Innerhalb weniger Wochen hat sich die allgemein als \u201eCorona-Krise\u201c bezeichnete kapitalistische Gesundheitskrise weltweit rasant versch\u00e4rft. Mit Ablauf des 10. April 2020 sprechen wir von weltweit fast 1,7 Millionen registrierten Infizierten und von \u00fcber 100.000 Toten. Die Dunkelziffer der Infizierten d\u00fcrfte allerdings deutlich h\u00f6her liegen. Dieser Umstand l\u00e4sst die Letalit\u00e4tsrate des Virus zwar vermutlich niedriger ausfallen: Es sterben also prozentual gesehen weniger infizierte Menschen an SARS-CoV-2, als es uns im Verh\u00e4ltnis zu den offiziellen Zahlen erscheint. Gleichzeitig bedeutet die Dunkelziffer aber, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus immens ist. Sie \u00e4hnelt mit hoher Wahrscheinlichkeit der der Spanische Grippe von vor \u00fcber 100 Jahren, an der weltweit zehn Millionen Menschen starben. Au\u00dferdem ist die Dunkelziffer der Todesf\u00e4lle noch gar nicht gekl\u00e4rt; sie scheint ebenfalls recht hoch zu sein. In den besonders betroffenen Regionen \u2013 ob das nun Spanien, Italien, Frankreich, die Schweiz oder New York ist \u2013 schnellt die \u201eExzessmortalit\u00e4t\u201c, also das Mehr an Todesf\u00e4llen \u00fcber einen Durchschnitt im Vergleichszeitraum der letzten Jahre hinaus, massiv in die H\u00f6he. Aus all diesen Gr\u00fcnden ist SARS-CoV-2 mit keiner noch so schweren saisonalen Grippe zu vergleichen. Wir befinden uns am Beginn einer weltweiten Pandemie.
Die aktuelle Lage wird von der bundesdeutschen Regierung sowie den Landesregierungen genutzt, um sich in unterschiedlichem Ma\u00dfe am Repertoire des Ausnahmezustands zu bedienen. Neben einer generellen gesellschaftlichen L\u00e4hmung scheinen auch weite Teile der Linken in eine Schockstarre gefallen zu sein: Obgleich sich viele von ihnen der historischen Z\u00e4sur und der m\u00f6glichen Schlagkraft dieser Krise bewusst werden, k\u00e4mpfen sie mit Kommunikationsproblemen, der Atomisierung ganzer Zusammenh\u00e4nge und der Suche nach passenden praktischen und in der Jetztzeit umsetzbaren linken Antworten auf die Versch\u00e4rfung gesellschaftlicher und politischer Auswirkungen durch SARS-CoV-2. Es herrscht eine weitverbreitete Ratlosigkeit, wie politische Organisation und Praxis \u2013 auch au\u00dferhalb der virtuellen Netzwerke, im \u00f6ffentlichen Raum \u2013 gew\u00e4hrleistet werden kann; etwa dar\u00fcber, wie eine Praxis des Umgangs mit den staatlichen Ma\u00dfnahmen aussehen k\u00f6nnte, die auch \u00fcber ganz kleinteilige Solidarit\u00e4tsarbeit im Nahbereich hinausgeht. Welchen Weg haben wir also vor uns? Welche politischen Analysen von links m\u00fcssen wir angesichts dieses Szenarios anstellen, um uns aus der politischen Passivit\u00e4t zu l\u00f6sen?
Durch den H\u00f6llenschlund: Das globale Gesundheitssystem
Die Infiziertenzahlen wachsen fast \u00fcberall exponentiell, wie jede_r mittlerweile wissen d\u00fcrfte. Es besteht die Gefahr, dass kaputt gesparte Gesundheitssysteme weltweit einbrechen \u2013 in Italien, Spanien, Gro\u00dfbritannien, den USA und Frankreich ist dies teilweise schon der Fall. Am schwersten scheint es vor allem jene Gesundheitssysteme des globalen Nordens zu treffen, die durch exzessive neoliberale Sparma\u00dfnahmen und weitgehende Privatisierungen kaum noch technische, personelle und finanzielle Kapazit\u00e4ten haben, um die hohen Fallzahlen aufzufangen. Die L\u00e4nder des globalen S\u00fcdens, denen in der Mehrheit diese materiellen Mittel f\u00fcr ein umfassendes Gesundheitssystem erst gar nicht zur Verf\u00fcgung standen, stehen vor einer humanit\u00e4ren Katastrophe, deren Ausma\u00df noch nicht abzusehen ist. Schon jetzt sind sie von der Weltwirtschaftskrise am h\u00e4rtesten betroffen. Die Fotos von leidlich abgedeckten Toten in den Stra\u00dfen ecuadorianischer St\u00e4dte, die k\u00fcrzlich um die Welt gingen, lassen aber bereits erahnen, wie verheerend das Virus im Trikont (in Afrika, Lateinamerika und Teilen des asiatischen Kontinents) w\u00fcten wird.
