Virus als Katalysator
\nAm 11. M\u00e4rz 2020, als offiziell die erste Corona-Infektion in der T\u00fcrkei registriert wurde, t\u00f6nte Staatspr\u00e4sident Erdo\u011fan ganz gro\u00df: \u00bbKein Virus ist st\u00e4rker als unsere Vorkehrungen.\u00ab Am Tenor ideologischer Selbstdarstellung hat sich seitdem wenig ge\u00e4ndert: In v\u00f6lliger Verkehrung der Tatsachen wird die T\u00fcrkei als Weltspitze der Corona-Bek\u00e4mpfung pr\u00e4sentiert, w\u00e4hrend der entwickelte Westen den Bach runtergehe \u2013 autorit\u00e4re Hybris at its best. Diese Hybris und ihr Versprechen der Gr\u00f6\u00dfe haben Staatspr\u00e4sident Erdo\u011fan und das unter seiner F\u00fchrung organisierte national-autorit\u00e4re Regime auch bitter n\u00f6tig, wo doch die Realit\u00e4t ganz anders aussieht: eine teils katastrophale Pandemiebek\u00e4mpfung, einbrechende Umfragewerte f\u00fcr das Regime, eine schwere Wirtschaftskrise insbesondere f\u00fcr die unteren und Mittelklassen und eine erstarkende Opposition vor allem in den (oppositionsgef\u00fchrten) Gro\u00dfst\u00e4dten. Das entgeht nat\u00fcrlich weder Erdo\u011fan noch seinen Verb\u00fcndeten. Deshalb radikalisieren sie ihre bisherigen Hauptmechanismen der autorit\u00e4ren Konsolidierung: milit\u00e4rische Auslandseins\u00e4tze, Inhaftierung von Oppositionellen, Repression gegen Dissident*innen, Gesetze zur Schw\u00e4chung der Zivilgesellschaft, Einschr\u00e4nkung der Handlungsf\u00e4higkeit oppositioneller B\u00fcrgermeister*innen, chauvinistische und sexistische Propaganda und so weiter. Dabei versch\u00e4rfen sich auch die internen Fraktionsk\u00e4mpfe des Regimes. SARS-CoV-2 ist somit ein Katalysator gesellschaftlicher Antagonismen in der T\u00fcrkei. [1]
Hybris und Realit\u00e4t
Im Prinzip handelt die T\u00fcrkei in der Bek\u00e4mpfung des Virus nach denselben Handlungsmaximen wie alle entwickelten kapitalistischen L\u00e4nder des Westens: Das Regime versucht eine Strategie umzusetzen, die abw\u00e4gt zwischen kurzfristigen Stabilit\u00e4ts- und Wirtschaftsinteressen und langfristigen Interessen kapitalistischer Akkumulation. Sterben zu schnell zu viele Menschen, kann es zur Destabilisierung kommen; werden zu viele beschr\u00e4nkende Ma\u00dfnahmen verh\u00e4ngt, fallen die Profite zu stark. Eine konsequente Eind\u00e4mmungspolitik des Virus wird deshalb, wie auch in Deutschland, explizit nicht verfolgt. Der Pr\u00e4sidentensprecher Ibrahim Kal\u0131n brachte das sehr direkt auf den Punkt, als er festhielt: \u00bbDie wirtschaftlichen Kosten einer allgemeinen Ausgangssperre w\u00e4ren hoch.\u00ab Auch dem Gesundheitsminister Fahrettin Koca war klar, dass die Eind\u00e4mmungsperspektive durchaus m\u00f6glich ist; er wischte sie allerdings allzumenschlich beiseite: \u00bbUm dieses Problem vollst\u00e4ndig zu l\u00f6sen, m\u00fcsste man eine vollst\u00e4ndige Isolation implementieren. Aber kein Land der Welt will das. Auch die T\u00fcrkei will das nicht. Aus nachvollziehbaren Gr\u00fcnden wird nirgends auf der Welt und auch in der T\u00fcrkei nicht auf vollst\u00e4ndige Isolation gesetzt.\u00ab
Im Unterschied allerdings zu L\u00e4ndern wie der BRD verf\u00fcgt die krisengebeutelte T\u00fcrkei nicht \u00fcber genug Ressourcen und vor allem das politische Regime nicht \u00fcber genug Stabilit\u00e4t, um eine Kontrolle der Epidemie im Rahmen jener Handlungsmaximen effektiv zu betreiben. Zwar wurden nach und nach alle gr\u00f6\u00dferen Gesch\u00e4fte und gastronomischen L\u00e4den geschlossen, es gab aber im Prinzip nie effektive Kontaktbeschr\u00e4nkungsma\u00dfnahmen, und die meisten Ma\u00dfnahmen wurden nur sehr z\u00f6gerlich und dann f\u00fcr vergleichsweise kurze Zeit eingef\u00fchrt. Wie die t\u00fcrkische \u00c4rztekammer (TTB) ganz richtig festh\u00e4lt, w\u00e4lzte der Staat die gesamte Verantwortung auf die einzelnen B\u00fcrger*innen ab und sorgte selbst f\u00fcr die Verbreitung einer Aura der Sorglosigkeit mittels einer sogenannten \u00bbR\u00fcckkehr zur Normalit\u00e4t\u00ab ab dem 1. Juni, inklusive propagandistischer Gro\u00dfveranstaltungen wie die Einweihung der Hagia Sophia mit Hunderttausenden Beteiligten. Auf dem bisherigen H\u00f6hepunkt der Virusverbreitung wurden zwar wiederholt komplette Ausgangssperren in mehreren Gro\u00dfst\u00e4dten verh\u00e4ngt. Dies aber bewusst nur an Wochenenden oder Feiertagen, also an Tagen, an denen Arbeiter*innen sowieso am ehesten frei haben und deshalb am wenigsten Profite zu entfallen drohen.
Das halbherzige Vorgehen in der Pandemiebek\u00e4mpfung schl\u00e4gt sich auch nur bedingt in verl\u00e4sslichen Zahlen nieder. Mit Stand vom 22. September 2020 sind offiziell 302.867 Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert gewesen und 7.506 Personen daran verstorben. Aber noch Monate nach der ersten offiziellen Corona-Infektion gab es kaum eine genaue Aufteilung der Infizierten und Toten nach Regionen, Alter und Vorerkrankungen, so dass sich die \u00c4rztekammer \u00fcber l\u00e4ngeren Zeitraum nicht in der Lage sah, eine angemessene epidemiologische Analyse vorzunehmen. Erst am 1. Juli, also 112 Tage nach dem ersten registrierten Infektionsfall, fing das Gesundheitsministerium an, regelm\u00e4\u00dfige Berichte und Daten zu ver\u00f6ffentlichen. Aber bis zum heutigen Tage beschwert sich die \u00c4rztekammer \u00fcber intransparente und unzul\u00e4ngliche Daten. Irregularit\u00e4ten in den zur Verf\u00fcgung gestellten Daten sowie prohibitive Interventionen des Gesundheitsministeriums in die Forschung wurden in einem offenen Brief vom 15. August in der internationalen Fachzeitschrift The Lancet von praktizierenden \u00c4rzten gebrandmarkt und vom Gesundheitsminister nat\u00fcrlich sofort in derselben Zeitschrift dementiert. \u00c4rztekammer wie Gewerkschaften des Gesundheitssektors weisen seit geraumer Zeit darauf hin, dass die echten Infektionsf\u00e4lle weit \u00fcber den offiziellen Zahlen liegen und dass sie Todesf\u00e4lle registrieren, die COVID-19 zuzuordnen sind, aber anders klassifiziert werden, um die Statistik zu besch\u00f6nigen. Der Istanbuler B\u00fcrgermeister Imamo\u011flu meinte k\u00fcrzlich, dass laut den ihm vorliegenden Zahlen allein Istanbul so viele Neuinfektionen am Tag registriert wie das Gesundheitsministerium f\u00fcr die ganze T\u00fcrkei angibt (also grob \u00fcber 1500); \u00e4hnliches meinte der B\u00fcrgermeister von Ankara, Mansur Yava\u015f. Aus vielen St\u00e4dten wurde zumindest zeitweise dar\u00fcber berichtet, dass die Intensivstationen in Krankenh\u00e4usern \u00fcberf\u00fcllt waren, was sogar der Gesundheitsminister nachtr\u00e4glich zugeben musste. Eine \u00fcberw\u00e4ltigende Mehrheit der Bev\u00f6lkerung der Gro\u00dfst\u00e4dte \u2013 etwa 70 Prozent \u2013 glaubt laut einer Umfrage den Zahlen des Gesundheitsministeriums nicht. Aber auch schon die offiziellen Zahlen zeigen, dass die T\u00fcrkei in eine Phase der Lockerungen eintrat, als die erste Welle noch gar nicht abgeklungen war, weshalb Expert*innen wie die T\u00fcrkische Thorax-Vereinigung schon l\u00e4ngst vor dem Gesundheitsminister von einem \u00bbzweiten Peak der ersten Welle\u00ab sprachen. Unter den Umst\u00e4nden einer intransparenten und relativierenden Vorgehensweise der Regierung, \u00fcberrannter Krankenh\u00e4user, steigender Infektions- und Todesf\u00e4lle unter Krankenhausbesch\u00e4ftigten und fehlenden Schutzma\u00dfnahmen haben mittlerweile Hunderte Gesundheitsarbeitende ihre K\u00fcndigung eingereicht.
