Um welche Freiheit geht es eigentlich?
\nBerlin, 29. August 2020. Ein junger Mann mit blonden Locken und offenem buntem Hemd steht inmitten einer demonstrierenden Menschenmenge. Sein Blick ist ernst, zur Seite gewandt, fast ikonografisch. Er reckt mit der rechten Hand einen kleinen Blumenstrau\u00df in die Luft. Dahinter ist ein schwarz-rot-wei\u00dfes Meer an Fahnen zu sehen. Neben dem Blumenstrau\u00df-Mann geht ein weiterer Demonstrant vorbei: Er tr\u00e4gt auf seinem Shirt die schwarz-rot-goldene Deutschlandflagge samt Bundesadler. Direkt hinter ihm: Zwei Personen, auf deren Fahne in schwarz-wei\u00df-rot noch \u201eTrump 2020\u201c und \u201eWWG1WGA\u201c (\u201eWhere we go one, we go all\u201c, ein zentraler Slogan der QAnon-Anh\u00e4nger*innenschaft) gekritzelt wurde \u2013 dasselbe Akronym findet sich auch auf ihren T-Shirts. Im Hintergrund ist das Brandenburger Tor zu sehen, viele weitere Menschen mit Fahnen und Schildern, die meisten von ihnen sind M\u00e4nner. Sie sind mittleren Alters, aber auch j\u00fcnger. Eine sitzende Person mit \u201ePuma\u201c-Shirt hat sich bei einem ebenfalls j\u00fcngeren Menschen eingehakt, der wiederum bei einer \u00e4lteren Person mit Warnweste und Wutb\u00fcrger-Hut. Direkt daneben: lange rot gef\u00e4rbte Haare, Sonnenbrille. Sie alle schauen entschlossen. Keiner tr\u00e4gt eine Maske. Mit diesem Bild titelt DIE ZEIT Anfang September fragend: \u201eSind das jetzt alles Nazis?\u201c
An diesem Tag wurden pr\u00e4gnante Bilder geschaffen. Tausende Menschen sind nach Berlin gereist, um ihren Protest gegen die Einschr\u00e4nkungen durch die staatlichen Pandemie-Ma\u00dfnahmen auf die Stra\u00dfe zu bringen und erreichten damit sogar die Stufen des Reichstags. Rechte Parolen und verschw\u00f6rungstheoretische Symboliken dominieren in einer b\u00fcrgerlichen Masse \u2013 und f\u00fcgen sich dort wunderbar ein, weil sie f\u00fcr die Beteiligten insgesamt kein Problem darstellen. Und eine konsternierte Linke steht z\u00e4hneknirschend und verstreut am Rande des Geschehens und hat dem Ganzen kaum etwas entgegenzusetzen. Es war wirklich ein erfolgreicher Tag f\u00fcr die Rechte in Deutschland.
Wo Impfgegner drauf steht\u2026
Trotz gro\u00dfer Diskussion im Nachhinein: Noch immer h\u00f6rt man die Frage, wie das passieren konnte. Als sei das, was sich da als Gemengelage von Zigtausenden zusammentat, pl\u00f6tzlich vom Himmel gefallen: Wie kann das sein, die Heilpraktikerin aus der Eifel neben dem Stiernacken mit Reichskriegsflagge? Schwei\u00dft der Zorn gegen die staatlich verordneten Corona-Ma\u00dfnahmen pl\u00f6tzlich zusammen, was nie zusammen war? Treffen auf den \u201eQuerdenken\u201c-, \u201eHygiene\u201c- undsoweiter-Demos eingefleischte Verschw\u00f6rungsschwurbler*innen auf neuerdings besorgte B\u00fcrger*innen ohne sonstige politische Vorgeschichte? Oder ist der Schulterschluss eigentlich gar nicht so unverst\u00e4ndlich, sondern vielmehr konsequent?
Sicher, es gehen auch Menschen auf die Stra\u00dfe, denen wirklich etwas an der Wahrung der Grundrechte, der Demokratie und der Freiheit liegt, die um diese besorgt sind und die korrupte Politik kritisieren und dagegen protestieren. Linke machen das seit jeher, die Notwendigkeit dazu steht au\u00dfer Frage. Und nat\u00fcrlich sind nicht alle \u201eQuerdenker\u201c fanatische Verschw\u00f6rungstheorist*innen, manche bewegen vor allem berechtigte Sorgen. Warum stehen aber die T\u00fcren gerade sperrangelweit offen f\u00fcr konspirationistische Ideen, die statt Realpolitik und real regierendem Kapitalismus eine Art Marionettenspiel der M\u00e4chtigen als Feindbild ausmachen?
