Das Virus der sozialen Ungleichheit
\nDas Coronavirus hat inzwischen den Nahen Osten und Nordafrika erreicht, die Auswirkungen auf das allt\u00e4gliche t\u00e4gliche Leben der Menschen sind schwerwiegend. Die Ereignisse der letzten Tage haben gezeigt, dass die Ausbreitung des Coronavirus eine neue Krise innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Krisen ausl\u00f6st, die die L\u00e4nder des Nahen Ostens und Nordafrikas seit Jahrzehnten durchleben. Die strukturellen Probleme der nationalen und regionalen \u00d6konomien und der Mangel an sozialer Sicherheit in Form von \u00f6ffentlichen Diensten \u2013 in diesem Fall die Gesundheitsdienste \u2013 f\u00fcr die \u00fcberw\u00e4ltigende Mehrheit der Bev\u00f6lkerung werden durch die Blockade des allt\u00e4glichen Lebens noch versch\u00e4rft.
Auch hinsichtlich der sozialen Proteste, die im vergangenen Jahr praktisch die ganze Region erfasst haben, produziert das Virus wichtige Ver\u00e4nderungen: In Algerien beschlossen die Studierenden, die seit \u00fcber einem Jahr jeden Dienstag auf die Stra\u00dfe gehen, ihre Demonstrationen vor\u00fcbergehend auszusetzen. Der algerische Pr\u00e4sident Abdelmadjid Tebboune, der von der sozialen Bewegung (dem Hirak) weiterhin abgelehnt wird, verh\u00e4ngte zudem ein generelles Versammlungs- und Demonstrationsverbot. Nach anf\u00e4nglicher Unentschlossenheit und Diskussionen innerhalb des Hiraks wurden nun auch die Freitagsdemonstrationen bis auf weiteres abgesagt. Auch im Libanon bremste die zunehmende Verbreitung des Virus die Proteste. Wie greifen im Irak die Versch\u00e4rfung der Prekarit\u00e4t und der sozialen Unsicherheit und die Frage nach demokratischer Organisierung ineinander?
Die Last der Informalit\u00e4t
Die irakische Regierung hat eine vor\u00fcbergehende Ausgangssperre und die Schlie\u00dfung von Schulen, Universit\u00e4ten und Einkaufszentren beschlossen. Auch Kinos, Restaurants und Bars bleiben geschlossen. Religi\u00f6se Einrichtungen haben religi\u00f6se Aktivit\u00e4ten und Versammlungen ausgesetzt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums gibt es derzeit 382 F\u00e4lle von Covid19, davon 36 Tote (Stand 27.03.2020). Angesichts des Mangels an durchgef\u00fchrten Tests d\u00fcrfte die Zahl jedoch weit h\u00f6her liegen.
Eine erste Lektion, die wir aus diesen ersten Wochen der Corona-Krise ziehen k\u00f6nnen, ist, dass die Auswirkungen des Virus sozial ungleich verteilt sind (im re:volt magazine wurde dies etwa mit Blick auf Deutschland, Italien oder den Care-Bereich angerissen). In den meisten L\u00e4ndern wurde auf der einen Seite zwar das gesellschaftliche Leben zur Eind\u00e4mmung des Virus fast vollst\u00e4ndig blockiert, auf der anderen Seite wurde die Warenproduktion (materielle G\u00fcter und Dienstleistungen) allerdings weitergef\u00fchrt \u2013 oft ohne oder nur unzureichenden gesundheitlichen und sozialen Schutzma\u00dfnahmen.
