Die R\u00fcckkehr des Saakaschwili
\nMichail Saakaschwili ist zur\u00fcck. Der ukrainische Pr\u00e4sident Wolodymyr Selenskyj hat die Ausb\u00fcrgerung von Saakaschwili durch seinen Amtsvorg\u00e4nger Petro Poroschenko r\u00fcckg\u00e4ngig gemacht und ihn zum \u201eBerater f\u00fcr Reformen\u201c benannt. Der Vater des \u201egeorgischen Wirtschaftswunders\u201c soll nun in der Ukraine ein zweites Wunder vollbringen. Zum zigsten Mal wird angek\u00fcndigt, die Korruption nun endg\u00fcltig zu beenden. Saakaschwilis Parole lautet: \u201eMehr Konkurrenz, weniger Filz\u201c.
Ein kapitalistischer Revolution\u00e4r
Der 52-j\u00e4hrige Saakaschwili schaut auf eine abwechslungsreiche politische Karriere zur\u00fcck. 2003 kam er in Georgien in der Folge der so genannten \u201eRosenrevolution\u201c an die Macht. Die semi-friedlichen Proteste gegen Unregelm\u00e4\u00dfigkeiten bei den Wahlen st\u00fcrzten den ehemaligen sowjetischen Funktion\u00e4r Eduard Schewardnadse. Saakaschwili und seine Partei \u201eVereinte Nationale Bewegung\u201c (VNB) setzten sich bei den Neuwahlen durch. Zur \u00dcberraschung aller Beobachter*innen gelang der neuen Regierung etwas Einmaliges im postsowjetischen Raum: Ausgerechnet im seit der Sowjetzeit wegen Korruption ber\u00fcchtigten Georgien begann sich die Situation rasant zu \u00e4ndern. Verkehrspolizist*innenen h\u00f6rten auf Schmiergeld anzunehmen, Tourist*innen verloren die bis dahin sehr begr\u00fcndete Angst vor Stra\u00dfenkriminalit\u00e4t, das marode Stra\u00dfennetz wurde erneuert.
Saakaschwilis Rezepte waren einfach, deren Durchsetzung rabiat. Im Gegensatz zur Ukraine, wo sich eine starke Protestbewegung gegen Korruption entwickelte, fand in Georgien eine marktliberale \u201eRevolution von oben\u201c statt. Der Gro\u00dfteil des Staatsapparates wurde gefeuert und durch im Westen ausgebildete junge Spezialist*innen ersetzt. Die neuangestellten Beamt*innen, besonderes bei der Polizei und Staatsanwaltschaft, bekamen mehr Geld als die gefeuerten Vorg\u00e4nger*innen, galten jedoch als unabh\u00e4ngig von den lokalen Netzwerken. Das oberste Ziel der VNB war dann, das Land attraktiv f\u00fcr ausl\u00e4ndisches Kapital zu machen: Noch \u00fcbriggebliebenes Staatseigentum wurde privatisiert, die Steuern gesenkt und die Formalit\u00e4ten bei der Unternehmensgr\u00fcndung maximal erleichtert. Gegen die organisierte Kriminalit\u00e4t, die noch zur Sowjetzeit ein Faktor der lokalen Politik bildete, wurden drakonisch vorgegangen. Die Reformer machten sich den Ehrenkodex der Oberkaste der kriminellen Welt, der \u201eDiebe im Gesetz\u201c [1] zu Nutze, der es verbietet, den eigenen Status zu verleugnen. Ein Gest\u00e4ndnis dazu zu geh\u00f6ren, reichte aus, um zu sieben Jahren Haft verurteilt zu werden. Ein weiter Tatnachweis musste nicht erbracht werden. In den Gef\u00e4ngnissen wurden die \u201eGener\u00e4le\u201c der kriminellen Welt von ihren \u201eArmeen\u201c strikt isoliert. Die Gef\u00e4ngnisrevolten gegen diese Praxis wurden mit Waffengewalt niedergeschlagen. Im Bildungsbereich vergab der Staat \u201eBildungsgutscheine\u201c, die Eltern und Studierende bei den staatlichen oder privaten Bildungseinrichtungen einl\u00f6sen konnten, was die Konkurrenz befeuerte. Arbeitsschutzgesetze aus der Sowjetzeit wurden abgeschafft, die Arbeitsaufsichtsbeh\u00f6rde aufgel\u00f6st, der Arbeitsmarkt dereguliert, gewerkschaftliche Aktivit\u00e4ten eingeschr\u00e4nkt.
