\u201eWir wollen den Kapitalismus zerst\u00f6ren\u201c
\nAlex [re:volt]: Andr\u00e9s Manuel L\u00f3pez Obrador hat vor etwas mehr als einem Jahr das Pr\u00e4sident*innenamt in Mexiko angetreten. Obwohl er im Wahlkampf ein Ende des Neoliberalismus und eine Transformation des Landes versprochen hatte, scheint es, als w\u00fcrde er die Politik der Vorg\u00e4ngerregierungen mit anderer Rhetorik fortf\u00fchren. Besonders seine Entwicklungspolitik, bei der er in Kooperation mit nationalen und transnationalen Konzernen auf sogenannte Megaprojekte setzt, l\u00e4sst Zweifel an der Fortschrittlichkeit seines Regierungsprojekts aufkommen. Welche dieser Projekte bereiten dem Congreso Nacional Ind\u00edgena (CNI) besondere Sorgen?
Carlos G\u00f3nzalez Garc\u00eda: F\u00fcr den CNI sind alle Infrastrukturprojekte, die die Territorien unserer V\u00f6lker und unsere Mutter Erde betreffen, gef\u00e4hrlich. [1] Jeder Angriff auf unsere Territorien, ob klein oder gro\u00df, ist f\u00fcr uns besorgniserregend. F\u00fcr uns als indigene V\u00f6lker ist die Erde heilig, und zwar jeder Teil von ihr. Es gibt keine Teile, die mehr oder weniger wert sind. Deshalb beobachten wir vom CNI alle Megaprojekte, sowohl diejenigen, die schon l\u00e4ngst umgesetzt sind, als auch die jetzt von der Regierung L\u00f3pez Obradors geplanten, mit gro\u00dfer Sorge. Denn wir kennen die negativen Auswirkungen, die sie auf die Territorien unserer V\u00f6lker haben werden. Doch zweifellos gibt es drei Megaprojekte, deren Wirkungen \u00fcber die Grenzen Mexikos hinausgehen und die eine massive Auswirkung auf der regionalen Ebene Mittel- und Nordamerikas haben w\u00fcrden. Diese Projekte sind der Tren Maya, eine mehr als 1.500 Kilometer lange Zugstrecke, die den verarmten und marginalisierten S\u00fcdosten des Landes dem Massentourismus zug\u00e4nglich machen soll. Daneben soll mit dem Proyecto Integral Morelos, das aus mehreren W\u00e4rmekraftwerken und Gaspipelines besteht, die Energieversorgung Zentralmexikos restrukturiert werden. Und schlie\u00dflich soll der Corredor Trans\u00edstmico, die logistische Verbindung von Atlantik und Pazifik an der Meerenge des Isthmus von Tehuantepec durch neue H\u00e4fen, Zugstrecken und Logistikzentren, als Gelenkachse der wirtschaftlichen Entwicklung dienen und Mexiko zu einem Zentrum des Welthandels machen.
Welche Logik steckt hinter diesen Projekten?