Es wird in der \u00f6ffentlichen Debatte oft davor gewarnt, alle \u00fcber einen Kamm zu scheren: die Chemtrail-Hardliner mit den Verschw\u00f6rungstheorie-light-Menschen, die strammen Nazis mit den impfskeptischen Yoga-Hippies. Das ist sicherlich richtig, vor allem, wenn wir diskursiv noch was rausholen wollen. Aber ebenso wichtig ist es, nicht naiv an die Sache heranzugehen. Dass Letztere wissentlich mit Rechten demonstrieren, macht sie noch nicht unwiderruflich selbst zu Rechten, sondern auf den ersten Blick \u201enur\u201c zu Ignorant*innen. Allerdings: \u00dcberschneidungen zu erkennen (und die gibt es viele zwischen den hier scheinbar nebeneinander auftretenden Gruppierungen), ist viel wichtiger als nach Trennlinien zu suchen. Nur so l\u00e4sst sich das Ph\u00e4nomen verstehen. Das ist die eine wichtige Aufgabe, denn so wird die absurde Mitte-Rechts-Trennung vermieden, die nicht nur naiv, sondern vor allem gef\u00e4hrlich ist.
Die zweite Aufgabe ist es, anzuerkennen, welche Funktion Verschw\u00f6rungsnarrative f\u00fcr die Beteiligung der Menschen an den Demos haben. Verschw\u00f6rungsglauben eint sie als gemeinsame Klammer, und die konspirationistischen Erz\u00e4hlungen m\u00fcssen dabei noch nicht einmal dieselben sein. Sie k\u00f6nnen sich sogar widersprechen, und doch funktionieren sie wie ein Klebstoff: \u201eDu glaubst auch an irgendeine gro\u00dfe antisemitische Verschw\u00f6rung? Ja, prima, dann sind wir auf einer Seite\u201c. Die Struktur ist weit wichtiger als der Inhalt. Und damit entwickelt die zun\u00e4chst h\u00f6chst heterogene Truppe derjenigen, die zum Beispiel bei den Querdenken-Demos gemeinsam laufen, erst ihre gef\u00e4hrliche Schlagkraft. Wenn man sich dagegen die bundesweiten Linken (nicht nur die Partei) anschaut, die sich erst m\u00fchsam, nach vielen Diskussionen um Inhalt und Strategie, f\u00fcr gemeinsame B\u00fcndnisarbeit aufstellen k\u00f6nnen, gewinnt der Umstand der scheinbar m\u00fchelosen Verschmelzung von b\u00fcrgerlichen Verschw\u00f6rungsschwurbler*innen und organisierten Nazis nochmal an Brisanz.
Leicht wird es auch deshalb nicht, Strategien gegen die weltverschw\u00f6rerischen Erkl\u00e4rungen zu entwickeln, weil sie eben nicht nur ein bisschen Aufregung verursachen, sondern oft genug brandgef\u00e4hrlich sind. Doch was hat es mit Verschw\u00f6rungserz\u00e4hlungen, realen Verschw\u00f6rungen und den politischen Implikationen von beidem auf sich, und weshalb ist eine Differenzierung dringend notwendig? Und, nat\u00fcrlich: Wie verhalten wir uns, als Linke, dazu?
\u2026ist oft nur Geschwurbel drin
Zugegeben, es ist auf den ersten Blick nicht ganz leicht, reale Verschw\u00f6rungen von Verschw\u00f6rungsgeschwurbel zu unterscheiden. Reale Verschw\u00f6rungen sind vor allem ein zentraler Bestandteil von Politik im globalen kapitalistischen Machtgef\u00fcge und damit wichtige Triebkr\u00e4fte, vor denen wir die Augen nicht verschlie\u00dfen d\u00fcrfen. Alle Verschw\u00f6rungstheorien gleich als \u201eIdiotie\u201c oder \u201eWahn\u201c (was sowieso f\u00fcrchterlich schwierige und pathologisierende Begriffe sind) abzutun, wom\u00f6glich auch aus Angst, in die gleiche Ecke gedr\u00e4ngt zu werden, ist deshalb nicht zielf\u00fchrend. Michael Butter lieferte 2018 in \u201e\u201aNichts ist, wie es scheint\u2018\u201c eine einfache und dennoch plausible L\u00f6sung. Verschw\u00f6rungstheorien lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: in richtige und falsche. Zumeist setzen Verschw\u00f6rungstheorien entweder die Bedeutung Einzelner oder kleiner Gruppen f\u00fcr den Lauf von Ereignissen viel zu hoch an; oder sie setzen eine viel zu gro\u00dfe Menge an Mitwissenden und Beteiligten voraus, als dass dies tats\u00e4chlich in dem Ausma\u00df an Geheimhaltung m\u00f6glich w\u00e4re, die ja ebenfalls konstituierend f\u00fcr eine Verschw\u00f6rung ist.