Die \u00f6konomischen und gesellschaftlichen Strukturen der L\u00e4nder des Nahen Ostens und Nordafrikas unterscheiden sich nun aber wesentlich von denen der westlichen L\u00e4nder. Wie eine Unesco-Studie zum irakischen Arbeitsmarkt zeigt, arbeiten zwei Drittel der irakischen Arbeit*innen im informellen Sektor, dieser macht 99 Prozent der Privatwirtschaft aus. Die Informalit\u00e4t bietet keine sicheren L\u00f6hne und sozialen Sicherheitsnetze im Falle von Lohnausfall. \u201eDie Arbeiter*innen erleben eine Trag\u00f6die, denn die gro\u00dfe Mehrheit lebt von der Hand in den Mund. Arbeitslose und informelle Arbeiter*innen haben kein regelm\u00e4\u00dfiges Einkommen und daher keine Ersparnisse und keinen Sozialversicherungsschutz im Falle von Lohnausfall. Heute befinden sie sich in lebensbedrohlichen Schwierigkeiten: Es fehlt ihnen schlicht an Geld, um Lebensmittel zu kaufen\u201c, berichtet Sami Adnan, ein 28-j\u00e4hriger Arbeitsloser und Aktivist aus Bagdad. Adnan ist bei Workers Against Sectarianism aktiv, einer politischen Gruppe, die sich zu Beginn der sozialen Proteste gegen das sektiererische System und gegen die sozialen Ungleichheiten gebildet hat.
Soziale Sicherheit \u2013 wie lange noch?
Laut der oben genannten Unesco Studie bietet die Besch\u00e4ftigung im \u00f6ffentlichen Sektor die stabilste Arbeit. Dieser deckt im Irak 40 Prozent aller Arbeitspl\u00e4tze. Die Staatsfinanzierung erfolgt in erster Linie \u00fcber den Erd\u00f6lsektor, der 99,6 Prozent der Exporteinnahmen, 92 Prozent des Staatshaushalts und 61 Prozent des nationalen BIP ausmacht. Doch nur jede*r hundertste irakische Arbeiter*in ist in diesem Sektor besch\u00e4ftigt. Die \u00f6ffentlichen Ausgaben f\u00fcr den direkten Lohn (Arbeitseinkommen und Renten) und f\u00fcr den indirekten Lohn (Waren und Sozialleistungen) belaufen sich auf etwa 60 Prozent der totalen Staatsausgaben.
Diese Ungleichheit zwischen dem \u00f6ffentlichen Sektor, der (zumindest im Moment) noch L\u00f6hne und sozialen Mindestschutz garantiert, und einem privaten Sektor, der fast ausschlie\u00dflich von Informalit\u00e4t und Prekarit\u00e4t gepr\u00e4gt ist, schl\u00e4gt sich im t\u00e4glichen privaten Konsum nieder. Adnan erkl\u00e4rt: \u201e\u00d6ffentlich Angestellte mit regul\u00e4ren L\u00f6hnen leeren die Superm\u00e4rkte und sammeln zu Hause Vorr\u00e4te an. Diejenigen, die gezwungen waren, von der Hand in den Mund zu leben und nicht sparen konnten, hungern jetzt.\u201c
Mit der aktuellen \u00d6lkrise (der Preis f\u00fcr das Barrel Brent ist unter 25 Dollar gefallen) schrumpfen die Einnahmen des Staates jedoch erheblich. Kurzfristig wird der Staat daher Schwierigkeiten haben, den Lebensstandard seiner Besch\u00e4ftigten zu garantieren.