In den durch das Virus ersch\u00fctterten Krisen\u00f6konomien des globalen Nordens wird derweil das Krankenhauspersonal mit vollkommen ungen\u00fcgenden Vorkehrungsma\u00dfnahmen in die Bresche geschickt. \u00dcberstunden bis zur v\u00f6lligen Ersch\u00f6pfung \u2013 oder eben der eigenen Covid-19 Infektion \u2013 werden Normalzustand. Die Anforderungen an das Krankenhauspersonal, die Fehler und Missst\u00e4nde eines kaputtgesparten, marktorientierten Gesundheitssystems zu kaschieren oder nun daf\u00fcr mit 12-Stunden-Tagen einzustehen, sind enorm. In den von der EU-Troika kaputt privatisierten L\u00e4ndern werden bereits jetzt nur noch diejenigen zur Behandlung ausgew\u00e4hlt, die gr\u00f6\u00dfere \u00dcberlebenschancen haben. Andere Menschen werden angesichts der \u00dcberlastung der Gesundheitssysteme in den Tod geschickt. Die Anzahl an Beatmungsger\u00e4ten, die den Unterschied zwischen Tod und \u201enur\u201c schwerem Krankheitsverlauf bei Covid-19 ausmachen k\u00f6nnen, ist \u00fcberall sehr beschr\u00e4nkt. Mittlerweile ist klar, dass nicht nur \u201esehr alte Menschen\u201c von den Folgen der Erkrankung betroffen sind: In den USA sind 40 Prozent der ins Krankenhaus eingelieferten Personen zwischen 20-54 Jahre alt, sie beanspruchen 14 Prozent aller Intensivbetten. Es trifft vor allem die Menschen jeden Alters, die \u00fcbliche \u201eVolkskrankheiten\u201c wie beispielsweise Diabetes, COPD oder Bluthochdruck aufweisen, oder Menschen mit geschw\u00e4chtem Immunsystem. Mit diesen Krankheiten lassen sich normalerweise Jahre, wenn nicht Jahrzehnte leben; diese Menschen stehen nicht alle, wie der neue sozialdarwinistische Zynismus meint, sowieso \u201ekurz vor dem Tod\u201c. Zudem lassen sich Langzeitsch\u00e4den, Mutation des Virus und Effektivit\u00e4t von Immunreaktionen noch gar nicht genau absch\u00e4tzen.
Gerade deshalb \u2013 und entgegen aller Verschw\u00f6rungstheorien, die von einer Inszenierung oder einem Kalk\u00fcl der \u201eHerrschenden\u201c sprechen \u2013 mag es auf den ersten Blick vielleicht verwundern, warum insbesondere die Staaten des Westens so langsam und beh\u00e4big auf das Virus reagierten. Erste F\u00e4lle wurden in Europa schlie\u00dflich schon Mitte Januar gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt hatten die chinesischen Beh\u00f6rden auch schon l\u00e4ngst \u00fcber die Gefahren des Virus informiert. Statt zu handeln, t\u00f6nte es \u00fcber alle Kan\u00e4le, man sei gut vorbereitet. Das Virus sei letztlich wie eine Grippe; man solle in den Auswirkungen nicht \u00fcbertreiben. Als sich Covid-19 dann ab Anfang M\u00e4rz \u2013 bedingt durch den Skitourismus, Festivals, Karneval, Fu\u00dfball und \u00e4hnliche Gro\u00dfereignisse \u2013 rasend schnell in Europa verbreitete und die Situation in Norditalien schon unglaublich heftig war, da zauderten viele europ\u00e4ische Regierungen noch immer. Wie ist das zu erkl\u00e4ren?