Als Folge der unentschlossenen Pandemiebek\u00e4mpfung erreichte die effektive Reproduktionszahl [2] in Istanbul kurzzeitig (Anfang April) den sagenhaften Wert von 16 und t\u00fcrkeiweit (Ende M\u00e4rz) den Wert von neun, was im weltweiten Vergleich sehr hoch ist. Laut \u00c4rztekammer schneidet die T\u00fcrkei im Vergleich zu \u00e4hnlich situierten L\u00e4ndern auch in anderen Hinsichten (Tote pro 1000 Einwohner*innen, Neuinfektionen gerechnet auf Tage nach dem ersten Infektionsfall, usw.) eher schlechter ab. Dabei zeigen erste vorl\u00e4ufige Studien, dass mit 0,81 Prozent Seropr\u00e4valenz von Coronavirus-Antik\u00f6rpern in der Bev\u00f6lkerung auch die T\u00fcrkei weit entfernt ist von einer Herdenimmunit\u00e4t, f\u00fcr die ja grob 60 Prozent notwendig w\u00e4ren (Stand: Ende Juni).
Dabei trifft SARS-CoV-2 wie in den meisten L\u00e4ndern so auch in der T\u00fcrkei die Schw\u00e4chsten: Von den Fabriken \u00fcber die Textilbranche und den Dienstleistungssektor bis hin zum Bausektor hatten viele oft informell besch\u00e4ftigte Arbeiter*innen, die nicht zum Management geh\u00f6ren, keine andere Wahl, als auch in Hochzeiten der ersten Welle zu arbeiten, oft ohne ausreichende Schutzbestimmungen, gefangen zwischen der Skylla der Infektion und der Charybdis des Hungers. [3] Besonders negativ betroffen sind Frauen, insofern sie viel h\u00e4ufiger als M\u00e4nner ihre Jobs verloren und zudem den Gro\u00dfteil der zus\u00e4tzlich anfallenden Reproduktionsarbeiten im Haushalt \u00fcbernahmen, wie eine UN-Studie festh\u00e4lt. Auch in der T\u00fcrkei brachen gr\u00f6\u00dfere Infektionsgeschehen an Produktionsstandorten aus, so bei SuperFresh (Lebensmittel) und \u00dclker (Geb\u00e4ck) in Bursa, Eti G\u0131da (Geb\u00e4ck) in Eski\u015fehir oder Gedik Pili\u00e7 (Gefl\u00fcgelfabrik) in U\u015fak und BMC (Automobil) in Izmir. In einer der gr\u00f6\u00dften Fabriken des Landes, Dardanel (Dosenfisch) bei \u00c7anakkale, wandten Manager ein sogenanntes \u00bbgeschlossenes Arbeitssystem\u00ab an, um die Produktion trotz eines gro\u00dfen Infektionsgeschehens fortzusetzen. \u00bbGeschlossenes Arbeitssystem\u00ab hie\u00df in diesem Fall, dass die Infizierten nur mehr miteinander auf Schicht arbeiten und auf dem Betriebsgel\u00e4nde isoliert von Kontakt nach au\u00dfen leben sollten \u2013 um niemanden sonst mehr anzustecken! Bei Vestel (Haushaltsger\u00e4te), einer anderen gro\u00dfen Fabrik mit Tausenden Arbeiter*innen, ignorierten Manager*innen nicht nur Sicherheitsbestimmungen und versuchten ein gro\u00dfes Infektionsgeschehen zu verdecken, sondern sie exponierten die Arbeiter*innen willentlich und wissentlich einem gro\u00dfen Infektionsrisiko. In Yusufeli bei Artvin hingegen wurden Arbeiter*innen eines Staudamms de facto vom Gouverneur dazu gezwungen weiter auf der Baustelle zu verbleiben und zu arbeiten trotz eines laufenden Infektionsgeschehens. Au\u00dfer BMC bei Izmir wurden aber bisher keine der betroffenen Fabriken geschlossen. Bei einer solchen Sorglosigkeit ist es kein Wunder, dass in Istanbul \u2013 dem \u00bbWuhan der T\u00fcrkei\u00ab laut dem Gesundheitsminister \u2013 die \u00e4rmsten Viertel wie Ba\u011fc\u0131lar, Esenler und Bayrampa\u015fa am heftigsten von der Epidemie betroffen sind.
Um die tats\u00e4chlichen Ausma\u00dfe der Pandemie einzusch\u00e4tzen, k\u00f6nnte man nun einen Blick auf die Exzessmortalit\u00e4t (eine im Verh\u00e4ltnis zu einem Vergleichszeitraum feststellbare erh\u00f6hte Sterblichkeit) werfen, wie dies in Europa \u00fcblich ist. Das ist allerdings f\u00fcr die T\u00fcrkei wegen der mangelhaften Datenlage schwierig. Die New York Times und der Economist haben weltweit die \u00dcbersterblichkeit untersucht. Der Economist kommt dabei zum Ergebnis, dass sich die Exzessmortalit\u00e4t in Istanbul auf der H\u00f6he des ersten Peaks zwischen M\u00e4rz und Mai auf grob 50 Prozent belief, w\u00e4hrend die Anzahl der Exzess-Toten fast doppelt so gro\u00df war wie die offiziell festgestellten COVID-19-Toten. Die New York Times hingegen sch\u00e4tzt die Exzessmortalit\u00e4t in Istanbul im Vergleich zu 2017-19 auf grob 20 Prozent, allerdings f\u00fcr den Zeitraum von M\u00e4rz bis Ende Juni. Da es aber keine genauen Zahlen zu allen Todesf\u00e4llen geschweige denn zu COVID-19-Toten in Istanbul gibt, ist dies nur eine grobe Sch\u00e4tzung und zudem nicht auf das ganze Land \u00fcbertragbar. Prof. Steve Hanke von der Johns Hopkins Universit\u00e4t ordnete die T\u00fcrkei wegen all dieser Ungenauigkeiten und Intransparenz denjenigen L\u00e4ndern zu, deren Zahlen zu COVID-19 sehr unzuverl\u00e4ssig seien.
Der Einbruch
Wie \u00fcberall sonst auf der Welt, f\u00fchrte die Corona-Krise auch in der T\u00fcrkei trotz Besch\u00f6nigungsversuchen des Regimes zu einem massiven Wirtschaftseinbruch, der die unteren und mittleren Klassen ungleich h\u00e4rter trifft. Dabei traf aber die Corona induzierte Krise auf eine sowieso schon angeschlagene Wirtschaft, was zu einem W\u00e4hrungsschock wie im Sommer 2018 f\u00fchrte und das Potenzial f\u00fcr eine ausgewachsene Wirtschaftskrise hat. Die Industrieproduktion brach zwischen Februar und Mai durchgehend ein und wuchs erst im Juni wieder; die Nettokapitalinvestitionen gingen, wie durchgehend seit Mitte 2018, zur\u00fcck so wie auch das gesamte Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal 2020 um 9,9% gegen\u00fcber dem Vorjahresquartal zur\u00fcckging. Besonders stark waren Exporte und Tourismus, die Hauptdeviseneinnahmenquellen der t\u00fcrkischen Wirtschaft, betroffen: W\u00e4hrend Exporte um grob 35 Prozent im zweiten Quartal gegen\u00fcber dem Vorjahreszeitraum einbrachen, besuchten 75 Prozent weniger Besucher*innen die T\u00fcrkei im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Optimistische Hochrechnungen gehen davon aus, dass die Einnahmen aus dem Tourismus im gesamten laufenden Jahr um mehr als 50 Prozent gegen\u00fcber 2019 einbrechen k\u00f6nnten. Der IWF rechnet mit einem Einbruch des Bruttoinlandproduktes von f\u00fcnf Prozent \u00fcber das gesamte Jahr, die OECD hingegen von 2,9 Prozent, w\u00e4hrend die echte Arbeitslosenquote [4] schon jetzt um die 25 Prozent betr\u00e4gt und bei Umfragen mindestens die H\u00e4lfte aller Beteiligten \u00fcber finanzielle Einbu\u00dfen, N\u00f6te und Zukunfts\u00e4ngste im Zuge der Pandemie klagt. Bis zu 20 Millionen Menschen k\u00f6nnten in die Armut rutschen, doppelt so viele wie bisher.
Dem Regime stehen dabei nur sehr begrenzte Mittel zur Verf\u00fcgung, um die aktuelle Krise zu bek\u00e4mpfen. Wegen der strukturellen Schw\u00e4chen des Neoliberalismus in der T\u00fcrkei (hohe Abh\u00e4ngigkeit von ausl\u00e4ndischen Kapitalfl\u00fcssen, Devisen, Importen f\u00fcr Binnen- wie Exportproduktion und so weiter) kam die t\u00fcrkische Wirtschaft schon 2013 ins Straucheln, als die us-amerikanische Zentralbank (US Fed) das Ende ihres zwecks Bek\u00e4mpfung der Krise 2007ff. implementierten Anleihekauf- und Geldexpansionsprogramms (quantitative easing) verk\u00fcndete. Die teilweise Abwendung des Regimes vom neoliberaliberalen Konstitutionalismus wie die Abl\u00f6sung nichtpolitischer Institutionen und Wirtschaftspolitiken durch die Re-Politisierung des Wirtschaftsmanagements sowie Erdo\u011fans dezisionistische Politikgestaltung kamen erschwerend hinzu, so dass es seit 2013 zu mehreren Einbr\u00fcchen der Wirtschaft und einer Instabilit\u00e4t derselben kam. Als diese Instabilit\u00e4t im Sommer 2018 ausgel\u00f6st durch einen diplomatischen Konflikt mit den USA zu einem schweren W\u00e4hrungsschock f\u00fchrte, explodierten die Importkosten und Auslandsschulden des Privatsektors, was wiederum zu R\u00fcckzahlungsproblemen, Schuldenumstrukturierungen im Milliardengr\u00f6\u00dfe, einer Explosion der Inflation und zu einem Inflations-induzierten Konsumtionseinbruch f\u00fchrte.
