T\u00fcrkischer Fr\u00fchling?
\nAm Sonntag, den 31. M\u00e4rz fand in der T\u00fcrkei der siebte Urnengang in f\u00fcnf Jahren statt. Diesmal standen Lokalwahlen an, die jedoch aufgrund der fortdauernden Hegemoniekrise und Faschisierung des Regimes, angef\u00fchrt von Pr\u00e4sident Recep Tayyip Erdo\u011fan, an enormer Bedeutung gewonnen hatten. Angesichts dieser Umst\u00e4nde hat jeder Wahlgang immer auch den Charakter eines Referendums \u00fcber das Regime an sich. Die Wahlen, die immer noch umstritten sind, weisen jedoch auf eine bedeutende Ver\u00e4nderung in der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung und eine Verschiebung der politisch-gesellschaftlichen Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse hin. Steht ein t\u00fcrkischer Fr\u00fchling an?
1 - Die Wahlen waren nicht demokratisch\u2026
Mainstreammedien und Politiker*innen in der T\u00fcrkei reden von einem \u201eSieg der Demokratie\u201c bei den Lokalwahlen. Es kann nicht oft genug betont werden: Die Lokalwahlen waren, unabh\u00e4ngig vom Ergebnis, keine \u201enormalen\u201c demokratische Wahlen und es gab seit Jahren keine solchen normalen demokratischen Wahlen in der T\u00fcrkei. Die gesamte Opposition wurde von Erdo\u011fan als \u201eTerrorist*innen\u201c bezeichnet und seine Minister und Verb\u00fcndeten drohten damit, alle gew\u00e4hlten aber ungew\u00fcnschten B\u00fcrgermeister*innen und Ratsmitglieder \u2013 in erster Linie die der Demokratischen Partei der V\u00f6lker (HDP) \u2013 abzusetzen und durch zentralistisch bestimmte Verwalter*innen zu ersetzen. Dar\u00fcber hinaus wurden hunderte, tausende von Menschen \u2013 wiederum in erster Linie HDP-Mitglieder \u2013 im Vorlauf zur Wahl noch bis zum letzten Tag festgenommen und verhaftet. Viele f\u00fchrende Politiker*innen der HDP, darunter der fr\u00fchere Ko-Vorsitzende und Pr\u00e4sidentschaftskandidat Selahattin Demirta\u015f, sitzen seit Jahren im Gef\u00e4ngnis. Die Medien sind unter umfassender Kontrolle des Regimes und fungieren als Propagandamaschine desselben. Zuletzt wurden auch b\u00fcrgerliche und rechte Oppositionelle mit Prozessen und potentiellen Gef\u00e4ngnisstrafen bedroht und zwar wiederum vom Pr\u00e4sidenten h\u00f6chstpers\u00f6nlich. Nicht zuletzt wurde eine de facto Pr\u00e4sidialdiktatur \u00fcber die letzten zwei Jahre hinweg institutionalisiert. Angesichts dieser Umst\u00e4nde von der demokratischen Tradition in der T\u00fcrkei zu sprechen macht nur Sinn, wenn damit die demokratischen Bestrebungen und K\u00e4mpfe der Menschen trotz und gegen das bestehende Regime und dessen Faschisierung gemeint sind.
2 - \u2026 und die Wahlnacht verlief h\u00f6chst dubios.
W\u00e4hrend die Stimmenabgabe vergleichsweise ruhig verlief, kam es dann abends und nachts bei der Stimmenausz\u00e4hlung und Bekanntgabe der Resultate zu einer Reihe von mysteri\u00f6sen und h\u00f6chst dubiosen Ereignissen.