\u201eAkkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!\u201c (Marx)
Es hat einen ganz handfesten Grund, warum diese Staaten so sp\u00e4t \u2013 und dann auch noch recht inkonsequent \u2013 reagiert haben. Er nennt sich kapitalistische Akkumulation. [1] Schnell war klar, auch aus historischen Erfahrungen, dass die weitestgehend m\u00f6gliche Verringerung k\u00f6rperlicher Kontakte zwischen Menschen \u2013 als Social oder Physical Distancing bekannt \u2013 das effektivste Mittel ist, die Beschleunigung der Pandemie aufzuhalten. Ziel ist, Zeit zu gewinnen, um weiterf\u00fchrende Ma\u00dfnahmen (bis hin zu einer k\u00fcnftigen Impfung) zu ergreifen. Die Kontaktvermeidung kann allerdings nur durch Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf umgesetzt werden. Das geschah dann auch, in Deutschland ab Anfang M\u00e4rz. Mit gravierenden \u00f6konomischen Folgen: Unterschiedliche Prognosen f\u00fcr die Bundesrepublik gehen mittlerweile von einem Wirtschaftseinbruch zwischen drei und 20 Prozent und von einer Steigerung des Staatsdefizits von mindestens 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Der Internationale W\u00e4hrungsfonds (IMF) geht mittlerweile von der schwersten Weltwirtschaftskrise seit 1929 aus. Es ist offensichtlich, dass sich Kapitalist*innen und ihre Staaten um ein solches Szenario dr\u00fcckten.
Gleichzeitig: In einem 17-seitigen, geleakten \u201eExpert*innen-Papier\u201c des Bundesinnenministeriums wird ein Szenario entworfen, in dem eine unkontrollierte Explosion der Pandemie bis zu zwei Millionen Tote und einen Zustand der \u201eAnarchie\u201c hervorbringen k\u00f6nne. Das liegt selbstverst\u00e4ndlich auch nicht im Sinne kapitalistischer Akkumulation, noch der dominanten politischen und wirtschaftlichen Machtakteur*innen im Staatsapparat. \u00c4hnliche machttaktische \u00dcberlegungen d\u00fcrften die wohl gro\u00dfm\u00e4uligsten und wirkm\u00e4chtigsten \u201eCorona-Truther\u201c des Planeten, die rechten Pr\u00e4sidenten Donald Trump (USA), Jair Bolsonaro (Brasilien) und Boris Johnson (Gro\u00dfbritannien), dazu gebracht haben, von der Strategie der \u201eHerdenimmunit\u00e4t\u201c abzuweichen. Diese Strategie ist ein grob fahrl\u00e4ssiges Szenario, in dem unabsch\u00e4tzbar viele Tote und Gesch\u00e4digte in Kauf genommen w\u00fcrden. Aber nur wenige Wochen nach dem Eingest\u00e4ndnis ihrer Notwendigkeit pochen in Europa, wie auch in den USA, unterschiedliche Teile der (neoliberalen) Bourgeoisie nerv\u00f6s darauf, die Ma\u00dfnahmen endlich zu beenden.
Erst die Ware, dann das Menschenleben
Im Ringen um das Zur\u00fcckfahren der Ma\u00dfnahmen wird klassischerweise auf die Folgen f\u00fcr \u201edie Wirtschaft\u201c verwiesen. Der texanische Vize-Gouverneur Dan Patrick (Republikaner) war nur der konsequenteste unter diesen Stimmen, als er US-amerikanische Senior*innen in einem Interview aufforderte, f\u00fcr ihre Enkel (beziehungsweise \u201edie Wirtschaft\u201c) zu sterben. Wissenschaftler*innen rechnen schon methodisch penibel genau aus, wann es sich wirtschaftlich nicht mehr lohnt, ein Leben zu retten. In Deutschland sind es neoliberale Kr\u00e4fte, allen voran die FDP unter ihrem zuletzt krisengebeutelten Bundesvorsitzenden Christian Lindner, die nun politische Morgenluft wittern. Die FDP fordert, der Warenverkehr d\u00fcrfe nicht zu Lasten gesundheitspolitischer Ma\u00dfnahmen behindert werden. Praktisch hei\u00dft das: Die Produktion und die Wertsch\u00f6pfung muss unter allen Umst\u00e4nden aufrecht erhalten werden. Profit vor dem Menschenleben der lohnabh\u00e4ngigen Klassen.