Vom antiken Plot gegen den r\u00f6mischen Imperator C\u00e4sar, \u00fcber die t\u00f6dlichen Stay-Behind-Strukturen wie Gladio bis zu den Mitteln, mit denen gro\u00dfe Tabakkonzerne jahrzehntelang das Suchtpotenzial ihrer Produkte gesteigert und dies wissentlich verharmlost haben. Verschw\u00f6rungen sind ein wichtiges Instrument zur Sicherung der politischen und gesellschaftlichen Macht in der Klassengesellschaft, aber auch bei Machtk\u00e4mpfen unterschiedlicher Interessensgruppen untereinander oder im Kampf gegen Systemalternativen. Viele jener Verschw\u00f6rungen, die es wirklich gegeben hat, wurden fr\u00fcher oder sp\u00e4ter aufgedeckt \u2013 durch kritische Journalist*innen, Forscher*innen, Aktivist*innen. Wiederum andere Verschw\u00f6rungstheorien \u2013 wie die, die Mondlandung sei ein Fake gewesen \u2013 konnten nie bewiesen werden. Warum? Weil sie schlicht und ergreifend falsch sind.
Beim Barte des Methusalem
Auch neu sind Verschw\u00f6rungstheorien bei weitem nicht. Schon im Mittelalter wurden Frauen wegen angeblicher Hexenkr\u00e4fte stigmatisiert und verfolgt, Juden und J\u00fcd*innen wurde die Verbreitung der Pestepidemie angelastet und sie wurden schon ebenso lange als \u201eStrippenzieher\u201c und gierige Verschw\u00f6rer diskriminiert. Sp\u00e4testens die gef\u00e4lschten \u201eProtokolle der Weisen von Zion\u201c, die 1901 erschienen, machten eine vermeintlich j\u00fcdisch-bolschewistische Weltverschw\u00f6rungserz\u00e4hlung virulent, was diskursiv die Shoa mit vorbereitete. Womit wir es bei vielen systemischen Verschw\u00f6rungstheorien im Kern zu tun haben, ist der Glaube daran, dass versteckt agierende M\u00e4chte einen geheimen Plan ausf\u00fchren, um das Volk zu entm\u00fcndigen, die Menschen in ihrer Freiheit einzuschr\u00e4nken, sie willenlos und gef\u00fcgig zu machen.
Diese Verschw\u00f6rungsideen gibt es zuhauf mit verschiedensten Narrativen und in unterschiedlichem Absurdit\u00e4tsgrad. Zum Beispiel die so genannten Deep-State-Theorien, die fast messianischen Charakter haben und sehr einflussreich sind. Ein bekanntes Netzwerk dieser Glaubensvariante sind die Anh\u00e4nger*innen von QAnon, dessen Verschw\u00f6rungsnarrative auf zahlreichen Plattformen verbreitet werden. In den USA hat das Netzwerk eine enorme Reichweite und zahlreiche politische Unterst\u00fctzer*innen, vor allem im Umfeld von Donald Trump, der als Heilsbringer gilt. Einer aktuellen Umfrage des us-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Civiqs nach glaubt ein Drittel der befragten republikanischen W\u00e4hler*innenschaft, dass die QAnon-Theorien zumeist wahr sind, weitere 23 Prozent glauben an Teile davon. Besonderen Einfluss hat dabei das Narrativ rund um einen Ring aus Eliten (darunter viele Politiker*innen der Demokratischen Partei), Celebrities und sonstigen bekannten Pers\u00f6nlichkeiten, der nach Vorstellung der QAnon-Anh\u00e4nger*innenschaft Kinder entf\u00fchrt, sexuell ausbeutet und ihnen das Verj\u00fcngungsmittel Adrenochrom auspresst. Lange verlacht und ignoriert, wird nun von Expert*innen \u00f6ffentlich vor dem Gewaltpotenzial dieser Verschw\u00f6rungsideologie gewarnt; das FBI setzte das Netzwerk k\u00fcrzlich auf die Liste der \u201eDomestic Terror Threats\u201c, ihrer (insgesamt fragw\u00fcrdigen, weil politisch motivierten) Zusammenstellung nationaler terroristischer Bedrohungen. Zu ihrer wachsenden deutschsprachigen Anh\u00e4nger*innenschaft geh\u00f6rt unter anderem Xavier Naidoo, der seine ersch\u00fctternden Erkenntnisse tr\u00e4nenreich, aber mit beachtlicher Reichweite \u00fcber s\u00e4mtliche Kan\u00e4le streut.