Exakt um 23:11 Uhr, als angeblich 91 Prozent aller Wahlurnen ausgez\u00e4hlt und ins System gespeist waren, h\u00f6rten die Medien abrupt damit auf, weiter neue Informationen zu \u00fcbermitteln \u2013 und dieser Stopp dauerte ungef\u00e4hr zehn Stunden an. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajans\u0131 (AA), die einzige mediale Quelle der Wahlergebnisse, und auch die Hohe Wahlbeh\u00f6rde (YSK), die offiziell mit der Abwicklung der Wahl betraut ist, lieferten keine Erkl\u00e4rung f\u00fcr diesen abrupten Stopp. Der Zeitpunkt dieser pl\u00f6tzlichen Unterbrechung war kein Zufall. Ankara war bereits an den Kandidaten der Millet \u0130ttifak\u0131 (B\u00fcndnis der Nation), Mansur Yava\u015f von der Republikanischen Volkspartei (CHP) \u00fcbergegangen, und in Istanbul reduzierte sich der Vorsprung des Kandidaten der Cumhur \u0130tifak\u0131 (Volksallianz), dem fr\u00fcheren AKP-Premierminister Binali Y\u0131ld\u0131r\u0131m rasant. Aber Y\u0131ld\u0131r\u0131m trat bald vor die Kameras und erkl\u00e4rte sich direkt zum Sieger und somit zum neuen B\u00fcrgermeister Istanbuls. Erdo\u011fan selbst hielt sich bei seiner ersten Rede noch zur\u00fcck und sehr \u201epr\u00e4sidial\u201c, \u00e4u\u00dferte sich aber bis heute nicht eindeutig zur Lage in Istanbul oder in Ankara.
Es sah alles danach aus, als ob das Regime wieder vor unser aller Augen die Wahlen massiv f\u00e4lschen w\u00fcrde. W\u00e4hrend die Opposition in den Jahren zuvor immer \u201eWahlbetrug!\u201c kreischte, aber nichts unternahm, lief es diesmal anders ab. Der Oppositionskandidat der CHP in Istanbul, Ekrem Imamo\u011flu trat sofort vor die Kameras und erkl\u00e4rte, dass die Informationen, die ihm vorl\u00e4gen, einen Vorsprung f\u00fcr ihn zeigten und nicht mit den offiziell verbreiteten Daten \u00fcbereinstimmten. Bis zum Morgengrauen trat Imamo\u011flu insgesamt beeindruckende elf Mal vor die Kameras. Er forderte AA und die YSK dazu auf, ihre Arbeit zu erledigen und bei einem klaren Ergebnissen dies auch kundzutun. W\u00e4hrend all dies vor sich ging fanden einige hektische Sitzungen von f\u00fchrenden AKP-Kadern statt, sowohl in Istanbul wie auch in Ankara. Erdo\u011fan flog von Istanbul nach Ankara, um seine Balkonrede in der AKP-Zentrale zu halten und flog dann wieder zur\u00fcck. In der Nacht tauchten dann AKP-Plakate auf den Werbefl\u00e4chen in Istanbul auf, die Y\u0131ld\u0131r\u0131m zum Sieger erkl\u00e4rten.
Erst in den Morgenstunden des 1. April l\u00f6ste sich der Knoten so langsam. Als Imamo\u011flu das zehnte Mal vor die Kameras trat, erkl\u00e4rte er, dass er unzweifelhaft der Sieger der Wahl in Istanbul sei, die offiziellen Stellen dies aber nicht bekannt geben w\u00fcrden, obwohl sie es w\u00fcssten. Er erkl\u00e4rte sich dann in Eigeninitiative zum B\u00fcrgermeister von Istanbul. Noch wichtiger aber war, dass letztlich um etwa neun Uhr auch der YSK-Pr\u00e4sident Sadi G\u00fcven eine offizielle Erkl\u00e4rung abgab. Die AA hatte zwischenzeitlich verlauten lassen, dass der Informationsfluss von der YSK gestoppt habe und sie deshalb keine neuen Zahlen pr\u00e4sentieren konnten. Der YSK-Pr\u00e4sident hingegen erteilte der AA eine Abfuhr und meinte, \u201esie sind nicht meine Kunden, ich wei\u00df nicht, wo sie ihre Informationen herhaben\u201c. Er f\u00fcgte hinzu, dass gem\u00e4\u00df der ihm vorliegenden Daten Imamo\u011flu in Istanbul uneinholbar vorne l\u00e4ge. Die beiden staatlichen, im Grunde direkt an den Pr\u00e4sidenten gebundenen Institutionen standen nun in direktem Konflikt zueinander. AA f\u00fcgte sich dann pl\u00f6tzlich der YSK und aktualisierte die Daten. Das Regime erkannte das Ergebnis aber immer noch nicht an und machte klar, dass sie die Ergebnisse anfechten w\u00fcrden. Bei dem derzeitigen Konflikt geht es zwar vor allem um Istanbul und Ankara, aber in einer ganzen Reihe von St\u00e4dten fiel die Entscheidung f\u00fcr Regime wie auch Opposition hauchd\u00fcnn aus, so dass derzeit Ergebnisse heftig angefochten werden in Bursa, Bal\u0131kesir, U\u015fak, Mu\u015f oder I\u011fd\u0131r. Mittlerweile redet die regimetreue Revolverpresse vom \u201eWahlputsch\u201c (!) der Opposition und bringt diesen teils in Zusammenhang mit \u201eTerrorismus\u201c, w\u00e4hrend sich Erdo\u011fan ungew\u00f6hnlich still verh\u00e4lt. Vermutlich wartet er ab, ob der Coup seiner Partei gelingt oder nicht, um sodann wieder in die Offensive zu gehen. Die Intrigen und das Drama der Wahlnacht sind noch l\u00e4ngst nicht vorbei.