Dass jedoch Warenverkehr nicht ohne jene ausgebeuteten Klassen, die die Werte erst schaffen, funktioniert, leuchtet den Neoliberalen ein. Dies ist vor allem in der Agrarindustrie zu sp\u00fcren. Die Beschr\u00e4nkung des Personenverkehrs auf europ\u00e4ischer Ebene trifft beispielsweise die Landwirtschaft schwer \u2013 und dort vor allem die niedrigentlohnten Saisonarbeiter*innen, von denen ein Gro\u00dfteil Frauen* sind. F\u00fcr sie gibt es keine Rettungspakete. Nun werden Ausnahmen f\u00fcr bulgarische und rum\u00e4nische Arbeiter*innen geschaffen: Sie sollen die auf den Feldern der Republik zur Arbeit gehen k\u00f6nnen, um den heiligen Spargel \u201ezu retten\u201c. Die eilig herbeigerufenen Arbeiter*innen, die auch in Spanien und Italien h\u00e4ufig illegalisiert und ohne jeglichen arbeitsrechtlichen Mindestschutz arbeiten, stellen in der europ\u00e4ischen Landwirtschaft als billige und meist entrechtete Arbeitskr\u00e4fte das R\u00fcckgrat der hiesigen Lebensmittelversorgung dar. Eine Zuspitzung wurde mit dem Aufruf der Landwirtschaftsministerin zur Arbeit von in Deutschland befindlichen Gefl\u00fcchteten und Erwerbslosen in der Ernte ins Spiel gebracht. Die Spirale der sowieso schon prek\u00e4ren Saisonarbeiten dreht sich weiter nach unten: noch billiger, noch entrechteter, noch schneller verf\u00fcgbar.
In allen kapitalistischen Staaten, insbesondere aber in jenen des Westens, k\u00f6nnen wir gerade sehen, wie die Regierungen angesichts der Corona-Krise je nach Risikoeinsch\u00e4tzung und -wagnis versuchen, sich irgendwo zwischen kurzfristigen und mittel- bis langfristigen Interessen der kapitalistischen Akkumulation zu positionieren. Dabei wird im Vorgehen auf den durchschnittlich minimalsten Schaden kalkuliert. Staaten, die sich im Hinblick auf m\u00f6gliche Folgesch\u00e4den f\u00fcr ihre jeweiligen kapitalistischen Wirtschaften nicht zu viel leisten k\u00f6nnen oder wollen, tun hingegen dezidiert wenig. Im Westen w\u00e4re das Paradebeispiel hierf\u00fcr im vergangenen Monat Schweden. Aber auch erzautorit\u00e4re und protofaschistische Regime k\u00f6nnen sich Autoritarismus und Faschisierung nicht einfach nur um der eigenen Machtgeilheit willen leisten, wie uns manche popul\u00e4re kritische Theorien zum \u201eAusnahmezustand\u201c glauben lassen wollen. Die T\u00fcrkei hat bis zu diesem Wochenende und seiner erratischen 48-Stunden-Verordnung von wenigen Ausnahmen abgesehen keinen Ausnahmezustand verh\u00e4ngt. Es hei\u00dft, Erdo\u011fan h\u00f6chstpers\u00f6nlich sei dagegen gewesen \u2013 trotz Dr\u00e4ngen des Gesundheitsministers und des Wissenschaftsrates. Und das nicht ohne Grund: Die kapitalistische Wirtschaft in der T\u00fcrkei w\u00fcrde sonst vermutlich recht schnell kollabieren.
Zwischen autorit\u00e4rer Versch\u00e4rfung und neoliberaler Restauration
W\u00e4hrend sich die unterschiedlichen Machtbl\u00f6cke also gem\u00e4\u00df ihrer kapitalistischen Logiken positionieren und handeln, hinken wir als Linke wieder einmal hinterher. Es sind Krisenzeiten, in denen die gr\u00f6\u00dften Chance bestehen, Hegemonien zu brechen und neue zu schaffen \u2013 oder eben auch alte zu restaurieren. Vor unserer aller Augen manifestieren sich gerade zwei der letztgenannten Tendenzen: n\u00e4mlich die der autorit\u00e4ren Versch\u00e4rfung und die der neoliberalen Restauration, also Konsolidierung der neoliberalen Ordnung.