Was die Verbreitung der Verschw\u00f6rungserz\u00e4hlungen heute angeht, gehen manche Forscher*innen davon aus, dass es sich zwar durch das Internet schneller bewerkstelligen l\u00e4sst, gro\u00dfe Mengen an Menschen zu erreichen; allerdings seien die Narrative weniger ausgearbeitet. Waren fr\u00fchere Verschw\u00f6rungstheorien noch sehr auf (verdrehte) Logik bedacht und in ihrer Argumentation oft in sich schl\u00fcssig, sind sie heute weit fragmentarischer. Twitter und Messengerdienste haben, so machen Forscher*innen deutlich,
\u201ezu einer Verschiebung von Verschw\u00f6rungstheorien zu Verschw\u00f6rungsger\u00fcchten gef\u00fchrt, da Verschw\u00f6rungsspekulationen zunehmend ohne die Art von Beweisen und verworrenen Formulierungen in den Umlauf gebracht werden, die \u00fcber Jahrhunderte \u2013 und in anderen Medien noch immer \u2013 so charakteristisch f\u00fcr sie sind\u201c (COMPACT Education Group 2020).
Oft stehen Narrative einer Verschw\u00f6rungserz\u00e4hlung auch in direktem Widerspruch mit einer anderen. Bei den sogenannten Klimaleugnern beispielsweise stehen die \u00dcberzeugungen nebeneinander, dass man Klimaerw\u00e4rmung mit den Instrumenten, mit denen dies weltweit anerkannt und wissenschaftlich durchgef\u00fchrt wird, gar nicht messen k\u00f6nne; und gleichzeitig, dass sich das Klima \u00fcberhaupt nicht erh\u00f6ht habe. F\u00fcr letztere Behauptung br\u00e4uchte man allerdings rein logisch valide Messungen, aber\u2026nun ja.
Die \u201econspiracy without theory\u201c, also die Verschw\u00f6rungsbehauptung ohne Theorie, wie es Nancy L. Rosenblum und Russell Muirhead in ihrem Buch \u201eA Lot of People Are Saying\u201c ausdr\u00fccken, macht eine politische Instrumentalisierung noch leichter. Es gibt keine Nachfrage nach Beweisen, keine Punkte, die ein Muster bilden, keine genaue Untersuchung von denjenigen, die des Verschw\u00f6rens bezichtigt werden. Vielmehr wird auf die Last einer Erkl\u00e4rung verzichtet, die Verschw\u00f6rungsanh\u00e4nger*innen erzwingen ihre eigene Realit\u00e4t durch Wiederholung (etwa Trumps \u201eviele Leute sagen\u2026!\u201c) und blo\u00dfe Behauptung.
Die M\u00e4r vom rechten Randph\u00e4nomen
Zur\u00fcck zum Schulterschluss. Was so wahrgenommen wird, als w\u00fcrden die Rechten sich unters \u201enormale Volk\u201c mischen, funktioniert in Wirklichkeit anders herum. Was wir in den letzten Jahren erlebt haben, ist ein massiver und vor allem medial wirksamer Aufschwung rechter Bewegungen und des Rechtspopulismus. Damit einher ging und geht eine drastische Verschiebung des Sagbaren. Die Normalisierung rechter Haltungen, die \u201eKritik\u201c an den Eliten, an der Regierung, der L\u00fcgenpresse, all das wird seit mindestens einem Jahrzehnt verst\u00e4rkt von rechts vorbereitet. In der \u00f6ffentlichen Debatte wird dabei immer noch \u2013 und immer wieder \u2013 der Fehler gemacht, entweder rechten Populismus am Rande der Gesellschaft zu verorten oder ernsthaft den inhaltlichen Dialog zu suchen. So wird rechten Ideen eine B\u00fchne geboten, die das \u201eNazipositive Milieu\u201c (Hengameh Yaghoobifarah) konsumieren, sich aber gleichzeitig sch\u00f6n von einer Zugeh\u00f6rigkeit zu rechten Formierungen abgrenzen kann. Verschw\u00f6rungsgeschwurbel ist dem rechten Projekt inh\u00e4rent: Die Regierung wird von Kommunisten gelenkt, die Presse ist gleichgeschaltet, Fl\u00fcchtlinge werden gezielt ins Land gelassen, um die deutsche Nation zu zersetzen, et cetera. Und ganz nah dran, auch schon l\u00e4nger: Esoterik, Spiritualismus, Okkultismus, v\u00f6lkische Siedlerbewegungen, Reichsb\u00fcrger und noch so vieles mehr. Wer also glauben m\u00f6chte, auf der \u201eQuerdenken\u201c-Demo in Berlin hingen Rechte mit B\u00fcrger*innen ab, der sollte sich vielleicht die Ringelreihen und Birkenstock-Reisegruppen nochmal genauer anschauen. Da hingen rechte B\u00fcrger*innen ab. Normalos trafen auf normalisierte Rechte und der ideologische Hintergrund zeigt sich als gar nicht so verschieden.