3 - Die AKP hat an Macht eingeb\u00fc\u00dft \u2013 gegen\u00fcber der Opposition, aber auch gegen\u00fcber ihrem Hauptb\u00fcndnispartner.
Wenn die Resultate in etwa so bleiben, wie sie im Moment sind, dann kann mit Sicherheit festgehalten werden, dass es bedeutende Gewinne f\u00fcr die oppositionelle B\u00fcndnis der Nation der CHP und der Guten Partei (IYI), einer MHP-Abspaltung, gibt, w\u00e4hrend die AKP eine herbe Niederlage einstecken musste.
Die AKP verlor die beiden f\u00fchrenden politischen, \u00f6konomischen und kulturellen Machtzentren der T\u00fcrkei, n\u00e4mlich Ankara und Istanbul. Diese Niederlage hat enorme symbolische und gesellschaftliche Bedeutung, da die AKP und ihre Vorl\u00e4uferorganisationen die beiden St\u00e4dte seit 1994 ununterbrochen regierten. Insgesamt konnte die Hauptopposition den Gro\u00dfteil der Gro\u00dfst\u00e4dte gewinnen. Sie kann nun auf gro\u00dfe \u00f6konomische und politische Ressourcen zur\u00fcckgreifen und hat dar\u00fcber hinaus die M\u00f6glichkeit, den Korruptionssumpf insbesondere in Istanbul und Ankara trocken zu legen und durch \u00d6ffnung alter Akten vergangene Korruption ans Tageslicht zu bringen. Mehr noch, die Gro\u00dfst\u00e4dte, die die Opposition gewonnen hat, bringen zusammen \u00fcber 60 Prozent des BIP der T\u00fcrkei auf.
Die faschistische, ultranationalistische MHP, der Hauptpartner der AKP, kann wieder als ein Sieger der Wahl angesehen werden. Der relativ niedrige Stimmenanteil von \u2013 momentan \u2013 7,31 Prozent sollte dar\u00fcber nicht hinweg t\u00e4uschen, denn in den meisten gro\u00dfen St\u00e4dten unterst\u00fctzte die MHP die AKP. Interessanterweise war die MHP stark in den St\u00e4dten, in denen AKP und MHP separat antraten, und gewann 33 Prozent dieser St\u00e4dte und sieben St\u00e4dte, die bisher von der AKP gehalten wurden. Insgesamt erh\u00f6hte die MHP die Zahl der St\u00e4dte in ihrer Kontrolle von acht auf elf \u2013 wobei sie die beiden Gro\u00dfst\u00e4dte Adana und Mersin an die CHP verloren hat.
So konnte die MHP innerhalb der Volksallianz ihre Position erneut st\u00e4rken. Sie ist nicht, wie oft behauptet, der Scho\u00dfhund der AKP, sondern im Gegenteil ein wichtiger Teil der Volksallianz, der seinen Einfluss im Staat sukzessive ausbauen konnte. Umso mehr sich die Hegemoniekrise vertieft und die AKP an F\u00fchrungsf\u00e4higkeit einb\u00fc\u00dft, umso mehr wird das nationalistisch-etatistische Lager, das derzeit im B\u00fcndnis mit der AKP ist, die Geschicke des Landes bestimmen k\u00f6nnen.
