201eTiefen Staates\u201c der 1990er jetzt dazu f\u00fchrt, dass derselbe brutalisierte Chauvinismus wieder um sich greift und zentrale Akteur*innen jenes \u201eTiefen Staates\u201c \u2013 Sedat Peker, Mehmet A\u011far, S\u00fcleyman Soylu, Tansu \u00c7iller und andere \u2013 heute wieder fr\u00f6hliche Urst\u00e4nde feiern? Ganz zu schweigen davon, was die Jahrzehnte der Dominanz des Milit\u00e4rapparats innerhalb des Staates an Schaden angerichtet hat. M\u00fcsste man nicht gerade als Liberaler weit \u00fcber das Pr\u00e4sidialsystem Erdo\u011fans hinaus die konsequenteste und umfassendste Abrechnung mit dem nicht-liberalen Erbe der T\u00fcrkei fordern, \u201eGerichtstag halten \u00fcber uns selbst, Gerichtstag \u00fcber die gef\u00e4hrlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt \u00fcber alles, was hier inhuman war\u201c (Fritz Bauer in Anlehnung an Henrik Ibsen), damit sich das Inhumane nie wieder wiederhole? Aber hier scheinen eben die Grenzen dieses angepassten Liberalismus auf.
In der T\u00fcrkei gibt es indes genug K\u00e4mpfe und soziale Dynamiken, die das Potenzial haben, weit \u00fcber die Dialektik zwischen autorit\u00e4rer Konsolidierung und neoliberaler Restauration hinauszuweisen. Gerade der Zerm\u00fcrbung, Atomisierung und Zerschlagung dieses Potenzials dienen solche Entwicklungen wie die drakonischen Strafen im Zuge des Gezi-Prozesses. Eben deshalb ist die Massenmobilisierung und der aktive politische Kampf wichtig, um der Zerm\u00fcrbung und der Demoralisierung Einhalt zu gebieten. Denn das Potenzial jener sozialen Dynamiken und K\u00e4mpfe kann sich, auf Grundlage gemeinsamer Handlungsmacht und zu erk\u00e4mpfenden Errungenschaften, durchaus mit den progressiven und demokratischen Elementen/Tendenzen in der AKP-MHP-W\u00e4hler*innenbasis verbinden und deren widerspr\u00fcchliches Alltagsbewusstsein klarer von seinen reaktion\u00e4ren und chauvinistischen Elementen befreien. Damit k\u00f6nnen die Grundlagen f\u00fcr eine popular-demokratische Perspektive geschaffen werden. Das wird aber nicht klappen, wenn man sich opportunistisch oder gar aus \u00dcberzeugung an die r\u00fcckst\u00e4ndigsten und reaktion\u00e4rsten Tendenzen innerhalb der Bev\u00f6lkerung anpasst, statt in erster Linie das schon vorhandene und sich in jahrelangen K\u00e4mpfen bildende Oppositions- und Demokratisierungspotenzial zu sch\u00fctzen und aufzubauen. Daf\u00fcr und f\u00fcr eine Ausstrahlung jenes Potenzials auch auf die Regimebasis bedarf es einer starken, koordiniert k\u00e4mpfenden revolution\u00e4ren Linken im B\u00fcndnis mit der kurdischen Bewegung. Die St\u00e4rkung dieses B\u00fcndnisses und seiner Beteiligten ist die einzige Garantie f\u00fcr die Demokratisierung der T\u00fcrkei. Alles andere beherbergt die Gefahr der Fortsetzung oder Wiederholung der Trag\u00f6die.
Anmerkungen:
[1] Ich danke Axel Gehring und Johanna Br\u00f6se f\u00fcr viele, viele R\u00fcckmeldungen, Korrekturvorschl\u00e4ge und Kritiken.
[2] Im \u00fcbrigen zeigen die klassisch neoliberal-populistischen \u201eGegenma\u00dfnahmen\u201c der Regierung gegen die Auswirkungen der Inflation, dass die Regierung gegen alle ideologische Hybris sowie \u201eTerrorismus\u201c-Gedr\u00f6hn angesichts sozialer Proteste sehr wohl wei\u00df, wie dr\u00e4ngend die sozialen und \u00f6konomischen Probleme, die ja erst zu jenen Protesten f\u00fchren, f\u00fcr einen Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung geworden sind. Die Ma\u00dfnahmen sind klassisch neoliberal-populistisch, weil sie nur sehr milde Elemente von Fiskalpolitik zwecks \u00fcberschaubarer Umverteilung beinhalten, die zudem die Kapitalseite nicht ber\u00fchren, anstatt auf kollektive Rechte oder gar Ver\u00e4nderungen in der Arbeitswelt zu setzen oder die Menschen selbst als aktive, gestaltende Subjekte anzurufen.
[3] Laut geltendem Gesetz darf ein Pr\u00e4sidentschaftskandidat nur zwei mal das Pr\u00e4sidentschaftsamt innehaben, au\u00dfer er selbst l\u00f6st das Parlament w\u00e4hrend einer seiner Amtszeiten auf und forciert vorgezogene Neuwahlen des Parlaments, wobei dann parallel dazu auch der Pr\u00e4sident neu gew\u00e4hlt wird. Erdo\u011fan wurde 2014 zum Pr\u00e4sidenten gew\u00e4hlt und 2018 nochmal, aber zwischen beiden Wahlen fand die das Pr\u00e4sidialsystem einf\u00fchrende Verfassungs\u00e4nderung statt. Daher wurde Erdo\u011fan laut seinen Verteidiger*innen bisher nur ein mal gew\u00e4hlt nach derjenigen Verfassung, die die Auflage der zwei Amtsperioden beinhaltet, und kann daher noch einmal antreten. Die Kritiker*innen hingegen sind der Meinung, dass die Verfassungs\u00e4nderung nichts am Tatbestand \u00e4ndert, dass Erdo\u011fan schon zwei mal Pr\u00e4sident war/ist und daher nicht erneut zur Wahl antreten kann.