So weit, so gut in Sachen Gegnerbestimmung. Was machen wir jetzt damit? Ein linker Umgang mit solchen Entwicklungen ist, dass sich intensiv mit Inhalten und Abwehr auseinandergesetzt wird. Das ist gleichzeitig leider auch ein Problem: Wir schauen uns die Verschw\u00f6rungserz\u00e4hlungen immer wieder an, kneifen die Augen zusammen (oder lachen einmal herzlich) und nehmen sie argumentativ auseinander. Und das ist nat\u00fcrlich gut so. Aber es reicht nicht aus, weil daran keine richtige Strategie anschlie\u00dfen kann. Ein weiteres Problem ist, dass wir manchmal gar nicht wissen, wie wir uns zwischen tats\u00e4chlicher autorit\u00e4rer Formierung des Staates und dem Grundrechtegeheul der Schwurbler verhalten sollen, ohne zu argumentativen Gehilfen des einen oder der anderen zu werden. Der erste Schritt zur L\u00f6sung muss sein, sich das Ganze aus einem anderen Blickwinkel anzuschauen und zu verstehen, was da passiert.
Die Verschw\u00f6rung ist die Verschw\u00f6rung ist die Verschw\u00f6rung
Was treibt Menschen dazu, ihren Glauben solcherlei Ideen zu schenken? Es hat, auch was die Tiefe der \u00dcberzeugung angeht, fast einen religi\u00f6sen Charakter. Das Weltliche kann mit dem Erfahrungshorizont und dem aufgekl\u00e4rten Wissen nicht erkl\u00e4rt werden, also muss die L\u00f6sung in etwas Mystischem, Geheimem liegen. Dass diese Erkl\u00e4rung so greifen kann, h\u00e4ngt mit dem messianischen Charakter zusammen, der den Gl\u00e4ubigen gleichzeitig von der Masse der Ungl\u00e4ubigen abhebt: Du hast es erfasst! Und \u2013 und das ist das perfide daran \u2013 es l\u00e4sst das zutiefst neoliberale Mantra \u201eDu alleine bist f\u00fcr deinen Erfolg verantwortlich\u201c unter anderen Vorzeichen einfach weiterreichen: Es sind weder du selbst noch die (kapitalistischen) gesellschaftlichen Umst\u00e4nde, die dein Leben so miserabel, chaotisch, unplanbar scheinen lassen, sondern es gibt Verantwortliche f\u00fcr alles. Gleichzeitig ahmt der Verschw\u00f6rungsglaube auch eine Art aufkl\u00e4rerischen Prozess nach, in dem der Einzelne eine Neubest\u00e4tigung der eigenen Individualit\u00e4t erf\u00e4hrt: Das Gemeinschaftsgef\u00fchl resultiert daraus, dass sich jede*r als Aufkl\u00e4rer*in wahrnimmt \u2013 diesen individuellen Erfolg aber sofort von anderen best\u00e4tigt sehen m\u00f6chte. Nicht zuletzt f\u00fchrt dies zu einer Spirale, die immer noch gr\u00f6\u00dfere Superverschw\u00f6rung hinter der Verschw\u00f6rung aufzudecken.
Verschw\u00f6rungstheorien sind ein wichtiges Instrument daf\u00fcr, was in den Sozialwissenschaften \u201eOthering\u201c, das \u201ezum Anderen machen\u201c, genannt wird. Damit k\u00f6nnen ihre Anh\u00e4nger*innen Schuldige suchen und in einem zweiten Schritt deutlich zwischen einem \u201euns\u201c \u2013 den Leidtragenden der Verschw\u00f6rung \u2013 und einem \u201eihr\u201c \u2013 die Verschw\u00f6rer selbst \u2013 eine Grenze ziehen. Dies f\u00fchrt, \u00e4hnlich wie andere rechte und rassistische Mechanismen, zu einer Erh\u00f6hung der eigenen Position \u2013 \u201eaber ich hab\u2018 es durchschaut, mich kriegen sie nicht!\u201c \u2013 und einem starken Gemeinschaftsgef\u00fchl mit den anderen Verschw\u00f6rungs\u00fcberzeugten.
Was wir derzeit \u2013 vor allem mit der Pandemie \u2013 erleben, ist eine neue Zuspitzung der permanenten Krise des Kapitalismus, deren letzten Ausbruch mit der Wirtschaftskrise 2007ff. wir noch gar nicht verdaut haben. Krisen und Verschw\u00f6rungstheorien laufen Hand in Hand: \u201eKriege, politische, wirtschaftliche oder ideologische Umw\u00e4lzungen, Naturkatastrophen und solche, die von Menschen selbst verursacht wurden, sind der Boden, auf dem sie gedeihen\u201c (Hepfer 2015, S. 17).