Nach anf\u00e4nglichem Z\u00f6gern konnte sich die deutsche Bundesregierung dazu durchringen, umfassendere Ma\u00dfnahmen, wie zum Beispiel die Schlie\u00dfung des Gro\u00dfteils der Gesch\u00e4fte und Kontaktverbote zu verabschieden. Es wurden aber auch Ma\u00dfnahmen sozialer Art getroffen, von denen es unter streng neoliberaler \u00c4gide seit Jahrzehnten hie\u00df, sie seien aus \u00f6konomischer Erw\u00e4gung heraus nicht machbar: So gibt es derzeit ein vergleichsweise repressionsfreies und quantitativ stark erweitertes ALG-Regime der Arbeitsagenturen und Jobcenter, das Kurzarbeitergeld wird vergleichsweise komplikationslos gezahlt, an mehrere Millionen Selbst\u00e4ndige und Freiberufler*innen werden Hilfsgelder zur \u00dcberbr\u00fcckung herausgegeben, hohe Summen in die Krankenh\u00e4user und den Ausbau von Intensivreserven gesteckt und es findet sogar eine beschr\u00e4nkte Produktionskonversion statt: Der Fahrzeughersteller VW produziert Schutzmasken-Teile, der J\u00e4germeister-Konzern Alkohol f\u00fcr Desinfektionsmittel.
Klar: Die weitaus gr\u00f6\u00dften Summen der im Maximalfall fast 30 Prozent des BIP ausmachenden Gelder und Kreditgarantien gehen indes an die gro\u00dfen Unternehmen, die ganz ohne Schamesr\u00f6te weiterhin Milliarden an Dividenden an irgendwelche Kouponschneider auszahlen. Die verabschiedeten Sozialpakete betreffen eine Minderheit der Werkt\u00e4tigen. Und nicht zuletzt ist auch die de facto Ausgangssperre nur f\u00fcr diejenigen, die eine gute Unterkunft und einigerma\u00dfen finanzielle und soziale Stabilit\u00e4t besitzen, eine \u201eGeduldssache\u201c. Alle derzeit get\u00e4tigten Notma\u00dfnahmen und alles Gelaber von \u201eSolidarit\u00e4t\u201c seitens der Politik ist Augenwischerei angesichts des neoliberalen, profitorientierten Umbaus des Gesundheitssystems der letzten Jahrzehnte. Dennoch: Das Bedienen von Kapitalinteressen einerseits und das gleichzeitige \u2013 wenn auch vorl\u00e4ufige, beschr\u00e4nkte und viel zu rudiment\u00e4re \u2013 Abfedern sozialer Deklassierung andererseits zeigt, dass sich die Bundesregierung in ihrer Rolle als \u201eideellem Gesamtkapitalisten\u201c derzeit aktiv bem\u00fcht, den Spagat zwischen Gesundheits- und Sozialpolitik einerseits sowie Kapitalinteressen andererseits zu meistern.
Die Interpretation von Ereignissen wird aber haupts\u00e4chlich von denen bestimmt, die heute handeln und in ihren Handlungen so viele Interessen und Bed\u00fcrfnisse wie eben m\u00f6glich in ein politisches Regime zu integrieren verm\u00f6gen. Das nennt sich politische Hegemonie. In Deutschland setzt gerade ein neoliberales Regime der Pandemiebek\u00e4mpfung sachdienliche Ma\u00dfnahmen und Vorgehensweisen um, gekoppelt mit einem sozialen Anstrich. Zugleich aber sind die Ma\u00dfnahmen aus epidemiologischer Sicht nicht konsequent genug: Eigentlich h\u00e4tte die gesamte nicht-lebensnotwendige Produktion heruntergefahren werden m\u00fcsen f\u00fcr einige Wochen. Aber das w\u00e4re dann wiederum zu sehr in die Profite der Unternehmen hineingefahren. Die pro-kapitalistische Schlagseite des zaghaften Vorgehens und auch der verabschiedeten Krisenpakete ist eindeutig. Und auch die ordnungstreue, immer mehr polizeistaatliche Schlagseite der politischen Praxis tritt immer mehr ans Tageslicht.