Diese drei Megaprojekte artikulieren meiner Meinung nach ein einziges gro\u00dfes Megaprojekt. Tats\u00e4chlich gab es bereits seit den 1990er-Jahren immer wieder Pl\u00e4ne dieser Art. Unter den damaligen Regierungen hie\u00dfen sie noch Proyecto Mesoam\u00e9rica oder Plan-Puebla-Panam\u00e1. Die jetztigen Ideen von L\u00f3pez Obrador sind also keineswegs neu. Es handelt sich um eine vollst\u00e4ndige Umstrukturierung der betroffenen Gebiete, der Bev\u00f6lkerungen und der Grenzen Mexikos und Mittelamerikas. Diese Projekte sollen die Infrastruktur massiv ausbauen, um gro\u00dfe st\u00e4dtische, industrielle und touristische Entwicklungskorridore zu schaffen. Das Ziel dabei ist, die abwandernde Bev\u00f6lkerung, die aus Mittelamerika nach Mexiko und aus Mexiko in die USA migriert, in diesen neuen urbanen Korridoren zu fixieren und ihre Mobilit\u00e4t zu kontrollieren. Die Regionen, in denen die Regierung ihre Infrastrukturvorhaben umsetzen will, geh\u00f6ren zu den Gebieten mit dem gr\u00f6\u00dften \u00f6kologischen und kulturellen Reichtum der Welt. Die neue Infrastruktur soll dort vor allem auch den massiven Abbau der nat\u00fcrlichen Ressourcen durch transnationale Konzerne erm\u00f6glichen. Aus Sicht des CNI dienen die Megaprojekte dazu, die betroffenen Gebiete auf der Grundlage von Landgrabbing und Enteignung der lokalen Bev\u00f6lkerungen neu zu organisieren und nach den Interessen des Kapitals umzugestalten. Au\u00dferdem soll die Bev\u00f6lkerung fixiert oder umgesiedelt werden, je nach den Bed\u00fcrfnissen der kapitalistischen Entwicklung. Und schlie\u00dflich sollen neue Grenzen geschaffen werden, insbesondere eine gro\u00dfe Grenze zwischen dem S\u00fcden und dem Zentrum Mexikos, die die Migrationskontrolle von der S\u00fcdgrenze der USA tausende Kilometer nach S\u00fcden verschiebt.
Im letzten Wahlkampf wagte der CNI gemeinsam mit dem Ej\u00e9rcito Zapatista de Liberaci\u00f3n Nacional (EZLN) einen f\u00fcr viele \u00fcberraschenden Schritt und gr\u00fcndete einen Indigenen Regierungsrat (CIG), der sich in den Wahlkampf der herrschenden Parteien einmischte. [2] Die Sprecherin des CIG, Mar\u00eda de Jes\u00fas Patricio Mart\u00ednez, besser bekannt als Marichuy, sollte als unabh\u00e4ngige Kandidatin f\u00fcr das Amt als Staatschefin aufgestellt werden. Allerdings wurden die daf\u00fcr n\u00f6tigen Unterschriften weit verfehlt. Hat diese Etappe des Kampfes den CNI gest\u00e4rkt oder geschw\u00e4cht?
Als der CNI die Gr\u00fcndung des CIG und die Kandidatur der Sprecherin Marichuy f\u00fcr das Amt der Pr\u00e4sidentin der Republik vorschlug, tat er dies nicht aus wahltaktischen Gr\u00fcnden. Vielmehr ging es uns darum, durch eine gezielte Intervention in den Wahlprozess die K\u00e4mpfe der indigenen V\u00f6lker sichtbar zu machen, die Bed\u00fcrfnisse, die Armut und Probleme unserer V\u00f6lker wieder auf die Tagesordnung dieses Landes zu setzen. Au\u00dferdem sollte dieser Prozess uns indigene V\u00f6lker und fortschrittliche Teile der mexikanischen und internationalen Zivilgesellschaft n\u00e4her zusammenbringen und einen Austausch erm\u00f6glichen. In diesem Sinne glauben wir, dass unsere Initiative erfolgreich war. Nat\u00fcrlich h\u00e4tten wir gerne die n\u00f6tigen 870.000 Unterschriften erreicht, um auch am letzten Abschnitt der Wahlkampagne teilnehmen zu k\u00f6nnen, unsere Positionen dort stark zu machen und die Ann\u00e4herung verschiedener V\u00f6lker und Sektoren zu vertiefen. Aber die kurze Zeit, die wir in den Wahlzyklus intervenieren konnten, war ausreichend, um den CNI und die indigenen K\u00e4mpfe des Landes zu st\u00e4rken. Nicht zuletzt ist es eine direkte Folge dieses Prozesses, dass es dem EZLN gelang, sich weiter zu konsolidieren und seine territoriale Autonomie weiter auszubauen.
Der Pr\u00e4sident L\u00f3pez Obrador reist derzeit fast jedes Wochenende in indigene Gemeinden, um dort f\u00fcr seine Infrastrukturpolitik zu werben. Kam es infolgedessen zu Spaltungen innerhalb der organisierten indigenen V\u00f6lker?