Als die Corona-induzierte Wirtschaftskrise unter diesen Umst\u00e4nden einsetzte, intervenierte die Regierung zuerst in dreierlei Art und Weise, um Unternehmen zu st\u00fctzen. Zum einen wurde im M\u00e4rz ein Konjunkturpaket im Umfang von 100 Milliarden T\u00fcrkischen Lira (TL) (derzeit etwas weniger als 11,5 Milliarden Euro) verabschiedet, das haupts\u00e4chlich aus Steuererleichterungen und Lohnnebenkostenhilfen bestand, aber fast nichts f\u00fcr die Werkt\u00e4tigen selbst beinhaltete. Zum zweiten intervenierte die Regierung mittels Zentralbank (TCMB) und anderen \u00f6ffentlichen Banken massiv in den Finanzmarkt und den Au\u00dfenhandel, um einen weiteren Fall der Lira angesichts der sich tr\u00fcbenden Weltwirtschaftslage und der einsetzenden Kapitalflucht von etwas mehr als 11 Milliarden US-Dollar in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres zu verhindern. Das beinhaltete den Verkauf von Devisenreserven der Zentralbank in einer Gr\u00f6\u00dfenordnung von grob 65 Milliarden US-Dollar von Anfang des Jahres bis Ende Juli, aber auch die Einf\u00fchrung von leichten Kapitalverkehrskontrollen und Handelsbeschr\u00e4nkungen wie die Beschr\u00e4nkung des Devisenhandels und die Erh\u00f6hung von Importz\u00f6llen auf mittlerweile fast 5000 Waren. Drittens stieg die Kreditvergabe an angeschlagene Unternehmen zu realen Negativzinsen \u00fcber \u00f6ffentliche Banken explosionsartig.
Inmitten dieses Corona-Einbruchs und der Krisenma\u00dfnahmen setzte pl\u00f6tzlich erneut ein schwerer W\u00e4hrungsschock im August ein. Als der Tagessatz f\u00fcr TL-Swaps [5] in London in der Nacht des 4. August auf unglaubliche 1050 Prozent sprang \u2013 weil die schon erw\u00e4hnten Kapitalrestriktionen f\u00fcr ausl\u00e4ndische Banken und Restriktionen von TL-Swaps zu einer TL-Krise von Anlegern und daran anschlie\u00dfend zu einem Panikverkauf von TL-dotierten Aktien und Wertpapieren zwecks Beschaffung von Liquidit\u00e4t in TL f\u00fchrte \u2013 fiel der Wert der Lira ins Bodenlose: Seit Anfang des Jahres bis zum 17. September verlor die Lira fast 27 Prozent gegen den US-Dollar und 32 Prozent gegen\u00fcber dem Euro, den zwei f\u00fcr die t\u00fcrkische Wirtschaft wichtigsten Auslandsw\u00e4hrungen. Relativ schnell gingen die Nettoreserven der TCMB \u2013 ausschlie\u00dflich Swaps \u2013 ins Negative und die TCMB musste Swapdeals mit Qatar, China und den Privatbanken der T\u00fcrkei abschlie\u00dfen, um die Lage zu retten \u2013 was nicht viel brachte, da nun die negativen Nettoreserven exklusive Swaps der TCMB die Situation versch\u00e4rften. Weil Erdo\u011fan seit Jahren gegen die Erh\u00f6hung des Leitzinses ist \u2013 und zwar nicht, weil er ein Idiot ist oder an eine \u00bbheterodoxe Wirtschaftstheorie\u00ab glaubt, sondern weil er zurecht die Vernichtung der kleinen und mittleren Unternehmen, eines wichtigen Elements seiner popularen Basis durch h\u00f6here Zinsraten bef\u00fcrchtet \u2013, blieb der TCMB nichts anderes \u00fcbrig als im Prinzip eine 180\u00b0-Wendung in der Krisenbek\u00e4mpfung hinzulegen: Der massiven Kreditexpansion folgte eine ebenso massive Kreditkontraktion und die TCMB fing an durch die Hintert\u00fcr die Zinsraten zu erh\u00f6hen, obzwar der Leitzins unver\u00e4ndert blieb.
Vergeblich die Tausend Bem\u00fchungen der Sterblichen: Die Lira st\u00fcrzt weiter und Expert*innen gehen davon aus, dass der TCMB so langsam die Alternativen zur Erh\u00f6hung des Leitzines ausgehen, da die negativen Realzinsen Investitionen behindern und Druck auf Bankeinlagen erzeugen, weil Konsument*innen wegen Furcht vor Kaufkraftverlust ihr Geld abziehen und in sicherere Anlagen wie Immobilien oder Wertmetalle deponieren. Goldimporte belegen mittlerweile mit einem Anstieg von 119 Prozent in den ersten acht Monaten des Jahres gegen\u00fcber dem Vorjahreszeitraum Platz eins im Leistungsbilanzdefizit der T\u00fcrkei und die Regierung zerbricht sich den Kopf dar\u00fcber, wie sie all die Sch\u00e4tze, die unter den Matratzen versteckt werden und fast halb so viel wert sind wie das Bruttoinlandsprodukt der T\u00fcrkei, in das Finanzsystem \u00fcberf\u00fchren kann. Gleichzeitig fallen die Aktienpreise t\u00fcrkischer Banken stark wegen sinkender Profitaussichten (da realer Negativzins) und private Haushalte investieren immer mehr nicht mehr nur in ausl\u00e4ndische W\u00e4hrungen, die mittlerweile \u00fcber 50 Prozent aller Bankeinlagen ausmachen, sondern in Eurobonds (Wertpapiere in ausl\u00e4ndischer W\u00e4hrung), weil diese h\u00f6here Profite versprechen als W\u00e4hrungseinlagen. Ob die von der TCMB am 24. September vorgenommene Erh\u00f6hung des Leitzinses um 200 Basispunkte von 8,25 Prozent auf 10,25 Prozent einen wirklichen Trendwechsel im Krisenmanagement markiert, wird sich noch zeigen, vor allem da der de facto Zins wegen den Hintert\u00fcr-Ma\u00dfnahmen schon h\u00f6her liegt und 10,25 Prozent immer noch einen realen Negativzins darstellen. Berat Albayrak hingegen ist weiterhin erpicht darauf, seine k\u00fcnstlerische Dauerperformance mit dem Titel \u00bbFinanzminister der T\u00fcrkei\u00ab weiter aufzuf\u00fchren: Seiner Ansicht nach werde \u00bbdynamisch\u00ab mit der Situation umgegangen und gewinne die T\u00fcrkei wegen einer \u00bbkompetetiven W\u00e4hrung\u00ab, was zu einem H\u00f6henflug f\u00fchren werde.
Fast alle diese Ma\u00dfnahmen der Regierung widersprechen strengen Dogmen des Neoliberalismus. Es scheint aber zu fr\u00fch, um deshalb schon von einem Post-Neoliberalismus in der T\u00fcrkei als eines eigenen Akkumulationsregimes zu sprechen, wie es der marxistische Wirtschaftswissenschaftler \u00dcmit Ak\u00e7ay zu tun scheint. Ebenso verkehrt ist es, von einem neuen Neoliberalismus in der T\u00fcrkei zu sprechen, wie es die Marxistin P\u0131nar Bedirhano\u011flu schon seit l\u00e4ngerem tut. Neoliberalismus l\u00e4sst sich nicht allein verstehen mittels eines Blicks auf das Verh\u00e4ltnis von Kapital und Arbeit; es muss auch noch das Verh\u00e4ltnis von Staat und Kapital und letztlich die Gesellschaftsformation als Ganze in Betracht gezogen werden. Die schwierige, teils widerspr\u00fcchliche Beziehung zwischen autorit\u00e4ren Populisten an der Macht, dem Neoliberalismus und den f\u00fchrenden Fraktionen des Gro\u00dfkapitals wurde von kritischen Forscher*innen global vergleichend herausgearbeitet. Ob es sich in der T\u00fcrkei bez\u00fcglich der politischen \u00d6konomie derzeit um einen \u00dcbergang zu einer anderen Akkumulationsweise oder gar zu einem neuen Neoliberalismus handelt, l\u00e4sst sich gar nicht so genau angeben, da sich die T\u00fcrkei in dieser Hinsicht derzeit eher in einem instabilen Krisenregime befindet, um dessen Stabilisierung unterschiedliche Akteure auf Grundlage unterschiedlicher Interessen und strategischen Vorstellungen miteinander fechten. Re-Politisierung des Wirtschaftsmanagements, eine viel zu starke und unkontrollierte Autonomie der Exekutive, Isolation in der Au\u00dfenpolitik und gesellschaftliche Polarisierung beschr\u00e4nken und behindern auch in der T\u00fcrkei die Mobilit\u00e4t, Stabilit\u00e4tsinteressen und Kontrolle der f\u00fchrenden Fraktionen des Kapitals, weswegen sich der gr\u00f6\u00dfte Interessenverband des Gro\u00dfkapitals, T\u00dcSIAD, seit 2013 durchgehend diesbez\u00fcglich beschwert.