Die zwei Gesichter des Regierungshandelns
Die beiden Elemente \u2013 Schutz kapitalistischer Profite mit autorit\u00e4ren Ma\u00dfnahmen und semi-vern\u00fcnftige Pandemiebek\u00e4mpfung mit sozialem Anstrich \u2013 lassen sich zwar in der Analyse voneinander separieren, sie treten in der Praxis aber geeint auf. Diese Elemente werde zudem von ihren Akteur*innen diskursiv als notwendig miteinander verkn\u00fcpft dargestellt. Das kann vor allem deshalb \u00fcberzeugen, weil es die Bundesregierung ist, die tats\u00e4chlich handelt, und ihr Ma\u00dfnahmenb\u00fcndel eben auch viele \u201evern\u00fcnftige\u201c Elemente enth\u00e4lt.
Die Zustimmungswerte zu den Ma\u00dfnahmen der Bundesregierung sprechen eine klare Sprache. Das Vorgehen der Bundesregierung ist somit auch ein Versuch, eine veritable Restauration des zumindest in der Bev\u00f6lkerung eigentlich diskreditierten Neoliberalismus einzuleiten. Wenn das weiter so unwidersprochen durchexerziert werden kann, wird sich eines Tages nach dem Ende der Krise ein Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hinstellen und sagen k\u00f6nnen: \u201eSeht ihr, daf\u00fcr haben wir den Arbeitsmarkt dereguliert und die staatlichen Sozialausgaben zur\u00fcckgefahren, damit wir eine schwarze Null haben f\u00fcr Krisenzeiten. Deshalb machen wir das jetzt gleich wieder!\u201c Das wird genau dann fatal, wenn es um die sich schon in voller Eskalation befindende Weltwirtschaftskrise geht.
Verst\u00e4ndlich, aber politisch fatal ist indes, sich als Linke derzeit einzig oder haupts\u00e4chlich auf eine Kritik der polizeistaatlichen und sonstigen willk\u00fcrlichen Extreme der Krisenbew\u00e4ltigung zu fokussieren. Es ist glasklar: Alles, was an dieser Sicherheitsordnung und ihrer Polizei schon immer Schei\u00dfe war, hat sich derzeit unter dem Ausbau ihrer Befugnisse und des Kontrollauftrags nur noch versch\u00e4rft. People of Color und Schwarze Menschen werden noch \u00f6fter in rassistischen Polizeikontrollen drangsaliert; Obdachlose noch schlechter behandelt und geg\u00e4ngelt; demonstrieren und streiken darf man derzeit ohnehin nicht, ohne mit Strafanzeige oder Polizeigewalt rechnen zu m\u00fcssen. Was in dieser Hinsicht gerade unter dem Deckmantel \u201evern\u00fcnftiger Ma\u00dfnahmen\u201c passiert, wird potentiell einer autorit\u00e4ren Hegemonie den Boden bereiten, sollte die derzeitige neoliberale Krisenbew\u00e4ltigungsstrategie an die Wand fahren. Zu diesem Szenario k\u00f6nnte es etwa dann kommen, wenn die Wirtschaft und/oder die Europ\u00e4ische Union (EU) kollabieren und/oder die Zahl der Toten und Besch\u00e4digten drastisch in die H\u00f6he schie\u00dft. Wo sich hier dann keine stark artikulierende und organisierende Linke als Alternative pr\u00e4sentiert, droht der protofaschistische Takeover. Das Beispiel Ungarn zeigt uns, wohin das f\u00fchren kann: In eine neoliberale de facto Diktatur mit weitgehenden staatlich-repressiven Ma\u00dfnahmen. Es braucht aber nicht gleich ein deutscher Orban kommen: Die derzeitige Ausweitung der polizeilichen Befugnisse und ihrer Willk\u00fcr k\u00f6nnen einfach nicht mehr \u201ezur\u00fcckgedreht\u201c werden. Auch das ist schon schlimm genug.