Was mit der Guten Partei passieren wird, ist noch nicht klar. Sie spielte zwar eine wichtige Rolle im B\u00fcndnis der Nation und konnte viele wichtige Stimmen von der MHP f\u00fcr das B\u00fcndnis gewinnen, jedoch keine einzige Provinz. Es wird sich erst in der n\u00e4heren Zukunft zeigen, welche Rolle die Partei k\u00fcnftig in der politischen Landschaft der T\u00fcrkei spielen wird.
4 - Die HDP war ein K\u00f6nigsmacher.
Die Rolle der HDP in den Wahlen wurde im Vorlauf zu den Wahlen meist heruntergespielt oder ignoriert, aber die Taktik der HDP war \u00fcberaus klug und flexibel. Die grundlegende Perspektive war: erstens, die Gemeinden und St\u00e4dte in den kurdischen Regionen im S\u00fcdosten, in denen statt der HDP-B\u00fcrgermeister*innen staatliche Zwangs-Verwalter*innen eingesetzt wurden, zur\u00fcckzugewinnen und, zweitens, im Westen in vielen strategisch wichtigen St\u00e4dten keine Kandidat*innen zu nominieren und somit die Opposition gegen die Volksallianz zu unterst\u00fctzen. Im Westen ging diese Strategie voll auf und die HDP wurde zum K\u00f6nigsmacher. Der neugew\u00e4hlte Co-B\u00fcrgermeister von Diyarbak\u0131r, Adnan Sel\u00e7uk M\u0131zrakl\u0131 brachte das auf Twitter poetisch an die HDP-W\u00e4hler gewandt zum Ausdruck: \u201eIhr habt die Gl\u00fchbirne [Symbol der AKP] ausgemacht, denn die Sonne ging auf.\u201c Es w\u00e4re unm\u00f6glich f\u00fcr die CHP gewesen Istanbul, aber auch Adana und Mersin ohne die HDP-Stimmen zu gewinnen. In all diesen St\u00e4dten h\u00e4lt die HDP \u00fcber 10 Prozent der Stimmen und damit mehr als die Gute Partei oder irgendeine andere Unterst\u00fctzerin der CHP.
Im S\u00fcdosten gewann die HDP zwar viele Gemeinden und St\u00e4dte wie Diyarbak\u0131r, Mardin und Van wieder zur\u00fcck, musste aber zugleich einige herbe Verluste einstecken. So hat sie A\u011fr\u0131, \u015e\u0131rnak und Bitlis an die AKP verloren, Dersim/Tunceli wurde von einem unabh\u00e4ngigen kommunistischen Kandidaten gewonnen. Die HDP erkl\u00e4rte diese Verluste mit dem massiven Versetzen von Polizist*innen und Milit\u00e4rpersonal in diese Regionen und die andauernden heftigen Repression. Wer die Region kennt, wei\u00df, wie heftig die Lage ist und dass so etwas sicher seinen Teil zu den Ergebnissen beigetragen haben kann. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass eine gewisse Erm\u00fcdung angesichts dauerhaften Konfliktes und der Wunsch nach funktionierenden kommunalen Dienstleistungen auch wichtige Faktoren waren, die das Ergebnis beeinflussten. Die HDP gewann auch schon vor der \u00c4ra der Zwangs-Verwalter allgemein in Lokalwahlen weniger Stimmen als in nationalen Wahlen und eine Reorientierung auf lokale Infrastruktur und die Bed\u00fcrfnisse der Bev\u00f6lkerung werden \u2013 trotz und gegen die massive Repression \u2013 notwendig sein, damit die Partei in ihren Kernregion wieder an St\u00e4rke und Einfluss gewinnen kann.
5- Eine Restauration bahnt sich an, wir sollten achtsam bleiben.
Auch wenn die Wahlergebnisse augenscheinlich sehr positiv f\u00fcr alle demokratischen und sozialistischen Kr\u00e4fte zu sein scheinen, gilt es vorsichtig und wachsam zu sein. Es bahnt sich gerade ein sehr widerspr\u00fcchlicher Prozess der Restauration an, der Teile der Regimekr\u00e4fte sowie den Hauptteil der Oppositionsparteien umfasst und eine inklusivere Form der Krisenl\u00f6sung anstreben k\u00f6nnte.