Vor dem Hintergrund des nun einsetzenden Rekordwirtschaftswachstums galt Georgien im Westen als ein Musterland der \u201eTransformation\u201c, ein Labor der monetaristischen Wirtschaftspolitik. Auch ein verlorener Krieg gegen Russland im August 2008 schien den Ruf Saakaschwilis nicht ersch\u00fcttert zu haben. Jedoch lie\u00df die auf die Bed\u00fcrfnisse der Tourismusbranche ausgerichtete Wirtschaftspolitik nach und nach die Zustimmung der Bev\u00f6lkerung im Agrarland Georgien schwinden. Dazu kamen die Arbeitslosigkeit und die \u00fcberf\u00fcllten Gef\u00e4ngnisse, die wiederum direktes Ergebnis des Antikorruptionskampfes waren. Nachdem 2012 die VNB die Wahlen verlor, endete 2013 Saakaschwilis Amtszeit. Nochmal kandidieren durfte er laut Verfassung nicht und die neue Regierung begann, diesmal gegen ihn selbst wegen Korruption zu ermitteln. Einem Haftbefehl entzog sich der \u201eVater des georgischen Wirtschaftswunders\u201c durch die Flucht in die USA.
Neoliberale Antikorruption
2015 wurde Saakaschwili samt einem Team ausgew\u00e4hlter georgischer Reformer in die Ukraine eingeladen. Ein anderer \u201epostrevolution\u00e4rer\u201c Pr\u00e4sident, Petro Poroschenko, machte ihn zum Gouverneur der Region Odessa. Der Versuch die \u201eRevolution von oben\u201c zu wiederholen scheiterte diesmal schon im Ansatz. Einen Austausch der kompletten Staatsf\u00fchrung konnte das Provinzoberhaupt nicht bewerkstelligen und jeder Versuch, in Odessa eine \u201ezero tolerace\u201c-Politik umzusetzen, stie\u00df auf den Widerstand der gut vernetzten Freund*innen der lokalen Gr\u00f6\u00dfen aus anderen Regionen. Saakaschwili beschuldigte den Zoll, die Odessaer Staatsanwaltschaft, das Innenministerium und sogar den Geheimdienst SBU in Schmuggel und Schutzgelderpressung verwickelt zu sein. Er beschuldigte ebenso die gr\u00f6\u00dften Unternehmen vor Ort der Monopolbildung und beklagte die schlechten Bedingungen f\u00fcr ausl\u00e4ndische Investor*innen und einheimische Kleinunternehmer*innen. Das brachte allerdings nicht nur die Eigent\u00fcmer*innen, sondern auch die zahlreichen Mitarbeiter*innen der von der Korruption profitierenden Unternehmen gegen den georgischen \u201ePolittouristen\u201c auf. Die Prinzipien der \u201efairen Marktkonkurrenz\u201c schienen nicht f\u00fcr alle an oberster Stelle zu stehen. Als sich Saakaschwili dann auch noch mit dem Innenminister Arsen Awakow, dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj und schlie\u00dflich auch mit dem Pr\u00e4sidenten Poroschenko verscherzte, wurde er im November 2016 nicht nur des Amtes enthoben, sondern erneut genau mit denselben Korruptionsvorw\u00fcrfen konfrontiert, mit denen er seinerseits nie geizte. Er soll laut Anklage sogar insgeheim mit seinem Erzfeind Putin im Bunde gewesen sein.