Auch w\u00e4hrend der Corona-Pandemie betonte der T\u00dcSIAD, dass zu fr\u00fche Lockerungen gef\u00e4hrlich sind, eine Importsubstitution gro\u00dfe Sch\u00e4den verursacht, dass Frauenrechte zu achten sind und letztlich dass ein politisiertes und Kredit-basiertes Wirtschaftsmanagement nicht funktioniert und stattdessen ein produktives Update des t\u00fcrkischen Kapitalismus vonn\u00f6ten ist. Selbstverst\u00e4ndlich sind es aber zugleich die f\u00fchrenden Fraktionen des Gro\u00dfkapitals in der T\u00fcrkei, die am meisten von der Wirtschaftspolitik der Partei f\u00fcr Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) profitierten \u2013 sei es durch Privatisierungen, Flexibilisierung der Arbeitsverh\u00e4ltnisse oder dem Zufluss von ausl\u00e4ndischem Kapital. Daher sehen sie die derzeitige Krise auch als gro\u00dfe Chance: Die Interessenverb\u00e4nde des Gro\u00dfkapitals, ob nun eher islamisch-konservativ (M\u00dcSIAD) oder westlich-laizistisch (T\u00dcSIAD) orientiert, reden davon, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, China in der globalen Wertsch\u00f6pfungskette zu ersetzen. Die vorgeschlagenen Mittel sind dystopisch: Die Rede ist von riesigen, abgeschotteten Industrie-St\u00e4dten mit rechtlosen Arbeitskr\u00e4ften und einem elektronischen \u00dcberwachungspanopticon unter dem Deckmantel der Pandemiebek\u00e4mpfung. Gleichzeitig arbeitet die Regierung auf Anweisung von Erdo\u011fan an Gesetzen, um das Abfindungsrecht massiv einzuschr\u00e4nken und Teilzeitarbeit zu normalisieren. Der linke Gewerkschafter Aziz \u00c7elik warnt, auf dem Hintergrund der oben erw\u00e4hnten Erfahrung mit dem \u00bbgeschlossenen Arbeitssystem\u00ab bei Vestel, zu Recht vor \u00bbCovid-1984\u00ab.
F\u00fcr die Armen und Mittellosen hat der Staat jedenfalls so gut wie nichts \u00fcbrig. Das Kurzarbeitergeld f\u00fcr formell Besch\u00e4ftigte beschr\u00e4nkt sich auf etwas weniger als f\u00fcnf Euro pro Tag. Davon und von \u00e4hnlichen Zuwendungen profitierten zwar grob sechs Millionen Arbeiter*innen bis Anfang August. Aber allein die Unterst\u00fctzungszahlungen des staatlichen Arbeitslosenfonds an Unternehmen (!) seit 2019 bis heute sind h\u00f6her als die Gesamtsumme an Kurzarbeitergeldern, die der Fonds im Zuge der Corona-Pandemie an Werkt\u00e4tige und Arbeitslose auszahlte. Auch die offiziellen Zahlen des Pr\u00e4sidialamtes zeigen auf, dass alle Unterst\u00fctzungszahlungen f\u00fcr Werkt\u00e4tige bis Anfang September grob ein Drittel so gro\u00df waren wie das unternehmensfreundliche Hilfspaket vom M\u00e4rz. Also appellierte der Staat an die Bev\u00f6lkerung das zu tun, was eigentlich Aufgabe des Staates ist, n\u00e4mlich sich um Menschen in Notlagen zu k\u00fcmmern: Fast zeitgleich riefen Erdo\u011fan wie die von der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) gef\u00fchrten Stadtregierungen separat zu Spendenkampagnen f\u00fcr Bed\u00fcrftige auf. Die offizielle Kampagne von Erdo\u011fan konnte nach eigenen Angaben bis zum 30. Juni etwas weniger als 280 Millionen Euro zusammentragen. Die ganze Misere macht sich allerdings erst auf lokaler Ebene fest: Zur bisherigen Hochzeit der Pandemie im Mai beantragten ein Siebtel aller Istanbuler Haushalte, mehrheitlich aus den \u00e4rmsten Vierteln, individuelle Hilfsleistungen bei der Stadtregierung; in Ankara wurden bis Ende Mai G\u00fcter im Wert von \u00fcber 30 Millionen TL (grob 3,4 Millionen Euro) durch die Vermittlung der Stadtregierung an Bed\u00fcrftige gespendet. Laut eigenen Angaben versorgten CHP-gef\u00fchrte Kommunen bis Ende Mai insgesamt mehr als vier Millionen Familien mit Hilfen. Diese und \u00e4hnliche Kampagnen gingen weiter bis zum Opferfest (kurban bayram\u0131). Das war dem Regime ein Dorn im Auge.
Versuche autorit\u00e4rer Konsolidierung
Die Corona-Pandemie und ihre Bek\u00e4mpfung leiteten Akt Zwei im Kampf um die Gro\u00dfst\u00e4dte ein. Nachdem das Regime bei den Kommunalwahlen letzten Jahres fast alle wichtigen Gro\u00dfst\u00e4dte inklusive Istanbul und Ankara verlor, wurde es seine Leitlinie, die oppositionellen CHP-B\u00fcrgermeister finanziell lahmzulegen und ihren Handlungsspielraum \u00fcber die noch von den Regime-Parteien dominierten Stadtparlamente zu blockieren. So sollte verhindert werden, dass die Opposition \u00fcber erfolgreiche Lokalpolitik an Fahrt aufnimmt. Als nun die CHP-B\u00fcrgermeister ihre eigenen lokalen Spendenkampagnen ins Leben riefen, intervenierte das Innenministerium sofort und verbot die Annahme von monet\u00e4ren Spenden seitens der Stadtregierungen. Erdo\u011fan sprach vom Versuch, einen Parallelstaat aufzubauen, und verglich das Vorgehen der B\u00fcrgermeister mit Terrorismus.
Daraufhin wichen die Stadtregierungen auf Naturalhilfen und die Vermittlungst\u00e4tigkeit von Spenden aus. Die Rechnung der Regierung ging somit nicht auf: Die Zustimmungswerte f\u00fcr die oppositionellen B\u00fcrgermeister*innen und ihre Parteien steigen kontinuierlich; Opposition und AKP beziehungsweise Erdo\u011fan nehmen sich in Umfragen nicht mehr viel. Gleichzeitig brechen aber die Einnahmen der St\u00e4dte ein, und die Regimeparteien reduzieren oder blockieren Finanzmittel und Kreditaufnahme. Schon jetzt k\u00fcndigt der Istanbuler B\u00fcrgermeister Imamo\u011flu (CHP) ein K\u00fcrzungsprogramm von 35 Prozent in allen Ressorts an. Wie lange die Ressourcen der oppositionellen B\u00fcrgermeister reichen, ist ungewiss.
Um die schwindende Legitimation auszugleichen, griff das Regime auf seine altbekannten Taktiken autorit\u00e4rer Konsolidierung zur\u00fcck. Zum einen ging die Repression, insbesondere gegen die linke, pro-kurdische Demokratische Partei der V\u00f6lker (HDP), nahtlos weiter: Mittlerweile sind fast alle HDP-B\u00fcrgermeister*innen wegen \u00bbTerrorverdachtes\u00ab abgesetzt, drei Parlamentarier*innen (zwei von der HDP, einer von der CHP) wurden teils zeitweise inhaftiert, missliebige Richter*innen wie die Vorsitzende der Richter*innengewerkschaft Ay\u015fe Sar\u0131su Pehlivan strafversetzt oder vom Dienst suspendiert. Erst heute wurde wieder zu einem gro\u00dfen Schlag gegen HDP und andere Linke in mehrere St\u00e4dten ausgeholt: 82 Personen, darunter ehemalige Parlamentarier*innen wie S\u0131rr\u0131 S\u00fcrreyya \u00d6nder oder Altan Tan, wurden festgenommen unter den abstrusesten Terrorvorw\u00fcrfen.
Aber Repression und Autoritarismus sind auch ein mobilisierendes Mittel der Herrschaftssicherung, sofern sie in der Lage sind, eine autorit\u00e4re Basis aufzubauen, die den autorit\u00e4ren Staat st\u00fctzt und selbst wiederum von ihm gest\u00fctzt und aufgewertet wird. Das funktioniert partiell. Drei armenische Kirchen wurden innerhalb eines Monats angegriffen, die Hrant-Dink-Stiftung hat Todesdrohungen bekommen, die allt\u00e4gliche Polizeigewalt hat zugenommen, ebenso anti-kurdische \u00dcbergriffe. Eine AKP-Anh\u00e4ngerin konnte live im Fernsehen dar\u00fcber fantasieren, dass ihre Familie mindestens ein paar Dutzend Oppositionelle umbringen kann. Kein Wunder, dass unz\u00e4hlige kleine Despot*innen wie Pilze aus dem Boden schie\u00dfen, wenn der Staatspr\u00e4sident gegen die \u00bbarmenische und griechische Lobby\u00ab wettert, das Innenministerium Folter durch die Polizei verteidigt und generell von den h\u00f6chsten Staatsspitzen aus eine extrem polarisierende und chauvinistische Rhetorik gegen Oppositionelle und Minderheiten gefahren wird. Die R\u00fcckwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee mit bis zu 300.000 Beteiligten beim ersten Freitagsgebet vom 24. Juli diente demselben Ziel der Konsolidierung der Regimebasis durch einen rasenden nationalistisch-islamistischen Chauvinismus.