Dass die Regierung versucht, uns zu spalten und uns in ihr Machtprojekt einzubinden, ist nichts Neues. Wie alle Vorg\u00e4ngerregierungen behauptet auch die jetzige, eine gewisse Kontrolle \u00fcber die indigenen Bev\u00f6lkerungen und ihre Territorien zu haben. Und nat\u00fcrlich gelingt es der Regierung hier und da durch Sozialprogramme und andere staatliche Leistungen indigene Br\u00fcder und Schwester an sich zu binden. Wir sind also besorgt, aber nicht \u00fcberrascht, dass auch jetzt eine Politik der Spaltung von der Regierung betrieben wird. Aber hier, wie in der gesamten Geschichte dieses Landes, unserer V\u00f6lker und der ganzen Menschheit, ist es entscheidend, was diejenigen tun, die entschlossen sind und klare Ideen haben. Nat\u00fcrlich gibt es auch in unseren V\u00f6lker bei aller Widerst\u00e4ndigkeit Menschen, die sich mit den Sozialprogrammen und Almosen der Regierung zufrieden geben. Angesichts der verheerenden wirtschaftlichen Situation in unseren Gemeinden ist das auch wenig \u00fcberraschend. Aber es gibt einen bewussten und aktiven Teil, der bereit ist, unsere Gebiete und unsere Mutter Erde gegen das Kapital zu verteidigen.
Woher kommt diese Entschlossenheit?
Das hat auch mit dem gr\u00f6\u00dferen Zusammenhang zu tun. Auf globaler Ebene f\u00fchrt die Entwicklung des Kapitalismus dazu, dass die Lebensbedingungen der Menschen ernsthaft bedroht sind. Mit anderen Worten, das menschliche Leben wird durch den Kapitalismus in einer immer ernsteren und offensichtlicheren Weise gef\u00e4hrdet. Was dabei wichtig ist: es ist der Kapitalismus. Es gibt keinen anderen Namen. Es ist nicht der Klimawandel. Der Klimawandel ist ein Produkt dieser kapitalistischen und globalisierten Wirtschaft, die die Welt seit \u00fcber 500 Jahren im Griff hat. Die kapitalistische Logik ist also keinesfalls neu. Aber das Wachstum der Weltbev\u00f6lkerung, die beschleunigte Entwicklung der Technologie und der Produktivkr\u00e4fte und ihre Konzentration in den H\u00e4nden des Kapitals, haben dazu gef\u00fchrt, dass die reale M\u00f6glichkeit der Zerst\u00f6rung unseres Planeten besteht.
Wo sieht der CNI Hoffnung, dass der Kampf gegen das globalisierte Kapital gewonnen werden kann?
Zun\u00e4chst wissen wir, dass mehr und mehr Menschen in diesen Kampf gegen den Kapitalismus eingebunden werden m\u00fcssen, wenn wir dieses Monster besiegen wollen. Deshalb suchen und wollen wir die Einheit, nicht nur der indigenen V\u00f6lker der Welt, sondern aller vom Kapitalismus ausgebeuteten und unterdr\u00fcckten Menschen. F\u00fcr uns ist dabei der Kampf der Frauen angesichts der herrschenden Logik der Zerst\u00f6rung des Lebens von zentraler Bedeutung. Denn hinter der Gewalt gegen Frauen und der Gewalt gegen unsere Mutter Erde steckt das gleiche kapitalistisch-patriarchale System. Von unseren Wohnzimmern bis zu den Regierungspal\u00e4sten ist es dieses System, das derzeit das Leben auf der Erde bestimmt und das keinen anderen Horizont kennt, als die gewaltsame Zerst\u00f6rung von Kulturen und Zivilisationen. [3] Unser Ziel ist weiterhin einfach und klar: wir wollen den Kapitalismus zerst\u00f6ren. Das ist die Route, das ist die Hoffnung. Es gilt das kapitalistische System in Mexiko und der Welt zu besiegen.