Zur\u00fcck auf die Barrikaden
Aber der von der Auslieferung nach Georgien bedrohte Saakaschwili wollte nicht aufgeben. Jetzt versuchte er es mit der Bewegung von unten. Er ging zu den protestierenden Arbeiter*innen vor dem Kiewer Parlament und k\u00fcndigte eine neue \u201eAntielitenrevolution\u201c an. Weitere Verz\u00f6gerung der radikalen Marktreformen seien fatal f\u00fcr die Ukraine und schadeten dem Kampf gegen Moskau, so seine Botschaft. An die entt\u00e4uschten Hoffnungen des Maidan-Aufstands appellierend gr\u00fcndete er seine eigene Partei, die \u201eBewegung der neuen Kr\u00e4fte\u201c (RNS). Seine Anh\u00e4nger*innen lieferten sich Schlachten mit der Polizei und sch\u00fctzten den Expr\u00e4sidenten und Exgouverneur bis zuletzt vor Festnahme und Abschiebung. Nachdem im Februar 2018 der nun offiziell staatenlose Saakaschwili dennoch nach Polen abgeschoben wurde, versuchte er weiterhin Einfluss auf die ukrainische Politik zu nehmen. Erst unterst\u00fctzte er die Pr\u00e4sidentschaftskandidatur der Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, die selber immer wieder im Mittelpunkt von Korruptionsskandalen stand. Danach rief er seine Anh\u00e4nger dazu auf, die Partei des neuen Pr\u00e4sidenten Selenskyj zu w\u00e4hlen. Scheinbar hat dieser Move ihm das Comeback in die ukrainische Politik erm\u00f6glicht. Allerdings gilt der politische Neuling Selenskyj als mit dem Oligarchen Kolomojskyj eng affiliiert. Neue Konflikte d\u00fcrften also nicht lange auf sich warten lassen.
Die ersten Schritte
Seit dem 7. Mai dieses Jahres ist Saakaschwili der Vorsitzende des \u201eNationalen Rates f\u00fcr Reformen\u201c, eines Gremiums, das bisher lediglich beratende Funktionen hat. Eine parlamentarische Mehrheit f\u00fcr ihn als Vize-Regierungschef war mit Selenskyjs Partei \u201eSluha narodu\u201c (\u201eDiener des Volkes\u201c), die das Parlament dominiert, nicht zu haben. Saakaschwilis \u201eBewegung der neuen Kr\u00e4fte\u201c (RNS) bekam bei der letzten Parlamentswahl von 2019 lediglich 0,46 Prozent der Stimmen. Aus den Drohungen mit einem neuen Maidan-Aufstand ist nichts geworden und Saakaschwili agiert wieder als \u201eRevolution\u00e4r von oben\u201c, allerdings ohne die Vollmachten, die er in Georgien hatte.
Seine Vorschl\u00e4ge sind f\u00fcr die Kenner*innen des \u201egeorgischen Wirtschaftswunder\u201c nicht neu. Allerlei Beh\u00f6rden seien aktuell nur Apparate zur Gelderpressung, so Saakaschwili. In dem Punkt kann keine Kenner*in der Ukraine ihm gro\u00df widersprechen. Also, so der Reformator, soll das Personal ausgetauscht und die Beh\u00f6rden zu reinen Servicezentren umgewandelt werden. Der Staat soll es als seine oberste Aufgabe sehen, die unternehmerische T\u00e4tigkeit seiner und ausl\u00e4ndischer B\u00fcrger*innen zu erleichtern.
Gleichzeitig ruft Saakaschwili zum \u00dcberdenken des Sicherheitskonzepts auf. Als \u00fcberzeugter Bef\u00fcrworter des NATO-Beitritts pl\u00e4diert er f\u00fcr die Entlassung von Milit\u00e4rs, die der Korruption verd\u00e4chtigt werden, und die Unterstellung der Armee unter diejenigen Kommandeure, die sich bei den K\u00e4mpfen im Osten des Landes seit 2014 bew\u00e4hrt haben. Besonderes Anliegen ist ihm die Reform der Polizei nach georgischem Vorbild. Dabei steht ihm aber Arsen Awakow, der das Amt des Innenministers seit 2014 bekleidet, im Weg. Saakaschwili m\u00f6chte ihn durch seine georgische Mitstreiterin Chatia Dekanoidse ersetzen. Schlie\u00dflich soll den B\u00fcrger*innen das Tragen von Waffen erlaubt sein. Ankn\u00fcpfend an die bereits im Fr\u00fchling von Selenskyj umgesetzte Agrarreform, die das Moratorium f\u00fcr den Verkauf von Grund und Boden aufhob, m\u00f6chte Saakaschwili die Exportz\u00f6lle f\u00fcr D\u00fcngemittel senken, einerseits um den Farmern zu helfen und andererseits um die Oligarchen, die die einheimische D\u00fcngemittelindustrie kontrollieren, zu schw\u00e4chen, so die offizielle Begr\u00fcndung.