Gleichzeitig wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Entlassung von bis zu 90.000 Straft\u00e4tern aus den Gef\u00e4ngnissen erm\u00f6glichte \u2013 politische Gefangene ausgenommen. Frauenorganisationen f\u00fchren unter anderem darauf den Anstieg von Gewalt an Frauen zur\u00fcck. Mittlerweile wird offen \u00fcber einen Austritt aus der Istanbul-Konvention debattiert, die der Pr\u00e4vention von h\u00e4uslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen dient. Als der oberste Religionsgelehrte des Landes seitens der Anwaltskammer von Ankara stark kritisiert wurde, weil er \u00f6ffentlich \u00e4u\u00dferte Homosexuelle w\u00fcrden Krankheiten verbreiten und zur Degeneration beitragen, stellte sich Erdo\u011fan hinter den Religionsgelehrten und sah die \u00bbnationalen Werte\u00ab in Gefahr. \u00c4hnlich ausfallend \u00fcber LGBTI+ \u00e4u\u00dferten sich der Vorsitzende des Roten Halbmondes in der T\u00fcrkei und der Pr\u00e4sidentensprecher, w\u00e4hrend seitens der AKP als eines der Hauptargumente gegen (!) die Istanbul-Konvention die angebliche F\u00f6rderung von LGBT-Identit\u00e4ten durch dieselbe angef\u00fchrt wird. War die Anrufung einer autorit\u00e4ren, patriarchalen Heteronormativit\u00e4t stets ein beliebtes Mittel der AKP, so radikalisiert sich diese angesichts von Corona und gender-basierter hate speech von oben f\u00fchrt zu gender-basierter Gewalt von unten: Die LGBTI+-Organisation SPoD berichtet von einer Verdopplung von Hilfegesuchen wegen gender-basierter Diskriminierung und Gewalt in den 45 Tagen seit jenen \u00c4u\u00dferungen des obersten Religionsgelehrten.
Auch institutionell wurden Schritte zur autorit\u00e4ren Verankerung unternommen: Ein Gesetzespaket gab der zus\u00e4tzlich zur Polizei neu gegr\u00fcndeten und \u00fcber 20.000 Mann starken Sicherheitsstruktur der Nachtw\u00e4chter (bek\u00e7i) das Recht zur Waffennutzung. Diese steht mutma\u00dflich der Regierung nahe und f\u00e4llt durch brutale \u00dcbergriffe auf. Eine andere relativ autonome und haupts\u00e4chlich dem hohen Staatspersonal zugeordnete Sicherheitsstruktur innerhalb der bestehenden Polizei, die Hilfseinsatzkr\u00e4fte der Polizei (Takviye Haz\u0131r Kuvvet Polis Birimi), wurde verst\u00e4rkt. Zudem verabschiedeten die Regimeparteien ein Gesetz, das die Macht der oppositionellen und mitgliedsst\u00e4rksten Anwaltskammern (Istanbul, Izmir und Ankara) bricht und die regimetreuen und mitgliedsschwachen anatolischen Anwaltskammern st\u00e4rkt. Angek\u00fcndigt ist ein \u00e4hnliches Vorgehen gegen fast alle restlichen relativ autonomen und regimekritischen Kammern (\u00c4rztekammer, Ingenieurskammer), w\u00e4hrend Erdo\u011fans Hauptb\u00fcndnispartner, der Chef der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) Devlet Bah\u00e7eli gar gleich ganz die Schlie\u00dfung der \u00c4rztekammer fordert. Aus der Perspektive legislativer Macht ist das Parlament de facto dysfunktional geworden, da Erdo\u011fan in den zwei Jahren seiner Pr\u00e4sidentschaft nach dem neuen Pr\u00e4sidentschaftssystem mehrere Dutzend Gesetze und Tausende von Gesetzes\u00e4nderungen in Form von Pr\u00e4sidialdekreten ohne Beteiligung des Parlaments und noch nicht einmal seiner eigenen Partei erlassen hat.
Nicht zuletzt nimmt das milit\u00e4rische Engagement der T\u00fcrkei zu. Nach mehreren Invasionen in die mehrheitlich kurdisch kontrollierten Teile Nord- und Nordwestsyriens (auch Rojava genannt) in den letzten Jahren, legte sich die T\u00fcrkei kurz vor Ausbruch der Pandemie mit dem syrischen Regime im letzten gr\u00f6\u00dferen, mehrheitlich von Jihadisten kontrollierten Gebiet in Nordwestsyrien, Idlip, an. Noch mitten in der Pandemie intervenierte die T\u00fcrkei zus\u00e4tzlich in Libyen zugunsten der \u00dcbergangsregierung (GNA) von as-Sarraj und konnte nicht nur deren totale Niederlage gegen General Hafter abwenden, sondern ihr sogar zu einer Offensive verhelfen. Parallel dazu begann die T\u00fcrkei im Juni wieder mit mehreren Milit\u00e4roperationen im Irak, um logistische Strukturen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu zerschlagen. Zielt der Libyeneinsatz auf eine Gro\u00dfraumkontrolle im \u00f6stlichen Mittelmeer zwecks Zugriff auf Energieressourcen, so geht es in Syrien und im Irak eher um die Hegemonie im Nachkriegssyrien und die Zerschlagung kurdischer Autonomie. Und nat\u00fcrlich dient der Militarismus auch der Aufrechterhaltung des autorit\u00e4ren Regimes im Inneren.
Das in der Geschichte der T\u00fcrkischen Republik bisher einmalig breit aufgef\u00e4cherte au\u00dfenpolitische und milit\u00e4rische Auftreten entspricht zwar dem Aktionspotenzial des t\u00fcrkischen Kapitalismus und ist nur auf dem geschichtlichen Hintergrund neuer strategischer Perspektiven und Praktiken zu verstehen, die unterschiedliche politische Eliten der T\u00fcrkei seit Ende der Sowjetunion entwickelten und die wiederum einem globalen Trend zur Multipolarisierung entsprechen. Aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunkten formuliert besteht der gemeinschaftliche Kern jener neuen strategischen Perspektiven darin, der T\u00fcrkei mehr Autonomie und Weltgeltung zu verschaffen mit dem Fokus auf die unmittelbare geographisch-kulturelle Umgebung der T\u00fcrkei beziehungsweise auf die sunnitisch-islamische Welt im Allgemeinen. Aber das derzeitige aggressive Vorgehen der Regierung bei der Umsetzung dieser Strategie erh\u00f6ht gleichzeitig die au\u00dfen- und innenpolitischen Risiken des Regimes. Nicht nur nimmt der Ertrag von \u00bbcoercive diplomacy\u00ab rapide ab, da ein einseitiger Fokus auf diese Taktik es der T\u00fcrkei verunm\u00f6glicht Demonstration milit\u00e4rischer St\u00e4rke in diplomatische Siege umzuwandeln. Zugleich muss die T\u00fcrkei nun aktiv gegen andere etablierte Interessen wie die Russlands, \u00c4gyptens oder der Vereinigten Arabischen Emirate Politik machen. Die derzeitige exzessive Militarismus der T\u00fcrkei hat zu einer beispiellosen Isolation der T\u00fcrkei insbesondere in der arabischen Welt gef\u00fchrt: L\u00e4nder wie Bahrein, die Vereinigten Arabischen Emirate, \u00c4gypten und Israel, die bisher aus historischen Gr\u00fcnden nicht die besten Beziehungen miteinander unterhielten, haben sich de facto zu einem Block gegen die t\u00fcrkisch-imperialistischen Ambitionen zusammengeschlossen. Gleichzeitig bringt sich das Regime wegen der militarisierten Politik immer mehr um eine integrative L\u00f6sung der sogenannten \u00bbKurdischen Frage\u00ab nicht nur im Inneren der T\u00fcrkei.
W\u00f6lfe unter sich
Erdo\u011fan ist zwar als Staatspr\u00e4sident de jure die h\u00f6chste Macht im Staate, aber wie in allen autorit\u00e4ren Staaten regiert auch in der T\u00fcrkei kein Mann allein, sondern die W\u00f6lfe sind unter sich. Umso mehr Dezisionismus Konstitutionalismus ersetzt, umso mehr kristallisiert sich ein polykratischer F\u00fchrerstaat heraus, in dem Machtgruppen miteinander ebenfalls dezisionistisch und unter Anrufung Erdo\u011fans als letzten Richter und gro\u00dfen Vermittler um Einfluss und Status konkurrieren. W\u00e4hrend sich die nationalistischen Fraktionen im Machtblock zunehmend durchsetzen, tun sich unterhalb Erdo\u011fans eine Reihe starker M\u00e4nner hervor, die nicht aus der Tradition des politischen Islams stammen. So der Innenminister Soylu, dessen von Erdo\u011fan abgelehnter R\u00fccktritt wegen des desastr\u00f6sen Vorgehens bei der ersten Ausgangssperre im Land \u2013 sie wurde vom Innenministerium zwei Stunden vor Inkrafttreten verk\u00fcndet, was zu einer Massenpanik f\u00fchrte und Millionen auf die Stra\u00dfe zwecks Panikk\u00e4ufen trieb \u2013 weitestgehend als erfolgreiches Machtman\u00f6ver der nationalistischen Fraktion um Soylu gegen AKP-interne Kontrahent*innen gedeutet wird. Soylu ist mittlerweile einer der beliebtesten Politiker im Land, insbesondere bei der Basis des Regimes, und wird als derjenige angesehen, der am besten dazu geeignet ist Erdo\u011fan zu ersetzen, sollte dieser den Vorsitz der AKP abgeben. Der Dezisionismus der unteren Ebenen kann dabei jederzeit vom Dezisionismus Erdo\u011fans gebrochen werden: Obwohl Innenministerium und Gesundheitsministerium \u2013 die beiden f\u00fcr die Pandemiebek\u00e4mpfung zentralen Ministerien \u2013 mit Zustimmung Erdo\u011fans am ersten Juniwochenende, als die \u00bbNormalisierung\u00ab eigentlich schon angefangen hatte, erneut eine Ausgangssperre f\u00fcr 15 St\u00e4dte beschlossen, hob Erdo\u011fan diesen Beschluss nachtr\u00e4glich auf, da er so etwas mit seinem \u00bbGewissen nicht vereinbaren\u00ab konnte. Als der Finanzminister Berat Albayrak 2018 im Zuge einer Offensive zur Rehabilitierung des Ansehens der t\u00fcrkischen Wirtschaftspolitik im Ausland ein B\u00fcro erschuf, das unter wesentlicher Beteiligung des internationalen Beratungsunternehmens McKinsey & Company die Wirtschaftspolitik der t\u00fcrkischen Regierung \u00fcberpr\u00fcfen und bewerten sollte, intervenierte Erdo\u011fan innerhalb einer Woche und l\u00f6ste die Vereinbarung auf.