Die Situation wird durch die Nahrungsmittelknappheit und die steigenden Preise noch versch\u00e4rft. Adnan f\u00e4hrt fort: \u201eIn diesem Kontext der Knappheit erh\u00f6hen die H\u00e4ndler*innen die Preise f\u00fcr G\u00fcter des Grundbedarfs, um sich zu bereichern. So kostet beispielsweise ein Kilo Tomaten normalerweise 50 Cent, heute sind es nicht weniger als 1,50 Dollar. Der Staat ist nicht in der Lage und will nicht eingreifen, um dieses f\u00fcr die Mehrheit der Bev\u00f6lkerung lebenswichtige Problem zu regeln.\u201c
Die wenigen Menschen, die eine regul\u00e4re Arbeit in der Privatwirtschaft gefunden haben, treffe, so Adnan, die Krise aufgrund der fehlenden Arbeiter*innenrechte \u2013 vor allem der K\u00fcndigungsschutz \u2013 ebenso stark: \u201eEin Freund von mir arbeitete f\u00fcr Caterpillar in einem Einkaufszentrum in Bagdad f\u00fcr 700 Dollar im Monat. Wegen des Virus sind die Einkaufszentren geschlossen worden, so dass die Arbeiter*innen zu Hause bleiben m\u00fcssen. Aber das Unternehmen weigert sich, die L\u00f6hne weiter zu bezahlen.\u201c
Ein ruiniertes Gesundheitssystem
Wenn an der Arbeitsfront Informalit\u00e4t, Prekarit\u00e4t und Rechtlosigkeit die sozialen Ungleichheiten verst\u00e4rken, so gelingt es dem Gesundheitssystem nicht, sie auszugleichen. Bis in die 1970er Jahre hatte der Irak eines der am weitesten entwickelten Gesundheitssysteme im Nahen Osten. Es war ein \u00f6ffentliches System, universell und frei f\u00fcr alle. Sowohl die Krankenhauseinrichtungen als auch der Kauf von Medikamenten waren in den H\u00e4nden des Gesundheitsministeriums. Mit dem Regime von Saddam Hussein zuerst und den Kriegen und Embargos der 1990er und fr\u00fchen 2000er Jahre danach verschlechterte sich das Gesundheitssystem jedoch erheblich. \u201eIn jeder gr\u00f6\u00dferen Stadt des Landes gibt es jeweils nur ein Krankenhaus. Sie sind klein, alt, schmutzig und schlecht ausgestattet\u201c, erkl\u00e4rt Adnan.
Das \u00f6ffentliche System hat eine klassische neoliberale Umstrukturierung durchlaufen, die Klientelismus und Korruption hervorgebracht hat: \u201eDie Sanktionen, die in den 1990er Jahren und nach 2003 verh\u00e4ngt wurden, lasten immer noch auf unserem Gesundheitssystem. Die Privatisierung des \u00f6ffentlichen Gesundheitswesens hat sich in den letzten 15 Jahren dramatisch beschleunigt. Heute m\u00fcssen wir f\u00fcr jeden einzelnen \u00c4rzt*innenbesuch bezahlen, und oft sind wir gezwungen, den wenigen im Land verbliebenen \u00c4rzt*innen zus\u00e4tzlich 'unter dem Tisch' zu bezahlen, um eine Behandlung zu erhalten.\u201c
Bevor dieser strukturelle Umbau des \u00f6ffentlichen Gesundheitswesens in Gang gesetzt wurde, verwaltete und kontrollierte die irakische Regierung \u00fcber das Staatsunternehmen Kimadia den Medikamentenimport. Heute kontrolliert es nur noch 25 Prozent der Importe. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums werden heute 40 Prozent der Medikamente \u00fcber den Schwarzmarkt mit den Nachbarl\u00e4ndern abgehandelt, viele Medikamente kommen gar nicht erst ins Land. \u201eDer Medikamentenmarkt und die Apotheken sind ebenfalls privatisiert worden, und die Kosten sind explodiert\u201c, berichtet Adnan. Und das schaffe schwerwiegende weitere Probleme: \u201eOftmals geben uns die \u00c4rzt*innen einfach Paracetamol, auch bei ernsteren Symptomen. Au\u00dferdem werfen die H\u00e4ndler*innen, die die Verteilung kontrollieren, selbstgemachte und qualitativ schlechte Medikamente auf den Markt. Wir haben viele F\u00e4lle von Menschen mit Leber- und Nierenproblemen, die mit der Einnahme selbst hergestellter Medikamente zusammenh\u00e4ngen."
Diese Gesundheitsm\u00e4ngel spiegeln sich heute auch im Umgang der Regierung und des Gesundheitsministeriums mit dem Coronavirus wider: \u201eDie Politiker*innen sind in keiner Weise um unsere soziale und gesundheitliche Situation besorgt. Es mangelt an Information und Pr\u00e4vention. Hinzu kommt, dass religi\u00f6se F\u00fchrer die Nachricht verbreiten, dass wir als praktizierende Muslim*innen vor einer Ansteckung gesch\u00fctzt sind. Das ist haarstr\u00e4ubend.\u201c
Solidarit\u00e4t in Zeiten des Virus
Die Proteste, die im Oktober 2019 ausbrachen, m\u00fcssen daher mit diesen gesundheitlichen und sozialen Schwierigkeiten einen Umgang finden. Die Proteste gehen grunds\u00e4tzlich weiter, insbesondere, weil die Corona-Krise ihren Kern getroffen hat. \u201eDie Gr\u00fcnde, warum wir in den letzten Monaten auf die Stra\u00dfe gingen, waren genau diese: Das Sozial- und Gesundheitssystem ist v\u00f6llig unzureichend, um die Bed\u00fcrfnisse der Menschen zu befriedigen\u201c, sagt Adnan, der \u00fcber die Proteste auch in den sozialen Medien schreibt.