Erdo\u011fans erste Rede und seine sp\u00e4tere \u201eBalkonrede\u201c in der Wahlnacht enthielten wichtige Elemente, die in diese Richtung weisen. Er hob klar hervor, dass die Volksallianz immer noch mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt (n\u00e4mlich 51,6 Prozent nach derzeitigem Stand). Das hei\u00dft, dass die Volksallianz in absoluten Stimmanteilen nur wenig abgebaut hat im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2018 (damals 53,7 Prozent). Erdo\u011fan f\u00fcgte hinzu, dass es nun 4,5 Jahre keine Wahlen mehr geben w\u00fcrde und dass sich das Land jetzt auf \u00f6konomische wie au\u00dfenpolitische Angelegenheiten konzentrieren m\u00fcsse, wobei er die \u201eL\u00f6sung\u201c des \u201eRojava-Problems\u201c explizit erw\u00e4hnte. Es ist kein Zufall, dass die Teile seiner Reden, die sich auf Wirtschaftspolitik bezogen, geradezu identisch waren mit den entsprechenden Teilen der vor der Wahl abgegebene Erkl\u00e4rung der gr\u00f6\u00dften kapitalistischen Lobby-Gruppe des Landes, der T\u00dcSIAD. Gleichzeitig sagte Erdo\u011fan, dass er und die AKP die Wahlergebnisse akzeptieren w\u00fcrden und jetzt nicht die Zeit sei, entt\u00e4uscht zu sein, nur weil die Ergebnisse nicht wie gew\u00fcnscht seien. In drohendem Tonfall f\u00fcgte er gleich mehrmals hinzu, dass \u201ewir schon sehen\u201c werden, wie gut die Opposition die neu von ihr gewonnenen St\u00e4dte regieren werden k\u00f6nne.
Andererseits trat die Hauptopposition vergleichsweise sehr milde auf. Man wird sich noch erinnern an die Worte des ehemaligen Pr\u00e4sidentschaftskandidaten der CHP, Muharrem Ince, der meinte, dass sie sich zuerst Istanbul und Ankara zur\u00fcckholen und dann Pr\u00e4sidentschaft sowie Parlament wieder gewinnen w\u00fcrden. Solche und \u00e4hnliche Ansagen suchte man vergebens in der Wahlnacht, als sich der Sieg der Opposition herauskristallisierte. Mansur Yava\u015f in Ankara wie auch Ekrem Imamo\u011flu in Istanbul verzichteten auf jegliche k\u00e4mpferischen Ansagen bez\u00fcglich m\u00f6glicher politischer Perspektiven und gaben sich im Gegenteil sehr vers\u00f6hnlerisch. Der Chef der CHP, Kemal K\u0131l\u0131\u00e7daro\u011flu, brachte es auf den Punkt, als er sagte: \u201eSiege gewinnt man gegen Gegner; wir haben nicht gesiegt, sondern waren erfolgreich\u201c. Hauptoppositionsf\u00fchrer*innen wie F\u00fchrungspers\u00f6nlichkeiten des Regimes bedienten, bei allem Detailunterschied, den Diskurs, dass niemand verloren, sondern \u201edie T\u00fcrkei gewonnen\u201c h\u00e4tte. Alle beendeten ihre Erkl\u00e4rungen damit, dass es jetzt darum gehe ans Werk zu gehen und die wichtigen Probleme anzupacken.
Und die HDP? Ein sehr popul\u00e4rer Slogan des B\u00fcndnisses der Nation lautete: \u201eAm Ende des M\u00e4rz kommt der Fr\u00fchling\u201c. Wenn allerdings nicht vom Kurdischen Fr\u00fchling, der die Siege in Istanbul, Adana und Mersin \u00fcberhaupt erst m\u00f6glich machte, gesprochen wird, noch weniger sich darum bem\u00fcht wird, diesen politischen geb\u00fchrend anzuerkennen und zu integrieren, dann ist vorgezeichnet, wohin die Reise gehen soll.