Auch das institutionelle Geflecht der Staatsapparate franst aus: Die Aufgabenteilung innerhalb der Exekutive ist mittlerweile unklar, da dem Pr\u00e4sidenten unterstehende Beratungsgremien und B\u00fcros exekutive Arbeiten wie die Planung des nationalen Wirtschaftsprogramms \u00fcbernehmen, die eigentlich jeweiligen Fachministerien wie dem Finanzministerium zugeordnet sein m\u00fcssten. Das f\u00fchrt zu einer Erosion des institutionellen Eigengewichts der jeweiligen Ministerien und ihrer relativ autonomen Traditionen und Operationsweisen wie beispielsweise des Au\u00dfenministeriums, das sich laut eines sich anonym \u00e4u\u00dfernden Diplomaten in einer \u00bbstate of paralysis\u00ab befindet. Politisierung und Klientelismus angef\u00fchrt durch den Pr\u00e4sidialapparat ersetzen so zunehmend auch die exekutive Arbeitsteilung in Ministerien, die selber immer mehr zu uneigenst\u00e4ndigen technokratischen Anh\u00e4ngseln des Pr\u00e4sidialapparats werden statt politische Entscheidungstr\u00e4ger zu sein. Wo Ministerien mal initiativ hervorstechen wie das Wirtschaftsministerium oder das Innenministerium, dann wegen ihrer jeweiligen Minister (Berat Albayrak beziehungsweise S\u00fcleyman Soylu), die im Kampf um Einfluss und Status Risikobereitschaft zeigen und eigenst\u00e4ndige Initiativen \u00fcbernehmen in der Hoffnung, dass Erdo\u011fan ihr Vorgehen absegnet.
Andererseits st\u00e4rkt der milit\u00e4rische Kurs den ehemaligen Generalstabschef und derzeitigen Verteidigungsminister Hulusi Akar, der zum wiederholten Male konkurrierende Gener\u00e4le strafversetzen lie\u00df oder zum R\u00fccktritt zwang. Nicht zuletzt gibt der Hauptb\u00fcndnispartner der AKP, die MHP, immer mehr den Ton in der Regierungspolitik an. Als ein gro\u00dfer Erfolg der MHP in Pandemiezeiten kann gewertet werden, dass der faschistische Auftragsm\u00f6rder Alaattin \u00c7ak\u0131c\u0131, ein gl\u00fchender MHP-Anh\u00e4nger, nach 16 Jahren Haft wegen Mordes fr\u00fchzeitig freigelassen wurde. Erdo\u011fan sperrte sich bis zuletzt gegen eine Amnestie, mutma\u00dflich weil er eine zu starke MHP f\u00fcrchtete. Offensichtlich haben sich die Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse innerhalb des Regimes verschoben. \u00c4hnlich der Fall des nationalistisch-islamistischen Intellektuellen M\u00fcmtaz\u2019er T\u00fcrk\u00f6ne: Seit 2016 inhaftiert \u2013 absurderweise wegen G\u00fclen-N\u00e4he \u2013, verlangte Bah\u00e7eli im Fr\u00fchjahr 2020 dessen Freilassung, was gestern vom Kassationshof tats\u00e4chlich vollzogen wurde.
Was die hohe Justiz angeht, dringt genug durch, dass wir feststellen k\u00f6nnen, dass es einen intensiven Machtkampf gibt zwischen unterschiedlichen islamistischen Gruppierungen, die zusammen genommen Weg der Rechtschaffenheit (Hakyol) genannt werden und dem Justizminister Abd\u00fclhamit G\u00fcl nahestehen, der sogenannten Istanbuler Gruppe mit N\u00e4he zu Albayrak und den \u00dcberresten einer nationalistisch-alevitisch-partiell linken Koalition, die sich organisiert in der Vereinigung f\u00fcr Einheit in der Judikative (Yarg\u0131da Birlik Platformu). W\u00e4hrend letztere nach 2014 in die hohe Justiz aufgenommen wurden, um beim Kampf gegen den Einfluss der G\u00fclenisten zu helfen, werden sie jetzt sukzessive wieder aus den h\u00f6heren Posten verdr\u00e4ngt. Andererseits leistet die Istanbuler Gruppe Widerstand gegen Reformen des Justizministeriums, die eine oberfl\u00e4chliche Teilliberalisierung der politisierten Justiz beabsichtigen, weil diese au\u00dfer Kontrolle ger\u00e4t. Unter anderem daraus l\u00e4sst sich erkl\u00e4ren, warum einige Lokalgerichte weiterhin verbindliche Entscheidungen des Verfassungsgerichtes (AYM) ignorieren wie im Fall der Altan Br\u00fcder, und warum die Anzahl von Urteilen von unteren Gerichten, die das AYM wegen Verletzung des Rechts auf freies und faires Verfahren aufhob, in die H\u00f6he geschossen sind und mittlerweile \u00fcber 50 Prozent aller vom AYM revidierten Urteile ausmachen. Seit einigen Tagen findet wieder ein haupts\u00e4chlich \u00fcber Medien ausgetragenes Wortgefecht zwischen Innenminister Soylu und dem Vorsitzendem des AYM, Z\u00fcht\u00fc Arslan statt, wobei jener das AYM daf\u00fcr kritisiert viel zu lax vorzugehen angesichts \u00bbterroristischer Gefahr\u00ab f\u00fcr die \u00bbnationale Sicherheit\u00ab, w\u00e4hrend sich das AYM gegen eine Einmischung in die Unabh\u00e4ngigkeit der Justiz wehrt.
Aber da der Dezisionismus auf allen Ebenen des Staates Konstitutionalismus ersetzt, ist auch das AYM durchpolitisiert: Nicht nur spaltet es sich regelm\u00e4\u00dfig in zwei etwa gleich starke Lager bei Entscheidungen, bei denen es um politisch sensible Inhalte geht, wobei dann die eine H\u00e4lfte die Grundreiheiten, die andere die nationale Sicherheit hochh\u00e4lt. W\u00e4hrend erstere letztes Jahr mit einer Stimmenmehrheit von nur einer Stimme die Akademiker*innen f\u00fcr Frieden von allen Vorw\u00fcrfen freisprach und daf\u00fcr vom anderen Lager gebrandmarkt wurde, konnte letztere ebenfalls mit nur einer Stimme Mehrheit durchsetzen, dass der liberale M\u00e4zen Osman Kavala wegen Gef\u00e4hrdung der nationalen Sicherheit nicht freigesprochen wurde, wogegen wiederum der Vorsitzende des AYM heftig protestierte. Die k\u00fcrzlich erfolgte Aufhebung des vom Innenministerium erlassenen Gesetzes zum Verbot von Versammlungen auf Autobahnen \u2013 diese Entscheidung f\u00fchrte zum Zwist zwischen AYM und Soylu \u2013 wurde ebenfalls mit nur einer Stimme Mehrheit, und zwar mit der des Vorsitzenden Z\u00fcht\u00fc Arslan beschlossen. Zugleich reproduziert aber das AYM im Gro\u00dfen die anti-konstitutionalistische Herangehensweise, die Lokalgerichte gegen das AYM bezeugen, namentlich wenn es aktiv ablehnt, sich bindenden Entscheidungen des Europ\u00e4ischen Gerichtshofs f\u00fcr Menschenrechte zu beugen.
Moderatere Stimmen wie die B\u00fcrgermeisterin von Gaziantep, Fatma \u015eahin (AKP), die die Bezeichnung der Opposition als Terroristen ablehnte, sind mittlerweile innerhalb des regierenden Parteienblocks eine Rarit\u00e4t geworden. Die meisten gem\u00e4\u00dfigten Politiker*innen haben mittlerweile bei zwei AKP-Abspaltungen Zuflucht gefunden, der Partei f\u00fcr Demokratie und Fortschritt (DEVA) des ehemaligen Finanzministers der AKP, Ali Babacan und bei der Zukunftspartei (GP) des ehemaligen Au\u00dfen- und Premierministers der AKP, Ahmet Davuto\u011flu. Vertritt Davuto\u011flu eher den islamisch-konservativen Fl\u00fcgel ehemaliger AKPler, so Babacan eher den liberal-konservativen Fl\u00fcgel. F\u00fcr beide ist allerdings klar, dass die Anfangsjahre der AKP bis 2013 eine Erfolgsstory waren, die zu wiederholen ist. Eine grundlegende Infragestellung des neoliberalen Akkumulationsregimes, das die AKP errichtete und das sich derzeit in einer tiefen Krise befindet, ist von diesen Parteien nicht zu erwarten. F\u00fcr die Regimeparteien ist die Formation dieser neuen Parteien aber trotzdem eine solche Gefahr, dass eine Zeit lang offen \u00fcber vorgezogene Neuwahlen diskutiert wurde um einem potenziellen Erstarken der neuen Parteien zuvorzukommen und derzeit ein Gesetzespaket in Arbeit ist, das einerseits gegen kleine Parteien gerichtet ist und andererseits den Parteienwechsel von Parlamentarier*innen erschweren soll.