Seit bekannt ist, dass das Virus auch den Mittleren Osten allgemein und den Irak im Besonderen erfasst hat, ist die Beteiligung nat\u00fcrlich zur\u00fcckgegangen, Demonstrationen wurden verschoben, Events abgesagt. Doch der Tahrir-Platz bleibt \u2013 auch wenn von weniger Menschen \u2013 weiterhin besetzt. Das Virus ist selbst zu einem Vehikel des Protests geworden: \u201eIn unserem Zeltdorf auf dem Tahrir-Platz bewegen wir uns nur in kleinen Gruppen und desinfizieren alles: Kleidung, Zelte, Matratzen, Decken, Werkzeuge und Utensilien. Wir verteilen pers\u00f6nliche Schutzausr\u00fcstung wie Masken und Handschuhe.\u201c Mit den getroffenen Ma\u00dfnahmen zur Eind\u00e4mmung der Covid19-Verbreitung bietet die Besetzung somit einen Schutzraum und Schutzm\u00f6glichkeiten, die sonst im Lebensalltag nicht bestehen.
Die im Zuge der Proteste entstandenen Organisationsstrukturen ersetzen weitestgehend die Aufgaben, die der Staat \u00fcbernehmen sollte, erkl\u00e4rt Adnan: \u201eWir haben eine Sensibilisierungskampagne nicht nur in der Besetzung selbst gestartet. Wir gehen durch die Stra\u00dfen und in die popularen Nachbarschaften und erkl\u00e4ren, wie wir uns vor der Ansteckung sch\u00fctzen k\u00f6nnen: zu Hause bleiben, religi\u00f6se Versammlungen vermeiden und so weiter, immer in Respekt der Anweisungen, die von der Weltgesundheitsorganisation gemacht werden.\u201c
Neben der Pr\u00e4ventionskampagne entwickeln die Aktivist*innen auch Praktiken der gegenseitigen Hilfe. \u201eUm das Problem der Nahrungsmittelknappheit und der steigenden Preise anzugehen, organisieren wir in den Arbeiter*innenvierteln die solidarische Verteilung von Nahrungsmitteln: Reis, Gem\u00fcse, Zucker und andere Grundg\u00fcter.\u201c Und Solidarit\u00e4t h\u00f6rt nicht an den Grenzen auf. Angesichts der Gewalt, mit der das Virus den Nachbarn Iran getroffen hat, beschr\u00e4nkt sich das Sammeln von Medikamenten und Grundg\u00fcter nicht auf den Irak. \u201eWir sammeln Masken, Desinfektionsmittel und Medikamente, um sie unseren iranischen Genoss*innen zu schicken."
Das Coronavirus ist vor allem ein Kampf gegen den korrupten Staat und die von ihm verursachten sozialen Ungleichheiten. Bei unserem Gespr\u00e4ch bleibt Adnan deshalb k\u00e4mpferisch: "Die Protestierenden wiederholen st\u00e4ndig: Wir haben uns nicht zur\u00fcckgezogen, nachdem ihr uns mit Tr\u00e4nengas angegriffen habt, nachdem ihre unsere Genoss*innen entf\u00fchrt habt, nachdem ihr auf unsere Schwestern und Br\u00fcder geschossen habt. Wir bleiben hier. Vaterland oder Tod, ist unsere Losung."
Hier die Erkl\u00e4rung der Workers Against Sectarianism f\u00fcr den Aufbau von Solidarit\u00e4t und gegenseitiger Hilfe in Zeiten des Coronavirus.