Wir haben oft darauf hingewiesen, dass die Hauptparteien der Opposition \u2013 CHP und Gute Partei \u2013 die Kr\u00e4fte der Restauration organisieren. Das hei\u00dft, dass sie darauf abzielen, die derzeitige soziale und politische Ordnung zu stabilisieren, indem sie Erdo\u011fan st\u00fcrzen oder b\u00e4ndigen, ohne doch dabei die Fundamente jener Ordnung zu \u00e4ndern \u2013 insbesondere was die wirtschaftlichen Fundamente angeht. In der momentanen Situation sieht es so aus, als ob die Kr\u00e4fte der Restauration einen Machzugewinn verzeichnet haben. Das hat sicherlich mit der Tiefe der wirtschaftlichen Krise und weiters auch damit zu tun, dass der Unmut der Menschen ein selbstsichereres Auftreten der Opposition m\u00f6glich macht, ja sie geradeheraus dazu zwingt. Dies d\u00fcrften auch die Hauptgr\u00fcnde daf\u00fcr sein, dass sich die Opposition in der Wahlnacht, als die AKP ihren \u2013 ersten \u2013 Coup plante, so klar dagegen positionierte und im Gegensatz zu fr\u00fcheren \u00e4hnlichen Situationen standhaft blieb. H\u00f6chstwahrscheinlich waren dies auch die zentralen Gr\u00fcnde daf\u00fcr, dass sich bestimmte Teile des Staates und sogar der AKP dazu gen\u00f6tigt f\u00fchlten, Erdo\u011fan und seine Clique zu dr\u00e4ngen, die Wahlresultate anzuerkennen. Die Situation ist derzeit so kritisch und die Unf\u00e4higkeit des dominanten Blocks, die Hegemoniekrise zu verwalten, so offenkundig, dass eine Tendenz an Kraft gewinnt, die die unterschiedlichen Hauptkr\u00e4fte des dominanten wie des oppositionellen Blocks zusammendr\u00e4ngt, damit die umfassende Hegemoniekrise gemeinsam \u00fcberwunden werden kann. Aber zu dieser Tendenz gibt es innerhalb der Eliten auch Gegentendenzen, denn eine breite Zusammenarbeit w\u00fcrde bedeuten, dass die oppositionellen Kr\u00e4fte innerhalb der Kr\u00e4fteverh\u00e4ltnisse bedeutend an Macht gewinnen w\u00fcrden. Der Widerspruch der Herangehensweisen dr\u00fcckt sich nicht nur im Verh\u00e4ltnis der Staatsapparate zueinander aus, wie oben ausgef\u00fchrt am Beispiel des Verh\u00e4ltnisses von AA und YSK. Sie dr\u00fcckt sich auch in Erdo\u011fans Handeln selbst aus, der in ein und derselben Nacht oszillierte zwischen einer etwas vers\u00f6hnlerischer und pragmatischeren und einer selbstbewusst-aggressiveren, ausschlie\u00dfenden Herangehensweise. Erdo\u011fan k\u00f6nnte durchaus in eine Gegenoffensive \u00fcbergehen, wie er dies schon nach den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 getan hatte \u2013 der ersten Wahl, in der die AKP empfindliche Einbu\u00dfen verzeichnen musste. Er k\u00f6nnte aber auch den Kr\u00e4ften der Restauration ihren Raum einr\u00e4umen und sich selbst als F\u00fchrer der Restauration pr\u00e4sentieren. Auch seine Partei scheint sich noch nicht sicher zu sein dar\u00fcber, ob sie einen offenen Putsch gegen die Wahlergebnisse lancieren oder sie doch lieber akzeptieren m\u00f6chte. Und dann gibt es da noch die B\u00fcndnispartner von Erdo\u011fan, die sichtbaren wie die MHP und die unsichtbaren, die sich lieber in den Schatten aufhalten. Was werden sie sagen, falls das Regime tats\u00e4chlich an Macht einb\u00fc\u00dft?
Es ist, kurz gefasst, nicht klar, welche dieser allgemeinen Tendenzen sich letztlich durchsetzen wird, ja, ob \u00fcberhaupt eine der Tendenzen l\u00e4ngerfristig die Oberhand behalten wird. Derzeit sieht es danach aus, als ob die Tendenz zur Restauration in der kommenden Periode erstarken wird. Aber dieser Prozess ist durchsetzt mit Gegen-Tendenzen und Widerspr\u00fcchen, deren Umfang und Tiefe bestimmt werden von der Dimension der Krise, sowie den Differenzen bez\u00fcglich Herangehensweise und Machtposition des dominanten wie oppositionellen Blocks. Und, sie werden nat\u00fcrlich bestimmt werden von den Massenk\u00e4mpfen, so sie stattfinden.