Hinzu kommt in gro\u00dfen Teilen der industriell hochentwickelten L\u00e4nder der sukzessive Abbau des Sozialstaats und die Zerst\u00f6rung sozialer Gewissheiten in den letzten Jahrzehnten. Der individualisierende Neoliberalismus mit der alle Lebensbereiche durchziehenden Selbstverantwortlichkeitsmoral und in Mode gekommene chauvinistische Diskurse verst\u00e4rken den Klassenwiderspruch. Auch der Evergreen Rassismus tr\u00e4gt zu einem Bedrohungsszenario bei und befeuert die soziale K\u00e4lte. Viele Menschen befinden sich in einer Wirklichkeit, die sie als bedrohlich empfinden und die es vor allem auch ist. Das Vertrauen in Staat, Regierung, Wohlstandsversprechen br\u00f6ckelt massiv, neue Gewissheiten m\u00fcssen geschaffen werden.
Der Kapitalismus als Klassengesellschaft ist darauf angewiesen, den Antagonismus zwischen Kapitalisten und Lohnabh\u00e4ngigen aufrecht zu erhalten, und die Arbeiter*innenklasse auch durch Strategien der Verschleierung der Ausbeutungsverh\u00e4ltnisse von einer weitreichenden Organisierung abzuhalten. Die kapitalistische Erz\u00e4hlung eines guten Lebens f\u00fcr alle, wenn man sich nur kr\u00e4ftig genug bem\u00fcht, ist damit eine der wenigen \u2013 vielleicht die einzige? \u2013 Superverschw\u00f6rungstheorien, die tats\u00e4chlich existiert.
Statt diese Wirklichkeit begreifen zu wollen \u2013 oder zu k\u00f6nnen \u2013 werden Erkl\u00e4rungen gesucht, die das eigene Schicksal verst\u00e4ndlich machen und vor allem die Verantwortung externalisieren, was im neoliberalen Zeitalter nachvollziehbar ist. Verschw\u00f6rungstheorien bieten eine Entlastungsfunktion: Da sie von au\u00dfen von den dunklen M\u00e4chten gelenkt wurden, konnten die Anh\u00e4nger*innen selbst keinerlei Einfluss auf bisherige Ereignisse und Entwicklungen haben.
Anstatt sich gegen die Zw\u00e4nge des Kapitalismus zu wehren, wird dieser Wirklichkeit eine Wahrheit entgegengesetzt, die es ertr\u00e4glich macht, in ihr zu leben. Eine Wahrheit voll falscher Fakten und kruder Ideen, die das Unverst\u00e4ndnis spiegelt, mit dem die Menschen ihren eigenen Bedingungen und denen anderer begegnen. Eine Wahrheit, die schwer zu widerlegen ist, weil sie sich in Logik und Form einer \u00dcberpr\u00fcfung entzieht. Eine Wahrheit, die den Menschen, die an sie glauben, die eigene \u00dcberlegenheit vorgaukelt.
Gef\u00e4hrlich wird es sp\u00e4testens dann, wenn diese Wahrheit reale politische Macht erh\u00e4lt. Die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen dies: In vielen Staaten, von den USA, Brasilien, der T\u00fcrkei bis Ungarn, ist der rechte Staatsumbau weit fortgeschritten, viele andere Staaten, darunter auch Deutschland, forcieren einen autorit\u00e4ren Umbau. Die globale Rechte sichert sich immer gr\u00f6\u00dfere Machtr\u00e4ume. Das rechte Hegemonieprojekt n\u00e4hrt sich auch aus den Verschw\u00f6rungsnarrativen. Mit Trump gibt es etwa aktuell (noch) einen Pr\u00e4sidenten, der als einer der einflussreichsten Verschw\u00f6rungstweeter gelten kann. Trump und Konsorten haben die konspirationistische Form des politischen \u201eWissens\u201c wieder salonf\u00e4hig gemacht und nutzen hierbei Verschw\u00f6rungsideologien strategisch zur Mobilisierung ihrer Anh\u00e4nger*innenschaft.
Der m\u00e4nnliche Schwurbler
Trotz historisch unterschiedlicher Reichweite waren rechte Diskurse seit je her voller Fake Facts und Verschw\u00f6rungsschwurbeleien. Hier reihen sich aktuelle Verschw\u00f6rungsapologeten \u00e0 la Attila Hildmann, Ken Jebsen und Konsorten wunderbar ein. Die Kritiker, die Aufkl\u00e4rer, die Ungem\u00fctlichen, die Verk\u00fcnder: Sie haben es gerafft und sie werden das Volk befreien. Die Freiheit des einfachen Mannes, das ist ihre Parole. Und so wird unter dem fast schon zum Kampfbegriff avancierten Deckmantel der Demokratie das Erfolgskonzept rechter Normalisierung. Ein Konzept, das sehr erfolgreich darin ist, ein verunsichertes Naziaffines Milieu abzuholen.