Dennoch: Alle Kritik an und Opposition zur Versch\u00e4rfung des Autoritarismus, zu polizeistaatlichen Ma\u00dfnahmen und zu Einschr\u00e4nkungen von Grundrechten werden ineffektiv bleiben, wenn sie nicht mit einer mindestens ebenso effektiven Pandemiebek\u00e4mpfungsstrategie wie der derzeitigen verkn\u00fcpft werden. Theoretisch wie praktisch. Allerdings muss diese dann eine klare Perspektive links der Bundesregierung er\u00f6ffnen, und damit den Kapitalismus neoliberaler Pr\u00e4gung als zentralen Katalysator der Krise ins Visier nehmen. Unserer Meinung nach besteht unsere Aufgabe derzeit darin, genau f\u00fcr eine solche Perspektive zu streiten. Notwendigerweise schlie\u00dft dies mit ein, diese Perspektive und daraus resultierende Ma\u00dfnahmen jetzt, und wenn nicht anders m\u00f6glich, ganz kleinteilig umzusetzen. Hierzu gibt es in vielen linken Strukturen schon gute Ans\u00e4tze, die wir im re:volt magazine in den kommenden Wochen n\u00e4her beleuchten wollen. Wer nur dar\u00fcber diskutiert, wie wir mit der Situation nach der Corona-Krise umgehen sollten, oder wie wir die dann eventuell einsetzende Wirtschaftskrise von links auffangen, der sorgt daf\u00fcr, dass wir nach der Corona-Krise gerade nicht mehr, sondern weniger Handlungsmacht besitzen. Denn nur inmitten der Bew\u00e4ltigung der Corona-Krise wird entschieden werden, wessen Interessen und welche Hegemonie sich f\u00fcr die Nach-Corona-Zeit durchsetzen.
Linke Perspektiven erstreiten
Wenn es eine gute Sache an dieser Krise gibt, dann die, dass sie nicht nur aufzeigt, wie der Kapitalismus zur Entstehung gesundheitlicher Krisen wesentlich beitr\u00e4gt. Sie zeigt auch, in aller Deutlichkeit, dass das neoliberale Mantra der Profitmaximierung und des \u201eMarktes\u201c im Angesicht von Pandemien nicht funktioniert. Die ganzen staatlichen Programme \u2013 inklusive die \u00fcber Nacht unter staatliche Leitung gefallenen privaten Krankenh\u00e4user in Spanien und die Diskussion \u00e4hnlicher Ma\u00dfnahmen in anderen L\u00e4ndern \u2013 zeigen uns (da aus g\u00e4nzlich anderen Motiven umgesetzt) im Negativbild auf, dass linke Vorstellungen einer nicht-kapitalistischen, bed\u00fcrfnisorientierten Umorientierung durchaus machbar sind. Aber nur, wenn diese eben auch durch eine Linke in der Krise selbst thematisiert, organisiert und erk\u00e4mpft werden. Die Streiks der Arbeiter*innen in Italien und den USA zeigen, dass ein teilweiser Lockdown der nicht-lebensnotwendigen Produktion durchaus auch schon heute erstritten werden kann, ohne zu Lasten der Arbeiter*innen zu gehen.
In Sinne einer linken, demokratischen Perspektive m\u00fcssen wir nat\u00fcrlich auch die polizeistaatlichen Ma\u00dfnahmen kritisieren und im Einzelfall genau \u00fcberpr\u00fcfen, was der Pandemiebek\u00e4mpfung dient, und was nur dem Ausbau des repressiven Staatsapparats. Reservist*innen der Bundeswehr, die zivile Aufgaben \u00fcbernehmen und helfen, k\u00f6nnten unter Umst\u00e4nden vern\u00fcnftig sein; bewaffnete Soldat*innen, die polizeiliche Funktionen \u00fcbernehmen, ganz klar nicht. Keine Gro\u00dfveranstaltungen unter beengten Verh\u00e4ltnissen mehr abzuhalten ist vern\u00fcnftig, jeden Protest und jede politische Ansammlung, die sie sich an gesundheitliche Auflagen h\u00e4lt, zu verbieten oder seitens der Gewerkschaften gleich proaktiv absagen, ist zu kritisieren und unter heutigen Umst\u00e4nden abzulehnen.