Und wie wird dieser Widerstand der indigenen V\u00f6lker Mexikos und des CNI in den n\u00e4chsten Wochen, Monaten und Jahren aussehen?
Die indigenen V\u00f6lker widersetzen sich der kapitalistischen Logik bereits durch ihre blo\u00dfe Existenz. Wenn sie sich um ihr Land, ihre Br\u00e4uche, ihren Fluss, ihre Berge k\u00fcmmern, wenn sie Mais anbauen, wenn sie sich dem Kapitalismus mit der Aufrechterhaltung und F\u00f6rderung ihrer kommunalen Organisationen widersetzen, leisten sie Widerstand. Aber es ist noch viel mehr n\u00f6tig. Angesichts der Megaprojekte der Regierung setzten wir auf die soziale Organisierung innerhalb unserer Gemeinschaften, die Anprangerung der Projekte in den Medien und in nationalen und internationalen Menschenrechtsinstanzen und die Anwendung einer juristischen Strategie mit Hilfe von Klagen und einstweiligen Verf\u00fcgungen. Dar\u00fcber hinaus versuchen wir, uns mit mehr Organisationen und sozialen Bewegungen in Mexiko und weltweit zu vernetzen, um zu diskutieren, wie wir dieses kapitalistische Monster, das uns in die Enge getrieben hat, zerst\u00f6ren werden.
Gibt es konkrete n\u00e4chste Schritte, die auch internationalistisch unterst\u00fctzt werden k\u00f6nnen?
Letzten Dezember hatten wir vom CNI gemeinsam mit den Genoss*innen des EZLN ein Forum in San Crist\u00f3bal de las Casas, bei dem wir uns auf konkrete n\u00e4chste Schritte geeinigt haben. F\u00fcr den 20., 21. und 22. Februar sind Aktionstage gegen die Megaprojekte geplant, denen wir den Namen unseres Genossen Samir Flores gegeben haben, der vergangenes Jahr am 20. Februar wegen seiner Aktivit\u00e4ten gegen das Proyecto Integral Morelos ermordet wurde. Insbesondere f\u00fcr den Tag der dezentralen Aktionen gegen die Megaprojekte am 20. Februar hoffen wir auf internationalistische Aktionen in aller Welt.
Anmerkungen
[1] Der CNI konstituierte sich am 12. Oktober 1996 mit dem Ziel, das Haus aller indigenen V\u00f6lker Mexikos zu werden, d.h. ein Raum, in dem die V\u00f6lker den Raum f\u00fcr Reflexion und Solidarit\u00e4t finden, um ihre K\u00e4mpfe des Widerstands und der Rebellion mit ihren eigenen Organisations-, Repr\u00e4sentations- und Entscheidungsformen zu st\u00e4rken. Mittlerweile geh\u00f6ren mehrere dutzend indigene V\u00f6lker und tausende Gemeinden dieser dezidiert antikapitalistischen Dachorganisation an.
[2] Das EZLN wurde am 17. November 1983 in den Bergen des s\u00fcd\u00f6stlichen mexikanischen Bundesstaates Chiapas gegr\u00fcndet und trat mit seinem bewaffneten Aufstand vom 1. Januar 1994 an die \u00d6ffentlichkeit. Seitdem hat sich die zapatistische Bewegung zu einer der wichtigsten Referenzen der antikapitalistischen Linken weltweit entwickelt. Insbesondere das System der basisdemokratischen Autonomie in den zapatistischen Zonen von Chiapas ist ein wichtiger Orientierungspunkt f\u00fcr linke Bewegungen. Ende 2019 verk\u00fcndete das EZLN die Ausweitung der autonomen Zone und die Gr\u00fcndung vieler neuer, selbst-regierter Gemeinden.
[3] Der Begriff wird hier in einem antikolonialen Kontext genutzt, der von der Erfahrung des genozidalen Eroberungskrieges der europ\u00e4ischen M\u00e4chte in Lateinamerika und der damit einhergehenden Vernichtung bestehender Gesellschaftssysteme gepr\u00e4gt ist.