Augenf\u00e4llig ist, wer sich da vornehmlich als Befreier, als Messias aufspielt: Der wei\u00dfe Mann. Damit wird auch deutlich, wer oder was gerettet werden soll, n\u00e4mlich die m\u00e4nnlichen Privilegien. Im \u201eLeitfaden Verschw\u00f6rungstheorien\u201c einer internationalen Forschungsgruppe wird zwar von einem generellen Forschungskonsens berichtet, dass sich keine besonderen Merkmale hinsichtlich Klasse, Geschlecht, Herkunft et cetera bei Verschw\u00f6rungsaffinen ausmachen lie\u00dfe. Allerdings:
\u201em\u00e4nnliche Verschw\u00f6rungstheoretiker (sind) oftmals in der \u00d6ffentlichkeit pr\u00e4senter und treten unverhohlener auf. Der Grund hierf\u00fcr ist m\u00f6glicherweise, dass Verschw\u00f6rungstheorien eine Strategie sind, mit der weit verbreiteten Krise der M\u00e4nnlichkeit in der westlichen Welt umzugehen\u201c (COMPACT Education Group 2020).
Was da in der Krise steckt, ist jene toxische M\u00e4nnlichkeit, die den patriarchalen ausbeuterischen Zugriff auf Frauen* legitimieren soll. Der Mann, der Chef im Haus und in der Gesellschaft, diese Gewissheit br\u00f6ckelt massiv. Schuld daran ist: Die Frau, die sich der Macht des Mannes entzieht, sich nicht (mehr) unterordnet, nicht mit ihm Sex haben m\u00f6chte. Die Wut darauf entl\u00e4dt sich auch gewaltvoll: Der Attent\u00e4ter von Halle 2019 machte beispielsweise in den Videoaufnahmen w\u00e4hrend seiner Angriffe \u201eden Feminismus\u201c daf\u00fcr verantwortlich, dass die Geburtenrate sinke und so das Volk der Zersetzung preisgegeben werde.
Antifeminismus und Verschw\u00f6rungsschwurbeleien h\u00e4ngen auch an vielen anderen Stellen sehr eng miteinander zusammen. Es zeigt sich eine fragile M\u00e4nnlichkeit, die versucht, ihre Bedeutsamkeit durch das messianische Rumgeprotze wiederherzustellen. Die Attit\u00fcde des m\u00e4nnlichen Aufkl\u00e4rers, der opferbereit und mutig ist, dient der Selbstinszenierung als Held, so der Sozialpsychologe Rolf Pohl im Interview mit Zeit Online. In diesem Gebaren, gepaart mit einem Erstarken des Antifeminismus, steckt viel Gewaltpotential, was bei der Auseinandersetzung mit Verschw\u00f6rungstheorien nicht au\u00dfer Acht gelassen werden darf.
Und nun?
Stellt euch einmal die Entt\u00e4uschung eines ausgemachten QAnon-Truthers vor, wenn die Welt gerade tats\u00e4chlich einfach von einem (aus biologischer Sicht) recht normalen, aber dennoch in seinen Auswirkungen noch lange nicht erforschten Virus getroffen wurde, statt von einer ausgemacht diabolischen Bev\u00f6lkerungsdezimierungsstrategie von miesen Milliard\u00e4ren \u2013 wo bliebe denn da die ganze Aufregung, das ganze Entertainment?
Verschw\u00f6rungstheorien sind f\u00fcr eine seri\u00f6se Auseinandersetzung irgendwie eine eigenartige Sache; sie ernst zu nehmen, f\u00e4llt nicht leicht. Die bizarren Kapriolen, die Verschw\u00f6rungstheorien mit der Realit\u00e4t drehen, ja, wie sie diese verdrehen, machen gerade ihren Reiz, ihre Lust, ihre Anziehungskraft f\u00fcr viele aus. Der Erfolg der \u201eIlluminati\u201c-Reihe von Dan Brown, \u201eDas Foucaultsche Pendel\u201c oder \u201eDer Friedhof in Prag\u201c von Umberto Eco f\u00fcr die etwas kritischeren Leser*innen; Verschw\u00f6rungen in Detektiv- und Heldengeschichten von Sherlock Holmes bis Matrix \u2013 im Kontext der popkulturellen Verarbeitung boomt das Genre. Es macht deutlich, wie viel Lust es Leuten machen kann, \u00fcber Verschw\u00f6rungstheorien nachzudenken. Der kritische Punkt besteht darin, harmlose und gef\u00e4hrliche Angebote zu unterscheiden und ganz generell: Fiktion nicht mit der Sehnsucht nach Relevanz f\u00fcr das eigene Leben aufzuladen.