Die andere T\u00fcrkei
Es gibt aber auch eine andere T\u00fcrkei, die nicht so tickt wie das Wolfsrudel. Eine von der linken Konf\u00f6deration der Revolution\u00e4ren Arbeitergewerkschaften der T\u00fcrkei (DISK) angek\u00fcndigte organisierte Aus\u00fcbung des Rechts auf Arbeitsniederlegung wegen unmittelbar drohender Gefahr (Gesetz Nr. 6331 \u00fcber den Arbeitsschutz) durch Corona wurde zwar nie fl\u00e4chenweit umgesetzt; dennoch streikten Arbeiter*innen von sich aus beispielsweise in Dar\u0131ca/Kocaeli (Sarkuysan Elektronik Bak\u0131r), Diyarbak\u0131r (Diyarbak\u0131r Organize Sanayi B\u00f6lgesi), Istanbul (AKM Taksim) und Izmir (Akar Tekstil) wegen Infektionsf\u00e4llen und fehlendem Gesundheitsschutz. In Izmir demonstrierten Gesundheitsarbeiter*innen gegen Gehaltsk\u00fcrzungen und ausstehende Zusatzzahlungen, in Istanbul Bauarbeiter*innen bei Ofton Construction f\u00fcr die Auszahlung von zur\u00fcckgehaltenen L\u00f6hnen (mit Erfolg). In gr\u00f6\u00dferen Fabriken in Izmir und Istanbul wird neuerdings gegen ein geplantes Gesetz zur Zerschlagung des Abfindungsrechts protestiert, w\u00e4hrend K\u00e4mpfe gegen klassische union busting-Methoden wie die fristlose K\u00fcndigung von gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen ebenfalls weiter gef\u00fchrt werden. [6]
Auf der politischen Ebene stechen neben der erfolgreichen Anti-Korruptions- und Sozialpolitik der CHP-B\u00fcrgermeister die zwei gro\u00dfen Protestm\u00e4rsche der Anwaltskammern und der HDP im Juni sowie die Proteste von Fraueorganisationen gegen eine m\u00f6gliche Abschaffung der Istanbuler Konvention hervor. Die HDP hielt trotz aller Polizeirepression einen Demokratiemarsch ab gegen die Absetzung ihrer B\u00fcrgermeister*innen und die Inhaftierung ihrer Parlamentarier*innen; die Anwaltskammern organisierten einen \u00bbVerteidigungsmarsch\u00ab gegen das Gesetzespaket zur Schw\u00e4chung der Anwaltskammern.
Ein Gro\u00dfteil des Dissens und des abweichenden Potenzials ist zwar nicht greifbar, offenbart sich aber in anonymisierten Umfragen. Deren Ergebnisse zeigen, dass junge Menschen, die 2018 zum ersten Mal w\u00e4hlen durften und bei den 2023 anstehenden Wahlen etwa 20 Prozent aller W\u00e4hler*innen ausmachen werden, in \u00fcberw\u00e4ltigender Mehrheit (\u00fcber 70 Prozent) nicht die Regimeparteien w\u00e4hlten und sich f\u00fcr Demokratie und Gerechtigkeit aussprechen. Ein Gro\u00dfteil der Jugendlichen f\u00fchlt sich von den in der Gesellschaft dominanten Werten wie Nationalismus oder Konservatismus nicht mehr angesprochen, ebenso wenig von den bestehenden Parteien. Bev\u00f6lkerungsrepr\u00e4sentative Umfragen ergeben ebenso, dass dieselben demokratiefreundlichen Tendenzen vorherrschen, wenn auch abgeschw\u00e4chter und weit weniger ausgepr\u00e4gt, sobald spezifischer nach Rechten der Kurd*innen und Alevit*innen gefragt wird. Zudem steigt die Zustimmung zu feministischen Themen und nimmt die Entgegensetzung von Religi\u00f6sit\u00e4t und linker Politik ab. Ein Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung inklusive der AKP-Basis lehnt eine Abschaffung der Istanbuler Konvention ab. Sogar die Frauenorganisation der AKP protestierte vehement gegen eine m\u00f6gliche Abschaffung der Istanbuler Konvention (w\u00e4hrend sie sich allerdings zugleich sehr stark anti-LGBTQI+ positionierte), was zu \u00dcberwerfungen im Regimelager f\u00fchrte. Die \u00f6konomische Situation ist zum Hauptproblem der Bev\u00f6lkerung weit vor \u00bbTerror\u00ab, Au\u00dfenpolitik oder andere Themen ger\u00fcckt. Auch die Rekonversion der Hagia Sophia hat keinen Einfluss auf potenzielles Wahlverhalten gehabt, da ein Gro\u00dfteil der Bev\u00f6lkerung glaubt, dass die Rekonversion vollzogen wurde um von \u00f6konomischen Schwierigkeiten abzulenken. Gleichzeitig mit einem demokratischen Grundkonsens in der breiten Bev\u00f6lkerung artikuliert sich allerdings auch ein aggressiver Nationalismus, der nur m\u00e4\u00dfig bis gar nicht religi\u00f6s motiviert ist.
Auch in der weithin konservativen W\u00e4hler*innenbasis von AKP und MHP zeigen sich, wie schon seit l\u00e4ngerem, \u00e4hnliche Tendenzen auf: Wie eine neuere ausf\u00fchrliche Analyse von Max Hoffman mittels Interviews in der urbanen Basis von AKP und MHP aufzeigen konnte, beschweren sich diese \u2013 und hierin insbesondere die Jugendlichen \u2013 weiterhin \u00fcber Korruption, Klientelismus, eine zu stark aufoktroyierte Religi\u00f6sit\u00e4t und unbrauchbare Medien und sprechen sich f\u00fcr Toleranz aus. Das zeigt, wie stark transformierte \u00dcberreste von \u00dcberzeugungen redistributiver, kommunaler Gerechtigkeit im islamisch-national-konservativen Milieu weiter existieren, auch wenn sie zugleich gekreuzt werden von reaktion\u00e4ren \u00dcberzeugungen. Denn die Studie von Hoffman zeigt zugleich auf, wie die AKP-MHP-Basis Erdo\u011fan mystifiziert \u00fcberh\u00f6ht und teils stark nationalistisch gepr\u00e4gt ist. Dieses widerspr\u00fcchliche Amalgam aus reaktion\u00e4ren und (potenziell) fortschrittlichen Elementen entspricht recht genau dem, was sich mit Gramsci als \u00bbWiderspr\u00fcchlichkeit des Alltagsbewusstseins\u00ab bezeichnen l\u00e4sst und das sich dann einstellt, wo es kein organisiertes Klassenbewusstsein oder gesellschaftliche Verh\u00e4ltnisse gibt, innerhalb derer die Menschen selber erm\u00e4chtigt sind.
Wie die Widerst\u00e4nde gegen den Autoritarismus und der starke demokratische Grundkonsens neben reaktion\u00e4ren Elementen innerhalb eines gro\u00dfen Teils der Bev\u00f6lkerung aufzeigen, gibt es mehr als genug Ansatzpunkte f\u00fcr eine andere T\u00fcrkei. Dass diese (noch?) nicht erbl\u00fcht, hat nicht nur mit der Repressionsfuror des autorit\u00e4ren Regimes zu tun. Einige der wichtigsten Oppositionsparteien tun sich weiterhin schwer damit, ernsthaft f\u00fcr diese andere T\u00fcrkei zu streiten. Zwei Gr\u00fcnde sind hier zentral: Einmal das Verh\u00e4ltnis zur \u00bbKurdischen Frage\u00ab, zum anderen die allgemeine Staatsr\u00e4son. Die CHP hat die HDP w\u00e4hrend der gesamten Phase bis auf Lippenbekenntnisse mehr oder minder alleine gelassen, ja CHP-Chef K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu lehnte mehrmals ab, auf die Stra\u00dfen zu mobilisieren, weil er meinte, dies sei eine Einladung f\u00fcr die AKP, den Ausnahmezustand wieder einzuf\u00fchren. Als ob ein den W\u00fcnschen und Dekreten des Pr\u00e4sidenten unterstehender Staat mit einer durch und durch politisierten Justiz und polizeistaatlicher Willk\u00fcr nicht schon ein Staat des Ausnahmezustands w\u00e4re; als ob sich ein solches System ohne auch die Macht der Stra\u00dfe umw\u00e4lzen lie\u00dfe. Ak\u015fener, Chefin der oppositionellen MHP-Abspaltung Gute Partei (IYI), ist da unverbl\u00fcmter: Sie identifiziert regelm\u00e4\u00dfig die HDP mit der verbotenen PKK, verweigert offen die Solidarit\u00e4t mit der HDP angesichts von Repressionen und rief Erdo\u011fan sogar zur \u00bbNationalen Einheit\u00ab auf, um der Pandemie zu begegnen. Ihrer Ansicht nach sind Regierung und Opposition schon geeint in au\u00dfenpolitischen Dingen, das hei\u00dft im chauvinistischen Militarismus, wie auch die CHP oder Davuto\u011flus GP die Regierung daf\u00fcr kritisierten, zu viele Zugest\u00e4ndnisse zu machen und nicht genug die Rechte der T\u00fcrke im \u00f6stlichen Mittelmeer zu wahren, sprich nicht gen\u00fcgend chauvinistisch und militaristisch zu agieren. Bezeichnenderweise dauerte es Tage, bis Ak\u015fener ein gemeinsames Angebot von Erdo\u011fan und Bah\u00e7eli das Oppositionslager zu verlassen und sich auf Regimeseite zu schlagen ablehnte.