Weitere Ankn\u00fcpfungspunkte f\u00fcr eine linke Offensive k\u00f6nnen Forderungen sein, die schon in gr\u00f6\u00dferen Teilen der Bev\u00f6lkerung Anklang gefunden haben: Wir m\u00fcssen jetzt daf\u00fcr streiten, dass die sozialen Ma\u00dfnahmen (Lohnfortzahlungen, Hilfsleistung f\u00fcr prek\u00e4re Selbst\u00e4ndige, Arbeitslosenhilfen und so weiter) f\u00fcr den Gro\u00dfteil der Werkt\u00e4tigen verst\u00e4rkt werden. Eine zentrale Stellung in unseren Forderungen sollten die Schutzma\u00dfnahmen f\u00fcr die weiterarbeitenden Lohnabh\u00e4ngigen in Verkauf, Gesundheit, Erziehung, Reinigung und sonstigen Sektoren einnehmen. Eine schrittweise Reduzierung und Aufhebung der Pandemie-Ma\u00dfnahmen hat sich am Gemeinwohl zu orientieren, nicht nach den Profitinteressen der Kapitalist*innen. Die Abkehr vom neoliberalen Paradigma gilt es auch in Debatten und Diskussionen zu forcieren und auf Vergesellschaftungen und Rekommunalisierungen zu dr\u00e4ngen. Die Finanzierungsfrage der Ma\u00dfnahmen beantworten wir mit der Forderung von Verm\u00f6gensabgaben f\u00fcr die Reichsten.
Auch die Rolle der (Basis-)Gewerkschaften wird wichtiger werden. Linke Positionen m\u00fcssen sich deutlich gegen eine Abw\u00e4lzung der Krisenkosten auf die Arbeitenden stellen \u2013 noch bevor die Rezession nach unten weitergereicht wird. Die soziale Frage muss besetzt werden, bevor rechte Kr\u00e4fte die entstehenden sozialen Widerspr\u00fcche weiter f\u00fcr sich nutzen.
Nicht zuletzt m\u00fcssen wir die Bedeutung der Care-Arbeit ins Spiel bringen: Jeden Abend um 21:00 Uhr wird zwar kr\u00e4ftig f\u00fcr die Arbeitenden im Gesundheitssektor applaudiert, geschwiegen wird dabei allerdings \u00fcber Lohnerh\u00f6hungen, bessere Arbeitsbedingungen und gemeinwohl- statt profitorientierte Gesundheitssysteme. Still ist es auch dar\u00fcber, dass ein Gro\u00dfteil der mies bezahlten Care-Arbeiten von Frauen* gemacht werden \u2013 von der unbezahlten Care-Arbeit und Erziehungsarbeit mal abgesehen, die jetzt auch wieder ganz individuell zu l\u00f6sen ist. Der gesamte Bereich der Erziehung, Pflege, Familienarbeit und weitere, die unser aller Wohlergehen betreffen, ist in unserer Gesellschaft das R\u00fcckgrat, ohne das kaum etwas anderes m\u00f6glich w\u00e4re. Systemrelevant ist also vielleicht sogar noch nicht treffend genug \u2013 und eine angemessene Honorierung dieser Berufs- und Arbeitsfelder l\u00e4ngst \u00fcberf\u00e4llig.
Die Linke muss unter den versch\u00e4rften politischen wie gesellschaftlichen Bedingungen ihre Handlungsf\u00e4higkeit wiedererlangen. Aktuell sehen sich viele Strukturen aufgrund der ordungspolitischen und gesundheitlichen Beschr\u00e4nkungen einer Vereinzelung ihrer Mitglieder und absurderweise einer politischen Perspektivlosigkeit ausgesetzt. Dabei ist genau jetzt der Zeitpunkt, linke Gegenmodelle zum herrschenden aufzuzeigen und daf\u00fcr zu streiten. Also packen wir es an!
Anmerkungen
[1] Das kapitalistische System ist auf die Maximierung des Profits ausgelegt, der durch die Ausbeutung fremder Arbeitskraft erwirtschaftet wird, und somit auf die Maximierung von Reichtum in Form von Kapital bei Strafe des Untergangs, wofern nicht akkumuliert wird. Das ist mit kapitalistischer Akkumulation gemeint. Alles, was dem Prozess entgegenl\u00e4uft, diesen Profit zu vergr\u00f6\u00dfern, wird vom Kapital bek\u00e4mpft. Marx hat die zwiesp\u00e4ltigen Eigenschaften des Kapitals sehr gut beschrieben: \u201eKapital [\u2026] flieht Tumult und Streit und ist \u00e4ngstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital k\u00fchn. Zehn Prozent sicher, und man kann es \u00fcberall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; f\u00fcr 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fu\u00df; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.\u201c (MEW, Bd. 23, S. 788)
\n