Und mal ehrlich: Wer von uns zum Beispiel hat kein Problem damit, was mit unseren Daten auf internationalen Servern eigentlich passiert? Statt eine politische Analyse der Warenf\u00f6rmigkeit unserer Lebensinformationen und Daten und eine Kritik an diesen Verwertungsprozessen zu formulieren, sind es nur wenige Schritte dahin, \u201ehinter dem Internet\u201c eine Instanz der Kontrolle und der absichtsvollen \u201eF\u00fchrung\u201c zu vermuten. Diese dann antisemitisch zu framen oder ihnen eine bolschewistische Agenda zu unterstellen, schlie\u00dft daran an. Hier sind wir wieder bei der dringenden Notwenigkeit, die wirklichen Verschw\u00f6rungen von den falschen Verschw\u00f6rungsschwurbeleien zu unterscheiden. Doch was ben\u00f6tigen wir dar\u00fcber hinaus, damit wir nicht nur in Abwehrk\u00e4mpfen gegen Rechte Formierungen und ihre Verschw\u00f6rungstheorien agieren, sondern der ideologischen Nutzung von Verschw\u00f6rungstheorien als politischer Agenda etwas entgegensetzen?
Wir brauchen auch als Linke einen klaren Standpunkt, der deutlich macht, dass die rechte Verschw\u00f6rungsbewegung insgesamt keine Perspektiven f\u00fcr ein besseres Leben, eine andere Gesellschaft bietet und diese auch nicht bieten kann. Verschw\u00f6rungserz\u00e4hlungen gaukeln vor, dass Ereignisse immer das Ergebnis von absichtsvollem Handeln Einzelner \u2013 und nicht das Produkt von politischen Herrschaftsverh\u00e4ltnissen und strukturellen Effekten des Kapitalismus sind. Sie sind notwendig r\u00fcckschrittlich, h\u00f6chstens in Gewalt gegen Einzelne oder eben rassistisch gegen \u201eAndere\u201c gerichtet. Sie sind Katalysatoren f\u00fcr Gewalt und Polarisierung. Personen, die tief in diese Erz\u00e4hlungen verstrickt sind, wollen den Status Quo der Gesellschaft als solches nicht \u00e4ndern, h\u00f6chstens ihren eigenen Einfluss darin.
Und auf der anderen Seite: Was ist mit den Leuten, die nah dran sind, die Schwurbelaffinen, bei denen aber noch nicht alle Hoffnung verloren ist? Kann man den Menschen die Erfahrungen von Kontrollverlust anders verst\u00e4ndlich machen? Politische \u00dcberlegungen dazu m\u00fcssen \u00fcber eine psychologische oder pathologisierende Untersuchung des Verschw\u00f6rungsdenkens hinausweisen. Auch die Analyse der Funktion von Verschw\u00f6rungstheorien f\u00fcr den*die Einzelne*n reicht nicht aus. Damit w\u00fcrden solidarische und gemeinsame K\u00e4mpfe ausgehebelt werden. Verschw\u00f6rungstheorien sind und waren politische Instrumente gegen emanzipatorische Perspektiven, auch wenn sie nach Ver\u00e4nderung schreien. Hier m\u00fcssen wir ansetzen f\u00fcr eine fundamentale Kritik an den Verh\u00e4ltnissen. Die wirkliche Ver\u00e4nderung voranzutreiben und nicht falschen G\u00f6ttern hinterherzulaufen, das ist unsere, das ist die linke Aufgabe.
Dieser Essay ist ein Cross-Post. Er ist ebenfalls in der aktuellen Ausgabe von kritisch-lesen.de \u201eRichtig schwurbeln! Verschw\u00f6rungserz\u00e4hlungen und rechte Kontinuit\u00e4ten\u201c vom 13. Oktober 2020 zu finden.
Weiterf\u00fchrende Literatur:
COMPACT Education Group 2020: Leitfaden Verschw\u00f6rungstheorien, Compact Forschungsgruppe (Comparative Analysis of Conspiracy Theories), online hier.
Karl Hepfer 2015: Verschw\u00f6rungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Bielefeld, Transcript.
Nancy L. Rosenblum und Russell Muirhead 2019: A Lot of People Are Saying: The New Conspiracism and the Assault on Democracy. Princeton University Press.
Zeit Online 2020: Vom Loser zum Messias. Video online hier.