Proteste f\u00fcr \u201egood governance\u201c?
Die Emp\u00f6rung \u00fcber die Korruption in der Ukraine, wie auch in vielen anderen osteurop\u00e4ischen Staaten eint verschiedene gesellschaftliche Kr\u00e4fte. Sie basiert aber meist auf der Gegen\u00fcberstellung und Perspektive auf eine \u201erichtig funktionierende Marktwirtschaft\u201c, in der die Konkurrenz mit wirtschaftlichen Mitteln stattfindet und vom Staat als neutraler Gewalt beaufsichtigt wird. Wenn aber in solchen Staaten wie der Ukraine die kapitalistische Reichtumsvermehrung nicht gut funktioniert und ohne Anzapfen der staatlichen Ressourcen (Subventionen, Auftr\u00e4ge, Nutzung des Gewaltapparates gegen die Konkurrenz) keine gro\u00dfe Gesch\u00e4fte abgewickelt werden, ist Korruption eben keine Ausnahme, sondern Regel des wirtschaftlichen Lebens. Die Antikorruptionsproteste halten aber Korruption f\u00fcr die Ursache der Probleme des Kapitalismus in ihren jeweiligen L\u00e4ndern, nicht umgekehrt den peripheren Kapitalismus als Ursache des Verwachsens von Staats- und Gesch\u00e4ftsinteressen. Die Ma\u00dfst\u00e4be f\u00fcr eine \u201erichtig funktionierende Marktwirtschaft\u201c werden aus den erfolgreichen kapitalistischen L\u00e4ndern entlehnt und auf die Ukraine angewendet in der Hoffnung, dass das Land bald auch so funktionieren werde. Das f\u00fchrt dann oft zu gr\u00f6\u00dferen sozialen Auseinandersetzungen. Die Oligarchen mobilisieren nicht nur Medien und Politiker*innen, sondern auch ihre Arbeitnehmer*innen gegen alle Versuche, ihr inniges Verh\u00e4ltnis zum Staat zu st\u00f6ren.
Diejenigen, die bereit sind emp\u00f6rt auf die Stra\u00dfe zu gehen, \u00fcbersetzen ihre soziale und gesellschaftliche Probleme in den Vorwurf, es l\u00e4ge ein Versagen ihrer Regierung vor. Ihre bisherigen staatlichen Machthaber*innen scheiterten an ihren eigentlichen gemeinwohldienlichen Auftrag, so der Tenor. Sei es aus niederen Motiven der privaten Bereicherung, aus mangelnder Integrit\u00e4t oder aus fehlendem Behauptungswillen gegen\u00fcber ausl\u00e4ndischen Interessen, die Politiker seien ihrem Volk den Dienst guten Regierens schuldig. Derzeit wird gegen Korruption im Namen des \u201erichtigen\u201c Kapitalismus gek\u00e4mpft. Der Bruch mit dieser Logik w\u00e4re eine Herausforderung f\u00fcr die geschw\u00e4chten linken Kr\u00e4fte.
Anmerkung:
[1] \u201eDiebe im Gesetz\u201c ist die Sammelbezeichnung f\u00fcr eine Gruppe von Kriminellen, die sich in postsowjetischen L\u00e4ndern gebildet haben. Diese zeichnen sich durch eigene Verhaltenscodices, dem \u201eDiebesgesetz\u201c, aus, um sich gegen andere Kriminelle abzugrenzen. Anm. d. Red.