Die \u00bbKurdische Frage\u00ab ist nicht das einzige demokratische Problem der T\u00fcrkei, sie ist aber zur Chiffre aller demokratischen Probleme der heutigen T\u00fcrkei geworden. Und das ist zugleich auch in der allgemeinen Staatsr\u00e4son begr\u00fcndet: Staat und Kapital in der T\u00fcrkei bef\u00fcrchten, dass mit der unkontrollierten Partizipation des Gro\u00dfteils des Bev\u00f6lkerung am politischen Prozess wie w\u00e4hrend des Gezi-Aufstandes 2013 auch Forderungen nach einer grundlegend anderen, demokratischen und sozialen Republik stark werden, in der die starken M\u00e4nner und die staatstreue Opposition von heute keinen Platz mehr haben. Das ist vielleicht auch der Hauptgrund daf\u00fcr, warum die Hauptoppositionsparteien unf\u00e4hig und vor allem nicht gewillt sind, Erdo\u011fan grundlegend herauszufordern, der wiederum Tag um Tag seine relative Autonomie weiter ausbaut und die T\u00fcrkei immer mehr in eine Sackgasse aus Wirtschaftskrise und Instabilit\u00e4t man\u00f6vriert \u2013 wobei letzteres offensichtlich nicht den Interessen der f\u00fchrenden Fraktionen des Kapitals und der b\u00fcrgerlichen Opposition entspricht.
In eing\u00e4ngigeren Analysen der Erfolge der Opposition in den letzten Jahren, die diese Erfolge an einer anti-populistischen Inklusivit\u00e4t und der Koordination der Opposition auf Grundlage einer demokratischen Perspektive im Antagonismus zum Autoritarismus festmachen, wird \u00fcblicherweise fast vollst\u00e4ndig unterschlagen, wie ineffektiv oder gar unterst\u00fctzend die Hauptoppositionsparteien gegen\u00fcber der Politik des Regimes \u00fcber Jahre hinweg blieben, insbesondere hinsichtlich des Militarismus und Chauvinismus. Auch als das Regime die Rekonversion der Hagia Sophia in eine Moschee in ein regelrechtes nationalistisch-islamistisches Festival verwandelte, kam \u2013 au\u00dfer von der HDP \u2013 nichts von den Oppositionsparteien, um ja nicht muslimische W\u00e4hler*innen abzuschrecken. Ja, wichtige Oppositionspolitiker*innen wie Muharrem Ince (republikanischer Kontrahent Erdo\u011fans im Pr\u00e4sidentschaftswahlkampf 2018) oder Meral Ak\u015fener begr\u00fc\u00dften sogar die Rekonversion \u2013 daher die Einladung von Erdo\u011fan und Bah\u00e7eli an Ak\u015fener und die sehr freundliche Berichterstattung der pro-Regime-Medien \u00fcber Ince, der derzeit an einer Abspaltungsbewegung von der CHP arbeitet.
Es gibt einen feinen, aber dennoch sehr klaren Unterschied zwischen einem inklusiven Vorgehen, das versucht auch W\u00e4hler*innen von AKP und MHP zu gewinnen, und einer Appeasementpolitik, die noch den reaktion\u00e4rsten Befindlichkeiten opportunistisch oder, noch schlimmer, aus \u00dcberzeugung nachgibt. Letzteres st\u00e4rkt nicht nur das Regime. Es erschwert zudem die M\u00f6glichkeit einer demokratischen und sozialen Zukunft der T\u00fcrkei dadurch, dass es der Dispersion und Verankerung autorit\u00e4rer Attit\u00fcden und Subjektivit\u00e4ten Vorschub leistet, die wiederum einer solchen Zukunft abtr\u00e4glich sind auch in einer Zeit nach Erdo\u011fan.
Die Hauptpole des derzeitigen politischen Kampfes in der T\u00fcrkei sind nicht die zwischen Autoritarismus und Demokratie, sondern die zwischen einer krisenhaften autorit\u00e4ren Konsolidierung und einer neoliberalen Restauration. Teile der liberalen und tats\u00e4chlich auch republikanischen und marxistischen Intelligenz tappen gerade erneut ungewollt in die Falle einer Unterst\u00fctzung f\u00fcr ein neoliberales Restaurationsprojekt gegen ein autorit\u00e4res Projekt so wie sie es beim Aufstieg der AKP in den fr\u00fchen 2000er-Jahren taten. Auch der inhaftierte ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirta\u015f, tappt in diese Falle, wenn er f\u00fcr die Illusion einer \u00bbdemokratischen Allianz\u00ab inklusive aller Oppositionsparteien wirbt anstatt das demokratisch-soziale Profil der HDP gegen beide Pole zu sch\u00e4rfen, wie er das noch vor einigen Monaten tat. Es gibt aber eine gangbare Alternative zu beiden Polen und einen Ausweg aus der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Eine solche Alternative, den \u00bbdritten Block\u00ab zu organisieren und von den beiden anderen b\u00fcrgerlichen Polen abzugrenzen war ja der Grund f\u00fcr die Gr\u00fcndung der HDP im Jahre 2012. Wenn die wirkliche demokratische und soziale Opposition in der politischen Arena erstarkt und die Menschen der anderen T\u00fcrkei ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, dann k\u00f6nnen sie nicht nur die Macht von Erdo\u011fan brechen, sondern auch daf\u00fcr sorgen, dass die dystopischen Pl\u00e4ne des Kapitals nicht aufgehen und sich das politische System grundlegend \u00e4ndert \u2013 oder zumindest gezwungen ist, viel mehr Zugest\u00e4ndnisse und Kompromisse in Richtung der popularen Kr\u00e4fte zu t\u00e4tigen als wenn eine neoliberale Restauration einfach so, das hei\u00dft ohne oder fatalerweise sogar mit Unterst\u00fctzung des demokratisch-sozialen Lagers durchregiert.
Dieser Aufsatz ist eine l\u00e4ngere und etwas andere Version eines Essays, der im Oktober erscheinen wird in: Dieter F. Bertz (Hrsg.), Die Welt nach Corona. Von den Risiken des Kapitalismus, den Nebenwirkungen des Ausnahmezustands und der kommenden Gesellschaft
Anmerkungen:
[1] Ich danke meinem Freund und Genossen Hasan Durkal, Redakteur beim linken Onlinemagazin El Yazmalar\u0131, f\u00fcr seine Unterst\u00fctzung bei diesem Artikel.
[2] Die (effektive) Reproduktionszahl gibt an, wie viele nicht-immune Menschen von einer infekti\u00f6sen Person zu einem bestimmten Zeitpunkt durchschnittlich angesteckt werden.
[3] In der linken Tageszeitung Bir G\u00fcn ist eine exzellente, mehrteilige Serie \u00fcber Arbeiter*innen und Arbeitsbedingungen w\u00e4hrend der Pandemie erschienen. Die Veteranjournalistin P\u0131nar \u00d6\u011f\u00fcn\u00e7 hat f\u00fcr Gazete Duvar eine bewundernswerte 35-teilige Reportage \u00fcber Arbeiter*innen in den unterschiedlichsten Sektoren und ihre Sorgen und Hoffnungen verfasst, in der die Arbeiter*innen und ihre Geschichten im Vordergrund stehen. Wissenschaftlich betrachtet ist die Metastudie von Dr. Necati \u00c7\u0131tak im TTB-Bericht f\u00fcr den sechsten Monat der Corona-Krise in der T\u00fcrkei zu empfehlen, der akademische Studien aus den USA, Gro\u00dfbritannien und der T\u00fcrkei zusammenfasst und dabei die ungleichen Auswirkungen der Pandemie entlang Klassenlinien festmacht. \u00c4hnlich geht Dr. Arzu \u00c7erkezo\u011flu, zugleich Vorsitzende der linken Gewerkschaftskonf\u00f6deration DISK, vor in ihrer Analyse f\u00fcr denselben Bericht.
[4] Also die offizielle Arbeitslosenquote plus die mit statistischen Tricks herausgerechneten Arbeitslosen im Verh\u00e4ltnis zu allen potenziellen Erwerbst\u00e4tigen. Vor allem w\u00e4hrend der Corona-Krise klaff(t)en offizielle und echte Arbeitslosenquote auseinander: W\u00e4hrend Millionen von Menschen aus der Erwerbst\u00e4tigkeit rausgefallen sind, steigt die Arbeitslosenquote kaum. Sogar Wirtschaftsmedien des Mainstreams wie D\u00fcnya verweisen deshalb mittlerweile auf die Sinnlosigkeit der offiziellen Arbeitslosenzahlen hin. Einen guten \u00dcberblick \u00fcber die unterschiedlichen Berechnungsmethoden und somit Quoten der Arbeitslosigkeit liefert Mustafa S\u00f6nmez in einer Analyse f\u00fcr Al-Monitor.
[5] Bei W\u00e4hrungsswaps (also W\u00e4hrungstausch/wechsel) tauschen zwei Vertragspartner*innen unterschiedliche W\u00e4hrungen miteinander f\u00fcr eine bestimmte Zeit aus, wobei ein bestimmter Zins beim Zeitpunkt des R\u00fccktausches zu zahlen ist. Swaps werden oft genutzt, um kurzfristig anstehende Zahlungen in einer W\u00e4hrung, die die involvierten Seiten nicht oder nicht ausreichend besitzen, zu begleichen. Als Tagessatz (im Englischen overnight interest rate) bezeichnet man \u00fcblicherweise den Zins auf ein Wertpapier oder einen Kredit, das/der eine Laufzeit von maximal einem Tag besitzt.
[6] Unterschiedliche linke Kollektive und Arbeiter*innenvereine berichten auf ihren Social-Media-Accounts regelm\u00e4\u00dfig \u00fcber kleine wie gro\u00dfe Arbeitsk\u00e4mpfe in der T\u00fcrkei. Ich habe w\u00e4hrend meiner Recherche zu diesem Absatz auf Informationen des Arbeiter*innenkollektivs Umut-Sen (Gewerkschaft der Hoffnung) und des Arbeiter*innenvereins Ekmek ve Onur (Brot und W\u00fcrde) zur\u00fcckgegriffen.