6 - Die M\u00f6glichkeiten und Aufgaben der popularen Kr\u00e4fte.
Selbst kleine Risse und Br\u00fcche im Machtblock und seiner despotischen Ordnung angesichts einer sich vertiefenden, allumfassenden Krise er\u00f6ffnen M\u00f6glichkeiten f\u00fcr die popularen Kr\u00e4fte. Die Wahlen sind vorbei, aber der Kampf um die Zukunft hat eben erst begonnen und wird mit Sicherheit eine Weile andauern. Die \u00f6konomische Krise ist nicht einfach mit dem Ende der Wahl verschwunden und der Kampf dar\u00fcber, wer f\u00fcr die Krise bezahlen wird, wird weitergehen. Obwohl die f\u00fchrenden Kr\u00e4fte des Oppositionsblockes f\u00fcr die Restauration optieren, die sie in den Machtblock integrieren wird \u2013 denn die haupts\u00e4chlichen Staatsapparate kontrolliert ja immer noch der dominante Block \u2013, ist die Stimmung und Moral in der Bev\u00f6lkerung im Aufschwung begriffen. Die Forderungen der verschiedenen Basen der Parteien, der popularen Kr\u00e4fte sind teils viel radikaler als die restaurativen Anspr\u00fcche der jeweiligen F\u00fchrung.
Der Sieg der Opposition wurde in erster Linie durch eine weit verbreitete Wut in der Bev\u00f6lkerung auf die AKP und Erdo\u011fan und der standfesten Haltung der kurdischen Bewegung zustande gebracht. Der Unmut \u00fcber die soziale Lage und die permanente Krise f\u00fchrte viele Menschen dazu, nicht in erster Linie f\u00fcr die Opposition, sondern gegen das Regime zu stimmen.
Die popularen Kr\u00e4fte d\u00fcrfen die Wahl \u2013 selbst wenn sie so stehen sollte \u2013 nicht einfach als Erfolg feiern und sich darauf ausruhen. Sowohl der m\u00f6gliche Gegenangriff, wie auch eine m\u00f6gliche Restauration werden den Bed\u00fcrfnissen der popularen Kr\u00e4fte nicht entsprechen k\u00f6nnen. Es gilt die gesellschaftlichen Dynamiken zu organisieren und konkrete Forderungen zu stellen, so zum Beispiel die Aufarbeitung der Korruption in der AKP-Periode in St\u00e4dten wie Ankara und Istanbul, und vor allem die Forderung nach einer neuen, demokratischen Verfassung.
Der von unterschiedlichen gesellschaftlichen Dynamiken getragenen K\u00e4mpfe in der T\u00fcrkei, allen voran Kurd*innen, Feminist*innen, LGBTQ+ Individuen, Alevit*innen, Arabische Alevit*innen und der Arbeiter*innenklasse gegen den despotischen Staat und den Neoliberalismus sowie f\u00fcr eine demokratische Republik sind zwar seit Gezi manchmal mit Repression zur\u00fcckgedr\u00e4ngt worden, aber nie abgerissen. Jetzt ist genau der Zeitpunkt, an dem es gilt, die Initiative zu ergreifen und die Risse im Machtblock auszunutzen, um eine radikalere Agenda zu pushen. Es sind einzig und allein die popularen gesellschaftlichen Dynamiken, die sowohl den Winter eines Gegenangriffs, wie auch die Restauration durch einen Fr\u00fchling abwenden k\u00f6nnen, den die CHP in ihrem Wahlsong versprochen hatte und den sie selbst nie wird bringen k\u00f6nnen.
Der Artikel Daylight In Turkey? erschien urspr\u00fcnglich auf Englisch im Jacobin Magazine vom 3. April 2019. Er wurde aus dem Englisch ins Deutsche \u00fcbersetzt und leicht ver\u00e4ndert von Max Zirngast und Alp Kayserilio\u011flu.